Teilchenphysik: Der dunkle Teil unseres Universums
Der Large Hadron Collider (LHC) am Genfer Forschungszentrum CERN hat in einem Punkt versagt: Physiker konnten an dem mächtigsten aller Teilchenbeschleuniger bisher nichts aufspüren, das eindeutig über das Standardmodell der Teilchenphysik hinausgeht. Dabei sehnen sich viele Forscher seit Langem nach Hinweisen, welche Naturgesetze den Mikrokosmos jenseits dieses etablierten Regelwerks beschreiben. Doch was, wenn der LHC die ganze Zeit unbekannte Partikel ausgespuckt hat, es aber einfach niemandem aufgefallen ist?
"Der LHC könnte die ganze Zeit Teilchen produzieren, die vollkommen unsichtbar sind", sagt David Curtin, Physiker an der University of Maryland. Diese ominösen Partikel wären nach den Maßstäben der Teilchenphysik außerordentlich langlebig. Sie würden erst in einigem Abstand von ihrem Entstehungsort zerfallen, Millimeter oder auch Kilometer entfernt. "Diese Teilchen könnten auf einer grundlegenden Ebene mit einigen der Mysterien verknüpft sein, die uns plagen", so Curtin.
Solche hypothetischen Teilchen werden "langlebig" genannt, denn ihre Lebenszeiten sind erheblich länger als die, für deren Nachweis der LHC entworfen wurde. Wenn der LHC tatsächlich solche Teilchen produziert, dann könnten viele von ihnen aus dem unterirdischen Tunnel des Beschleunigers entkommen, durch das Erdreich in die Atmosphäre eindringen und am Himmel über den nahen landwirtschaftlichen Feldern bei ihrem Zerfall in gewöhnliche Materie für ein Feuerwerk sorgen.
Man könnte das Licht dieses Feuerwerks einfangen – wenn es denn existiert: Curtin und seine Kollegen Henry Lubatti von der University of Washington und John Paul Chou von der Rutgers University haben dafür den Bau eines riesigen neuen Detektors vorgeschlagen, der eher wie eine große Scheune aussieht. Die drei Forscher veröffentlichten ihren Vorschlag für den Mathusla – Massive Timing Hodoscope for Ultra Stable Neutral Particles jüngst im Fachblatt "Physics Letters B". Übersetzt bedeutet der Name des Detektors in etwa: gewaltiges Zeitmessungshodoskop für ultrastabile neutrale Teilchen, wobei ein Hodoskop eine Kombination mehrere Teilchendetektoren ist, mit der sich die Bahn von Teilchen verfolgen lässt. Die Abkürzung Mathusla bezieht sich auf die mythische Gestalt des Methusalem, der der Sage nach mehr als 900 Jahre gelebt hat.
"Ein solches Experiment ist ein Ausdruck unserer Zeit", erläutert Gian Giudice, Chef der Theorie-Abteilung am CERN. Seit Jahren gäbe es "eine vorherrschende Überzeugung über den richtigen Weg der Forschung", die das Augenmerk der Wissenschaftler bevorzugt auf die Suche nach kurzlebigen Teilchen richtete, wie sie von der Theorie der Supersymmetrie vorhergesagt werden. Doch diese Teilchen haben sich nicht wie geplant gezeigt. "Jetzt halten wir Ausschau nach neuen Wegen und Motivationen, da verändert sich wirklich etwas."
Das Problem mit den Higgs-Zwillingen
Die schlechte Nachricht daran: Es ist schwierig, langlebige Teilchen aufzuspüren. Die gute Nachricht ist jedoch, dass die besten Aussichten zum Nachweis dieser Partikel von einem anderen Teilchen stammen, dem am LHC entdeckten Higgs-Boson. Die Entdeckung des Higgs-Teilchens im Jahr 2012 lieferte den Physikern zwei Dinge auf einmal: Den Triumph, das letzte fehlende Teilchen des Standardmodells aufzuspüren, aber auch den zwingenden Beweis, dass eben diesem Modell etwas Entscheidendes fehlt.
Das Problem des Standardmodells ist, dass die Masse des Higgs-Bosons 100 Milliarden Milliarden Mal kleiner ist, als sich aus der Quantenmechanik erwarten lässt. Aus Sicht des Standardmodells gibt es dafür nur eine Erklärung: eine extrem unwahrscheinliche Koinzidenz zwischen den Eigenschaften einiger grundlegender Bausteine des Universums. Diese Koinzidenz ist zudem ein ausgesprochener Glücksfall – denn ohne sie könnten Atome und alles, was daraus aufgebaut ist, also auch wir Menschen, nicht existieren. Die Physiker bezeichnen dies als das "Hierarchieproblem" und sehen darin einen Beleg dafür, dass das Standardmodell nur die Näherung einer umfassenderen Theorie ist, die die Masse des Higgs-Bosons auf "natürliche" Weise erklärt – also als Ergebnis eines Mechanismus, bei dem es sich nicht um eine Art Wunder handelt.
Der führende Kandidat für eine solche umfassendere Theorie war lange Zeit die Supersymmetrie. Sie löst das Hierarchieproblem mit Hilfe neuer Teilchen – es gibt für jedes Teilchen des Standardmodells einen supersymmetrischen Partner. Doch da sich keines dieser von der Supersymmetrie vorhergesagten Teilchen am LHC zeigte, denken manche Physiker ernsthaft über die Möglichkeit nach, dass die Teilchen, die das Hierarchieproblem lösen, zu einem "versteckten Sektor" gehören.
"Vereinfacht dargestellt, versuchen die Teilchen des Standardmodells das Higgs-Boson hochzuziehen und machen es so schwer. Die Teilchen des versteckten Sektors dagegen ziehen es wieder herunter"Zackaria Chacko
Damit ist eine Familie von Teilchen gemeint, die zwar untereinander in Wechselwirkung stehen, aber unempfindlich sind gegen den Einfluss der drei Kräfte des Standardmodells, also der starken, der elektromagnetischen und der schwachen Wechselwirkung. Sie interagieren also nicht direkt mit gewöhnlicher Materie, deshalb sind sie nur schwer nachzuweisen. Aber ein solcher versteckter Sektor könne dabei helfen, das Hierarchieproblem zu lösen, meint Zackaria Chacko, Physiker an der University of Maryland. Er war in den früher 2000er Jahren der Erste, der diese Idee propagierte. "Vereinfacht dargestellt, versuchen die Teilchen des Standardmodells das Higgs-Boson hochzuziehen und machen es so schwer", erläutert er. "Die Teilchen des versteckten Sektors dagegen ziehen es wieder herunter."
In Chackos Modell hat das Higgs-Boson wie alle Teilchen des Standardmodells einen Zwilling im versteckten Sektor. Das Higgs-Teilchen spielt eine besondere Rolle in diesem Modell, weil es den Sektor des Standardmodells verlassen kann. Es kann also die Welt, in der wir leben, verlassen und im versteckten Sektor verschwinden, in dem es sich in seinen Zwilling verwandelt.
Passiert das wirklich? Die Proton-Proton-Kollisionen am LHC produzieren zwar in jeder Stunde Hunderte von Higgs-Bosonen. Aber dabei handelt es sich trotzdem nur um eine verschwindende Minderheit unter den Myriaden von Teilchen, die bei diesen Zusammenstößen entstehen und die Detektoren überfluten. Nur wenige von ihnen lassen sich erfassen. Basierend auf den bislang gesammelten Daten, könnte tatsächlich ein Viertel der im LHC produzierten Higgs-Bosonen im Schattenreich des versteckten Sektors verschwinden.
Diese Flüchtlinge aufzuspüren erscheint hoffnungslos – wäre da nicht eine 2014 von einem Forscherteam um Raman Sundrum, der ebenfalls an der University of Maryland tätig ist, gemachte Entdeckung. Nachdem die Wissenschaftler einen "bestimmten Grad der Verzweiflung" – so Sundrum – über den Mangel an neuen Entdeckungen am LHC erreicht hatten, warfen sie einen zweiten Blick auf Chackos Modell. Sie bemerkten, dass es sich dabei lediglich um ein Beispiel einer ganzen Klasse von Theorien handelte, mit denen sich die Natürlichkeit mit Hilfe von versteckten Teilchen wiederherstellen ließe.
"Es könnte eine Menge dieser Teilchen geben, die da die ganze Zeit herausfliegen, und wir bemerken es einfach nicht"Christopher Hill
Sie fanden außerdem heraus, dass üblicherweise einige der versteckten Teilchen, in die das Higgs-Boson zerfällt, nicht im versteckten Sektor bleiben. Stattdessen zerfallen sie zu Teilchen des Standardmodells – innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde, aber trotzdem mit einer Lebensdauer, die im Vergleich zu subatomaren Standards extrem lang ist. Und diese Teilchen ließen sich am LHC oder zumindest in dessen Nähe aufspüren.
"Es könnte eine Menge dieser Teilchen geben, die da die ganze Zeit herausfliegen, und wir bemerken es einfach nicht", vermutet Christopher Hill, Physiker an der Ohio State University. Er ist leitendes Mitglied des CMS-Teams, eines der beiden Teams, die das Higgs-Boson entdeckt haben (ATLAS war das zweite). In Zusammenarbeit mit Andy Haas, einem Physiker von der New York University, der zum ATLAS-Team gehört, steht Hill hinter dem Projekt milliQan, einem Vorschlag zur Suche nach den Teilchen des versteckten Sektors. Der Name des Experiments erinnert an Robert Millikan, der als Erster die Ladung des Elektrons bestimmte. Zugleich hebt der Name die Tatsache hervor, dass das Experiment nach Teilchen mit Ladungen sucht, die nur ein Tausendstel der Ladung des Elektrons – so genannte Milli-Ladungen – betragen.
Portale außerhalb von Sciencefiction
"Wir suchen mit milliQan nach einem Portal, durch das sich ein normales Photon in ein dunkles Photon des versteckten Sektors verwandelt kann", erklärt Hill. "Dann nämlich würde ein elektronähnliches Teilchen des versteckten Sektors im Sektor des Standardmodells als Teilchen mit einer Milli-Ladung erscheinen." "Versteckter Sektor" und "Portale" – all das klingt verdächtig nach Sciencefiction, erdacht von verzweifelten Physikern. Doch es gibt zumindest ein Beispiel dafür, dass die Natur tatsächlich solche Spiele treibt: die Dunkle Materie. Denn auch wenn wir kaum etwas über die Dunkle Materie wissen, eines ist klar: Sie gehört nicht zum Standardmodell, es gibt also zumindest einen Sektor jenseits des Standardmodells.
"Die Idee, nach versteckten Sektoren zu suchen, ist so natürlich, so wohlbegründet, so interessant, dass man es einfach machen muss"Nima Arkani-Hamed
Tatsächlich haben Wissenschaftler in der Vergangenheit bereits auf langlebige Teilchen und versteckte Sektoren zurückgegriffen, um nahezu alle grundlegenden Probleme zu lösen, die gegenwärtig die Physiker plagen – von der Dunklen Materie bis zur Materie-Antimaterie-Symmetrie des Universums. "Die Idee, nach versteckten Sektoren zu suchen, ist so natürlich, so wohlbegründet, so interessant, dass man es einfach machen muss", sagt Nima Arkani-Hamed, Physiker am Institute of Advanced Study in Princeton. Aber die Suche nach versteckten Sektoren macht es erforderlich, die schwer fassbaren langlebigen Teilchen aufzuspüren.
Curtin erinnert sich, wie er diese Idee bei einer Arbeitstagung im vergangenen Jahr präsentierte: "Es gibt einfach nichts, was man tun kann. Man kann diese Teilchen nicht ablenken. Man kann sie nicht einfangen. Man kann sie nicht streuen. Sie fliegen einfach davon und zerfallen, wann immer sie wollen. Und es bleibt einem nur übrig, am richtigen Ort zu sein, wenn sie zerfallen." Curtin bat deshalb seine Zuhörer um Hilfe.
"Es ist wie bei der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen, wobei wir nicht einmal wissen, in welchem Heuhaufen"Henry Lubatti
Im Auditorium saßen auch Henry Lubatti und John Paul Chou, zwei Experimentalphysiker, die sich bereits mit der Suche nach langlebigen Teilchen an den Experimenten ATLAS und CMS befassten. Lubatti vergleicht dieses Unternehmen mit "der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen, wobei wir nicht einmal wissen, in welchem Heuhaufen". Die sich anschließende Diskussion führte dann zur Gründung der Mathusla-Kollaboration. Nach Monaten voller Meetings, Skype-Konferenzen und Simulationen, hatten die drei Forscher einen vorläufigen Entwurf für ihren Detektor: ein 20 Meter hohes Gebäude, dass eine Fläche von der Größe von sieben Fußballfeldern überdeckt. Mit Hilfe von fünf von der Decke hängenden Detektorschichten sollen die subatomaren Trümmer der Teilchenzerfälle in diesem gewaltigen Volumen verfolgt werden. Das Gebäude soll auf der Oberfläche über dem ATLAS- oder über dem CMS-Detektor stehen. Eine 100 Meter dicke Schicht aus Gestein und Erdreich würde es vor dem ständigen Chaos der Teilchenkollisionen darunter abschirmen, das sonst das Feuerwerk der langlebigen Teilchen überdecken würde.
MilliQan ist ein kleineres, raffinierteres Experiment. Sein Detektor soll in einen höhlenähnlichen Tunnel gequetscht werden, der vom Bau des LHC übrig geblieben ist. Die große Herausforderung ist, dass Teilchen mit einem Tausendstel der Ladung eines Elektrons nur ein Millionstel der Photonen in einem Teilchendetektor erzeugen, die ein Elektron produzieren würde. Die Detektoren von MilliQan sind daher in drei hintereinander liegenden Röhren untergebracht, jede davon ist ein Meter lang, und zeigen auf den Punkt, an dem die Protonen kollidieren. Diese langen Röhren sollten ausreichen, so Hill, damit ein milligeladenes Teilchen in jeder der drei Röhren jeweils ein Photon erzeugt und so ein eindeutiges Signal liefert, mit dem die Physiker ein solches Teilchen aus dem großen Meer des Hintergrundrauschens fischen können.
Feuerwerk in der Scheune
Obwohl bislang keines dieser Experimente vom CERN gebilligt wurde, werden bereits Prototypen auf dem Gelände des LHC gebaut. Mathuslas Prototyp ist ein Kasten mit einer Grundfläche von 2,5 mal 2,5 Metern und einer Höhe von 5,5 Metern, zusammengeschustert teilweise aus Materialien, die von einem Experiment zur Messung der kosmischen Strahlung in Tibet stammen. Auch der MilliQan-Prototyp ist eine Miniaturversion des geplanten Detektors, ebenfalls gebaut aus Überresten anderer Experimente mit der freundlichen Unterstützung des CMS-Teams, in deren Räumen der Prototyp entsteht.
Im Vergleich zu ATLAS und CMS, an denen jeweils Tausende von Personen beteiligt sind und die extrem hochentwickelte Detektoren nutzen, die mehr als eine halbe Milliarde Dollar kosten, handelt es sich bei milliQan und Mathusla um ausgesprochen bescheidene Vorschläge. Etwa eine Million Dollar veranschlagen die Forscher für milliQan, für Mathusla einige zehn Millionen Dollar. Beide basieren auf Detektorentechnik, die bis zum Manhattan-Projekt zurückreicht. Es erscheint geradezu lächerlich, dass solche Experimente etwas aufspüren sollen, das die großen Experimente übersehen haben könnten.
Werden sie überhaupt eine Chance dazu bekommen? "Aus wissenschaftlicher Sicht sind diese Vorschläge gut begründet", betont Giudice, der in dem CERN-Komitee sitzt, das über das Schicksal beider Experimente zu entscheiden hat. "Letztlich wird die Sache aber anhand praktischer Gesichtspunkte entschieden: Kosten, Platz- und Zeitbedarf der Experimente." Wenn jedoch alles gut geht, könnten die Experimente nach dem nächsten geplanten großen Upgrade des LHC Mitte der 2020er Jahre in Betrieb gehen.
Die Vorschläge profitieren von einem neuen Gefühl der Bescheidenheit unter Teilchenphysikern. "Denn die vielen großartigen theoretischen Begründungen", mit denen die Suche nach neuer Physik in den vergangenen 40 Jahren motiviert worden sei, "haben bislang so gut wie nichts erbracht", konstatiert Arkani-Hamed. Und deshalb, so Giudice, "müssen wir jetzt in alle möglichen Richtungen blicken". Es sei geradezu verrückt, ergänzt Arkani-Hamed, dass die Portale, die Mathusla und milliQan untersuchen können, so erstaunlich groß und trotzdem noch unerforscht seien. "Das zeigt uns, wie wenig wir wirklich darüber wissen, was es da draußen im Universum alles gibt."
Von "Spektrum der Wissenschaft" übersetzte und redigierte Fassung des Artikels "How the Hidden Higgs Could Reveal Our Universe’s Dark Sector" aus "Quanta Magazine", einem inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
Schreiben Sie uns!
1 Beitrag anzeigen