News: Hilfe bei Gewalt gegen sich selbst
In der Vergangenheit wurden die Betroffenen mit schwer zu behandelndem Selbstverletzungstrieb in geschlossene Anstalten eingewiesen und oft in Zwangsjacken gesteckt. Anfangs der 60iger Jahren kamen neuroleptische Medikamente auf den Markt. Deren Verwendung in der Therapie wurde jedoch aufgrund schwerer Nebenwirkungen immer mehr eingeschränkt. Heute werden neuere Neuroleptika sowie Antidepressiva eingesetzt, deren Wirksamkeit jedoch nur in begrenztem Umfang nachweisbar ist.
In der 80iger Jahren entdeckten Forscher, daß Selbstverletzung bei einigen Menschen, die nicht verbal kommunizieren können, ein primitiver Versuch der Kommunikation darstellt. Als man diesen Menschen die Zeichensprache beibrachte oder andere Mittel der nichtverbalen Kommunikation unterrichtete, ging die Selbstverletzung oft zurück. Allerdings sprach ein Drittel bis die Hälfte der Menschen mit chronischer Selbstverletzung auf diese Behandlung nicht an.
Travis Thompson und seine Mitarbeiter vom John F. Kennedy Center for Research on Human Development an der Vanderbilt University sind der Meinung, daß Kranke tatsächlich so versuchen, mit ihrer Umwelt Kontakt aufzunehmen, oder aber die Freisetzung von Beta-Endorphinen im Gehirn zu stimulieren. Beta-Endorphine gehören zu den körpereigenen Opioiden, die das Schmerzempfinden beeinflussen. Thompsons Forschung deutet darauf hin, daß den Menschen geholfen werden kann, indem ein Kommunikationstraining kombiniert wird mit der Einnahme des Medikaments Naltrexon, das Opium-Rezeptoren im Gehirn blockiert (Vortrag am 14. September 1999 auf der British Intellectual and Learning Disabilities (BILD) Conference in London).
"Diese besondere Kombination von Therapien funktioniert, weil viele Menschen mit schweren Behinderungen sich selbst verletzen, entweder um grundlegende Bedürfnisse oder Wünsche zum Ausdruck zu bringen, oder weil dadurch Beta-Endorphin freigesetzt wird", sagte Thompson. "Wenn man ihnen eine alternative Form der Kommunikation anbieten kann, die sie verstehen, dann werden sie diese nutzen, anstatt sich selbst zu verletzen. Und durch die Kombination von zwei Behandlungen – verstärktes Kommunikationstraining und Naltrexone – scheint es, daß wir in den meisten Fällen die Selbstverletzung drastisch reduzieren oder beenden können."
Naltrexon blockiert die Opium-Rezeptoren im Gehirn, so daß Beta-Endorphin, das nach einer Selbstverletzung freigesetzt wird, sich nicht an die Rezeptoren binden kann. Damit bleibt auch die Sinnesempfindung aus, die vergleichbar ist mit den Empfindungen, die ein Heroinabhängiger nach einer geringen Dosis Heroin hat.
Ob Patienten positiv auf eine Naltrexon-Therapie ansprechen würden, läßt sich den Wissenschaftlern zufolge anhand der Stellen am Körper ablesen, an denen sich die Menschen selbst verletzen. Tun sie dies an schmerzunempfindlichen Akupunkturstellen wie zum Beispiel der Schläfe oder dem Handgelenk direkt hinter dem Daumen, sind sie für eine solche Behandlung prädestiniert. Die Forscher gehen davon aus, daß eine Selbstverletzung an diesen Stellen die Freisetzung von Beta-Endorphin verursacht, während das bei Selbstverletzung an anderen Stellen nicht der Fall ist. Diese Patienten sollten also gut auf eine Naltrexon-Therapie ansprechen.
Siehe auch
- Spektrum der Wissenschaft 8/97, Seite 29
"Genomische Prägung und die Vererbung intellektueller Fähigkeiten"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich) - Spektrum der Wissenschaft 8/93, Seite 48
"Autismus"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)
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