Großprojekte: Hinein in den Schlamassel
Am südlichen Stadtrand von Berlin entsteht ein neuer internationaler Flughafen. Er sollte am 3. Juni 2012 eröffnen. Doch wenige Wochen vorher, am 8. Mai, sagte die Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg (FBB) den Termin ab. Das war eine Katastrophe – unter anderem für die Händler und Dienstleister am neuen Flughafen. Sie hatten sich auf die Eröffnung vorbereitet und mussten nun Ware stornieren und Personal entlassen. Zusätzliche Baukosten, mögliche Schadenersatzforderungen betroffener Firmen und Airlines, entgangene Einnahmen und ein verpatztes Schallschutzprogramm führen jetzt zu Mehrausgaben von voraussichtlich mehr als einer Milliarde Euro. Auf Unverständnis stieß vor allem, dass die Verantwortlichen quasi in letzter Minute auf die Bremse traten. Denn das Debakel hatte sich lange angekündigt. Laut Presseberichten wussten die FBB-Planer spätestens seit Dezember 2011 von massiven Schwierigkeiten mit der Brandschutzanlage des Terminals – dem Hauptgrund für die Absage des geplanten Eröffnungstermins. Auch die FBB-Geschäftsführung habe frühzeitig von den Problemen erfahren, ebenso wie ihr Aufsichtsrat, in dem Vertreter der Landesregierungen Berlin und Brandenburg sowie des Bundes sitzen.
Frau Torjus, warum hielten die Verantwortlichen bis zum bitteren Ende an einem hochriskanten Eröffnungstermin fest?
Da kam Verschiedenes zusammen. Zum einen sind an diesem Großprojekt viele Firmen beteiligt. In solchen Fällen ist es schwierig, Informationen untereinander auszutauschen, und es gibt oft das Problem, dass in Gruppendiskussionen nicht alle relevanten Fakten auf den Tisch kommen. Zum anderen hat hier vermutlich ein klassisches Gruppendenken zugeschlagen – dieses Phänomen, dass man kollektiv einer Meinung ist, obwohl anders lautende Informationen vorliegen.
Es kann also sein, dass die Gruppe bestimmte Informationen ausblendet?
Genau. Und zwar solche, die nicht zum Konsens passen. Das kann dazu führen, dass eine Gruppe schlechte Entscheidungen trifft, weil hoher Konformitätsdruck herrscht.
Was für eine Rolle spielen dabei die Führungspersonen?
Wenn zum Beispiel ein Abteilungsleiter sehr autoritär auftritt und keine Fremdmeinungen zulässt, sinkt innerhalb der Gruppe die Zufriedenheit mit der Kommunikation und die Informationen werden anders weitergegeben – das zeigen auch meine eigenen Studien. Wirkt eine Führungskraft hingegen offen, betrachtet sie sich mehr als Moderator und akzeptiert andere Meinungen, dann werden auch kritische Informationen eher kommuniziert. Deswegen ist eine Möglichkeit, Gruppendenken zu vermeiden, dass die Führungskraft unparteiisch bleibt und keine direktive Rolle einnimmt.
Die Kontrollberichte der Berliner Flughafenplaner waren mit kleinen Ampeln versehen, die für jede Baumaßnahme anzeigen sollten, auf welchem Weg sie ist. Die "Zeit" berichtet, dass die Ampeln für die Entrauchungsanlage und den Brandschutz seit Monaten auf "Rot" gestanden hätten, in Berichten an den Aufsichtsrat aber auf "Gelb" geändert worden seien.
Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass eine Information angepasst wird, weil sie nicht erwünscht ist. Man mildert eine Warnung ab, bevor sie an den Aufsichtsrat geht, weil klar ist, wo dessen Ziel liegt. Dieses Ziel ist ja deutlich geäußert worden – nämlich das Festhalten am Eröffnungstermin.
Aber es ist doch ein irrationales Verhalten, wenn man dadurch ins absehbare Scheitern hineinläuft?
Bei der Schweinebucht-Invasion, dem missglückten Angriff der Amerikaner auf Kuba im Jahr 1961, ist genau das Gleiche passiert. Viele Berater von Präsident John F. Kennedy wussten, dass die Invasion nicht gut geplant ist, trotzdem haben sie sich in den entsprechenden Diskussionen zurückgenommen und keine Kritik geäußert, so dass Kennedy letztlich entschied, den Plan auszuführen. Die Experten sind sehenden Auges ins Unheil gelaufen.
Schwer vorstellbar, dass bei einem Projekt wie dem Berliner Flughafenbau derart wichtige Informationen nicht zu den Verantwortlichen vordrangen.
Möglicherweise gab es Warnungen von Mitarbeitern, aber die Frage ist, gelangten die bis zum Aufsichtsrat und wollte der sie überhaupt hören. Das ist ja keine klar geregelte Kommunikation. In Unternehmen und Organisationen gibt es formal festgelegte Informationswege sowie eine informelle Kommunikation, die nebenherläuft und nicht strukturiert ist. Die formalen Kanäle lassen selten Informationen von unten nach oben durch, meist sehen sie nur die umgekehrte Richtung vor. In der Regel können Mitarbeiter mit kritischen Einwänden lediglich zu ihren direkten Vorgesetzten gehen. Und dann taucht gleich die Frage auf, wie ist das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden – ist es möglich, unliebsame Dinge anzusprechen oder nicht. Beim Berliner Flughafenbau ist der Kommunikationsweg bis nach oben zum Aufsichtsrat zudem recht lang, das sind nicht nur ein oder zwei Hierarchiestufen, sondern viele. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich nicht nur um eine einzige Organisation handelt, sondern um viele Firmen und einen Überbau, der versucht, das alles zu koordinieren.
Warum hat niemand den Mut gehabt, von sich aus an die Öffentlichkeit zu gehen und rechtzeitig vor dem drohenden Schlamassel zu warnen?
Vermutlich aus Angst. Wer publik macht, dass das Projekt in der geplanten Form scheitern könnte, der muss möglicherweise mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes rechnen.
Das muss bei den Betroffenen doch zu einem inneren Konflikt führen?
In der Psychologie ist das als kognitive Dissonanz bekannt – das Erleben eines inneren Spannungszustands. Er tritt zum Beispiel auf, wenn Sie rauchen, obwohl Sie wissen, dass das ungesund ist, oder wenn Sie eine unglückliche Beziehung aufrechterhalten. Oder wenn Sie sich in einer Gruppe konform verhalten, obwohl Sie eigentlich eine andere Meinung haben. In diesem Fall kann man entweder seine innere Einstellung oder sein Verhalten ändern.
Offenbar haben sich die Beteiligten am Berliner Flughafenbau für die erste Möglichkeit entschieden.
Es kostet viel Überwindung, derjenige zu sein, der sagt, es klappt nicht. Weil man ja mit Konsequenzen, mit dem Ausschluss aus der Gruppe rechnen muss. Wir sind soziale Wesen, die in der Gruppe existieren. Wenn ich vor der Entscheidung stehe, ob ich der einsame Mahner sein will, stellt sich mir die Frage, was unangenehmer ist: meine innere Spannung auszuhalten oder von der Gruppe bestraft oder ausgegrenzt zu werden. Dann muss ich mir aussuchen, was weniger schlimm ist.
Jeder schiebt die Schuld an dem Flughafendesaster von sich. Politiker wollen von den massiven Problemen am Bau nichts gewusst haben, der Aufsichtsrat will zu spät informiert worden sein, die Flughafengesellschaft verklagt ihre früheren Generalplaner, und Bauexperten wollen schon vor Jahren gewarnt haben. Ist das typisch für große Gruppen?
Das ist ein generelles Phänomen. Wenn wir in einer Gruppe zusammentreffen, gibt es eine so genannte Verantwortungsdiffusion. Weil die Leistung des Einzelnen nicht mehr klar erkennbar ist, lässt sich auch nur schwer sagen, wer ein Scheitern zu verantworten hat, und so kann man die Schuld gut anderen zuschieben. Aber das tritt bereits in kleinen Gruppen auf.
Wie kann man gegensteuern?
Etwa, indem man ganz klar umrissene Verantwortlichkeiten festlegt, so dass sich hinterher überprüfen lässt, wer wofür zuständig war Aber das ist bei so einem großen Projekt wie dem Berliner Flughafen nicht immer zu 100 Prozent umsetzbar.
Sie haben vorhin beschrieben, dass eine autoritäre Führung das Risiko für Gruppendenken erhöht. Welche Risiken gibt es noch?
Gruppendenken tritt häufig dann auf, wenn die Gruppe sehr homogen ist, ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl hat und wenn der Konformitätsdruck sehr hoch ist. Es entsteht auch dann vermehrt, wenn die Gruppe isoliert ist und – was beim Berliner Flughafenbau ganz stark der Fall war – Zeitdruck und Stress vorherrschen. Es war ja absehbar, dass der Eröffnungstermin bereits zum zweiten Mal nicht zu halten sein würde, nachdem er 2010 schon einmal verschoben worden war. Nun musste rasch eine Entscheidung fallen: Geht man an die Presse und veröffentlicht das oder hofft man, dass trotzdem alles irgendwie noch durchgeht? Hinzukommen kann so etwas wie eine Illusion der Unverwundbarkeit: Man denkt "das klappt schon irgendwie, wir können gar nichts verkehrt machen".
Wie kann man solche Denkstrukturen durchbrechen?
Indem man zum Beispiel eine Person in der Gruppe benennt, die immer gegen die jeweilige Entscheidung stimmt und auch die Punkte dagegen anbringt – einen institutionalisierten Mahner oder "Teufelsadvokaten". Dies kann Fehlentscheidungen in Gruppen verhindern, funktioniert aber nicht in jedem Fall, wie die Forschung gezeigt hat. Denn auch der Teufelsadvokat bringt nicht immer alle relevanten Informationen auf den Tisch. Jedoch trägt er durchaus dazu bei, dass Informationen geteilt werden, die vorher nicht allen bekannt waren, einfach weil man länger darüber diskutiert. Wichtig ist zudem, den Informationsfluss von unten nach oben zu fördern, etwa in Form eines Briefkastens, in den man Verbesserungsvorschläge einwerfen kann.
Frau Torjus, vielen Dank für das Gespräch.
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