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News: Hinter dem Spiegel

Man rennt und rennt und rennt - und bewegt sich doch keinen Fleck von der Stelle. Was wie ein Alptraum erscheint, findet in der Evolution wahrscheinlich häufig statt - nämlich dann, wenn Organismen versuchen, sich an eine sich ständig verändernde Umwelt anzupassen. Dabei müssen sich keine Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes zeigen - die Evolution spielt sich im Verborgenen ab. Diese "kryptische Evolution" blieb zunächst graue Theorie, doch jetzt konnte sie am Beispiel eines kleinen Singvogels bestätigt werden.
"'Schneller! Schneller!' rief die Dame. Und sie rannten so schnell, als ob sie durch die Luft fliegen würden, ohne den Boden zu berühren. Doch plötzlich, als Alice schon völlig erschöpft war, hielten sie an und ließen sich atemlos und schwindelig ins Gras fallen. Alice schaute sich überrascht um: 'Waren wir nicht die ganze Zeit hier unter diesem Baum? Alles sieht genauso aus wie vorher!' – 'Natürlich', sagte die Dame, 'was hast du denn gedacht?'"

Es war schon eine merkwürdige Begegnung, die Alice mit der "roten Dame" hatte. Doch was der Kinderbuchautor Lewis Carroll in seinem Roman "Alice hinter den Spiegeln" 1872 erdachte, regte fast genau einhundert Jahre später einen Evolutionsbiologen zu einer interessanten Hypothese an. 1973 schlug Leigh Van Valen von der University of Chicago das Red-Queen-Prinzip vor – benannt nach der "roten Dame" aus Carrols Roman. Demnach könnte sich Evolution auch im Verborgenen abspielen, beispielsweise wenn zwei Arten sich gegenseitig beeinflussen. Bei dieser Coevolution findet ein permanentes Wettrennen statt, denn die eine Art muss sich ständig an die Weiterentwicklungen der anderen Art anpassen – und umgekehrt. Dabei treten mitunter, so van Valen, scheinbar keine phänotypischen Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes auf. Das Wettrennen läuft, wie bei der "roten Dame" hinter dem Spiegel, ohne dass die beiden vorwärts kommen.

Was bisher nur graue Theorie war, scheint sich in der Praxis zu bestätigen. Juha Merilä von der Uppsala University wertete zusammen mit seinen Kollegen die ökologischen Daten einer Halsbandschnäpper-Population (Ficedula albicollis) auf der Ostseeinsel Gotland aus. Den Wissenschaftlern viel auf, dass das relative Körpergewicht der Küken in den Jahren von 1981 bis 1999 langsam aber stetig abnahm. Die Wissenschaftler hatten eher eine Zunahme erwartet, da schwere Küken bessere Überlebenschancen haben als leichtere. Die Evolution sollte also die Selektion schwerer Küken fördern.

Andererseits war den Forschern bekannt, dass das relative Körpergewicht der Vögel hauptsächlich genetisch bestimmt ist. Warum treten dann aber fast keine phänotypischen Veränderungen auf? Merilä vermutet, dass sich die Halsbandschnäpper im Wettlauf mit einer sich verschlechternden Umwelt befinden. Als Ursache sieht er einen früheren Frühlingseintritt auf Gotland. Dadurch entwickeln sich Raupen – die Hauptnahrung der Halsbandschnäpper – zu früh für die Brut. Die Küken bleiben klein, trotz gegenteiliger genetischer Veranlagung. Ähnlich wie die "rote Dame" rennt der Halsbandschnäpper genetisch, ohne sich phänotypisch von der Stelle zu rühren.

Damit scheint Van Valens Red-Queen-Prinzip nicht nur bei der Coevolution zweier Arten, sondern auch beim Wettrennen zwischen Art und Umwelt stattzufinden. Merilä sieht dabei jedoch für den Halsbandschnäpper ein Problem, wenn sich seine Umweltbedingungen weiter verschlechtern: "Wie lange kann er noch hinterherlaufen, bevor er das Rennen aufgeben muss?"

  • Quellen
BioMedNet
Nature 412: 76–79 (2001)

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