Hirnforschung: Ungewöhnliche Verschiebung von Nervensignalen beobachtet
Auch wenn ein Auto wegfährt und kleiner wird, bleibt es in unserer Vorstellung gleich groß. Eine gängige neurowissenschaftliche Erklärung dafür lautet, dass es eine feste Gruppe von Neuronen im Gehirn gibt, die für diese konstante Wahrnehmung zuständig ist. Die Nervenzellen repräsentieren sozusagen das Auto und feuern immer dann, wenn wir eins sehen, ganz egal, aus welchem Winkel wir es betrachten, welche Farbe es hat und wie weit weg es ist. Die Ergebnisse einer Forschungsgruppe um Carl Schoonover und Andrew Fink von der Columbia University in New York stellen diese Annahme nun in Frage. In der Studie, welche die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Fachmagazin »Nature« veröffentlichten, verloren sie Nervenzellen, die für die Wahrnehmung bestimmter Gerüche verantwortlich sind, wortwörtlich aus den Augen.
Das Team maß einen Monat lang die Aktivität einzelner Neurone im piriformen Kortex von Mäusen. Dieses Hirnareal erkennt Düfte und unterscheidet sie voneinander. Ähnlich wie Autos in der menschlichen Sehrinde werden dort also Gerüche repräsentiert. Insgesamt befestigten die Forscher 379 Elektroden im Gehirn von sechs Mäusen, denen sie anschließend in regelmäßigen Abständen über Tage und Wochen hinweg immer wieder dieselben Duftproben vorsetzten. Dabei passierte etwas Ungewöhnliches: Mit der Zeit veränderten sich die Zellen, die auf einen bestimmten Geruch reagierten, und damit auch die Repräsentation dieses Geruchs. Nicht nur ein bisschen, sondern in einem drastischen Ausmaß: Mehr als 97 Prozent der angezapften Neurone änderten im Studienverlauf ihr Antwortverhalten. Die Forscher bezeichnen das auch als »Repräsentationsdrift« (»representational drift«).
Das Phänomen ist vor allem deshalb rätselhaft, weil der piriforme Kortex konsistente Signale liefern muss, um die Gerüche für andere Hirnregionen kenntlich zu machen. Dafür ist eine eindeutige Übersetzung von Duftmolekülen in eine elektrische Kennung notwendig. Wie kann das funktionieren, wenn sich die feuernden Nervenzellen ständig verändern, während der Reiz derselbe bleibt?
Verschwendet das Gehirn Rechenleistung?
Carl Schoonover und Andrew Fink schlagen dafür drei mögliche Erklärungen vor. Erstens könne ein Duft in jenen drei Prozent der Neurone abgespeichert werden, die auch nach einiger Zeit immer noch zuverlässig auf einen Reiz reagieren. Das werfe allerdings die Frage auf, warum dann so viele andere Nervenzellen mitfeuern und quasi »Rechenleistung« verschwendet wird. Es wäre aber auch möglich, dass gerade in der verschobenen Aktivität ein verborgenes Muster liege, mit dem sich ein Geruch identifizieren lasse. Die Forscher haben die Hirnaktivität erfolglos nach solchen Mustern abgesucht, können jedoch nicht ausschließen, dass sie etwas übersehen haben.
Am ausführlichsten beschäftigen sich die Neurowissenschaftler mit der dritten Erklärung: Entgegen dem aktuellen Wissenstand sei der piriforme Kortex womöglich überhaupt nicht für die Erkennung von Gerüchen verantwortlich. Dafür spricht, dass Repräsentationsdrifts auch in anderen Arealen auftreten, die nicht direkt mit der Sinnesverarbeitung zu tun haben. Ein Beispiel ist der Hippocampus, der unter anderem eine zentrale Rolle bei der Gedächtnisbildung spielt. Dort überraschen die Verschiebungen nicht, weil ständige Neukonfigurationen notwendig sind, damit neue Gedächtnisspuren entstehen.
Allerdings finden zwei bisher nicht begutachtete Studien Repräsentationsdrifts auch im primären visuellen Kortex von Mäusen. Dort ist der Effekt noch unerwarteter als im piriformen Kortex, denn die Neurone der Sehrinde sind besonders strukturiert: Ihre Anordnung spiegelt nämlich den Aufbau der Retina wider. Vielleicht ist das Abdriften neuronaler Abbilder also eher die Regel als die Ausnahme. Die Frage, die sich Forscherinnen und Forscher dann stellen müssen, ist: Warum bleibt unsere Wahrnehmung dennoch gleich?
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