Neurowissenschaft: Hirnforschung im Großmaßstab
Die Neurowissenschaft ist ein zersplittertes Feld: Gut 10 000 Labore weltweit verfolgen jeweils ihre eigenen Ziele aus einer Palette unterschiedlichster Fragestellungen – seien es Prozesse auf Millisekundenebene oder Entwicklungsvorgänge, die Jahre in Anspruch nehmen, am Beispiel von einfachsten Organismen bis hin zu so komplexen wie dem Menschen. Die Rasanz, mit der das Feld neue Entdeckungen hervorbringt, wird jeden beeindrucken, der auch nur an einem einzigen größeren Symposium zur Hirnforschung teilnimmt: 50 000 oder mehr Forscher, die in alle Richtungen auseinanderstreben wie in einer Art großem, wissenschaftlichem Urknall.
Natürlich ist es unabdingbar, dass Forscherteams unabhängig voneinander arbeiten. Dennoch hat der Individualismus die Hirnforschung davon abgehalten, ein Stadium der Reife zu erreichen. Es fehlen die gemeinsamen Standards, und umfangreiche Kooperationen zwischen einzelnen Einrichtungen sind selten. Neurophysiologen würden lieber die Zahnbürste ihres Kollegen benutzen, als seine Daten oder Software zu verwenden. Ergebnisse physiologischer Studien werden auf den eigenen Servern gehortet und kaum je online zur Verfügung gestellt; Wirkstoffe oder genetisch veränderte Versuchstiere werden bestenfalls nach Erscheinen einer Publikation an die Mitstreiter weitergegeben. All das hat dazu geführt, dass sich die einzelnen Erkenntnisse kaum je vergleichen lassen. Der Fortschritt erlahmt.
"Neurophysiologen würden lieber die Zahnbürste ihres Kollegen benutzen, als seine Daten oder Software zu verwenden."
Am Allen Institute for Brain Sciences in Seattle werden wir mit unseren Kollegen nun ein gewaltiges Experiment zur Soziologie der Neurowissenschaften in Gang setzen, an dem mehrere hundert Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker mitwirken werden. Der Wissenschaftsmäzen Paul Allen, der das Institut im Jahr 2003 gegründet hat, wird insgesamt 300 Millionen US-Dollar für die ersten vier Jahre bereitstellen. Über die gesamte Laufzeit sieht der ehrgeizige 10-Jahres-Plan bislang Gelder in Höhe von 500 Millionen Dollar vor.
Verschiedene Blickwinkel, ein Fokus
Unser Ziel ist es, den Fortschritt in den Neurowissenschaften zu beschleunigen, die besten jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzulocken und am Ende eine Anzahl von Gruppierungen aufzubauen, die wir "Brain Observatories" (in etwa: "Hirnwarten") nennen. Jedes davon wird aus einem anderen Blickwinkel die gerade einmal einen Millimeter dicke Großhirnrinde der Maus ins Visier nehmen, beschreiben, beobachten und manipulieren. Statt auf Vorgänge in den Tiefen des Alls wollen wir unsere Instrumente auf den Informationsfluss innerhalb der hochkomplexen, ineinander verflochtenen Schaltkreise des Kortex richten.
Dabei sollen die Erkenntnisse aller beteiligten Forschungsdisziplinen – von der Genetik, Anatomie und Physiologie bis hin zur Modellierung neuronaler Systeme mit dem Computer – zu einer umfassenden Theorie verknüpft werden, die uns verrät, wie die Maus ihren visuellen Kortex zum Sehen benutzt. Getreu dem Gründungsauftrag Paul Allens werden wir dabei sowohl alle Daten als auch Ressourcen wie Versuchstiere, Markersubstanzen oder Gewebsmorphologien aufbereiten und unentgeltlich der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen – selbst wenn die betreffenden Forschungsprojekte noch nicht abgeschlossen sind.
Miteinander von Spezialisten und akademischer Forschung
Unserer Ansicht nach läutet diese Initiative eine Phase der Neurowissenschaft ein, in der eine Forschung im Großmaßstab das bislang dominierende Modell vieler kleiner Labore ablöst. Dabei steht die Gesamtleistung des Kollektivs im Vordergrund – sie wird belohnt, und nicht nur die des jeweiligen Forschungsleiters. Uns schwebt dabei eine Zukunft vor, in der sich fortschrittliche, bestens ausgestattete Brain Observatories, man könnte sie als "Mindscopes" bezeichnen, und herkömmliche akademische Neurowissenschaft wechselseitig ergänzen, wobei Letztere wahrscheinlich auch weiterhin die Masse an Forschungsergebnissen beisteuern wird.
Auch wenn sich unser Projekt zunächst einmal nur auf die visuelle Wahrnehmung bei Mäusen konzentriert, spielen immer auch weit fundamentalere Aspekte neuronaler Verarbeitung mit hinein: Wie geht bewusst oder unbewusst Wahrnehmung vonstatten? Wie werden Entscheidungen getroffen und in die Tat umgesetzt? Sobald Forscher die grundlegenden Mechanismen bei der Maus verstanden haben, können sie sich komplexere Formen der Wahrnehmung bei anderen Tieren oder eben auch Menschen vornehmen. Kurz gesagt: Wir glauben, dass dieses Projekt das Potenzial hat, unser Verständnis vom Säugetiergehirn grundlegend zu verändern.
Die Brain-Observatories-Initiative nimmt in erster Linie den Kortex ins Visier, die sprichwörtliche "graue Substanz", die so typisch ist für Säugetiere mit ihren höheren kognitiven Fähigkeiten und ihrer Intelligenz. Gemessen an seiner Größe ist er das komplexeste Stück geordneter Materie im bekannten Kosmos. Doch betrachtet man nur eine kleine Gewebeprobe, fällt es selbst Experten schwer zu bestimmen, von welchem Säugetier sie gewonnen wurde. Der Grund dafür ist, dass alle Säuger im Prinzip über die gleiche Hardware verfügen. Nur hat der Mensch eben besonders viel davon: rund 1000-mal mehr als etwa die Maus.
Zu Beginn des Projekts steht die Anatomie kortikaler Zellen im Vordergrund. Mit molekularbiologischen Methoden bestimmen und katalogisieren wir die Vielfalt an Neuronentypen, die Informationen in die visuellen Areale hinein- oder aus ihnen herausschleusen oder innerhalb der Großhirnrinde weiterverteilen. Dann werden wir die elektrische Aktivität einer hinreichend großen Zahl von Zellen vermessen sowie weitere zellinterne Vorgänge aufzeichnen. Am Ende hoffen wir so besser zu verstehen, wie die Funktion der neuronalen Netze aus ihrer Struktur entsteht. Das ist zwar eine immense Aufgabe, aber keineswegs hoffnungslos: So kompliziert der Kortex auch sein mag, im Wesentlichen besteht er aus zahlreichen Kopien des immer gleichen Grundschaltkreises.
Atome des Denkens
Die Erforschung des menschlichen Gehirns hat zuletzt durch die Entwicklung funktioneller Magnetresonanztomografen eine tief greifende Revolution erfahren. Sie zeigen den Forschern in Echtzeit, wie sich Gehirnareale unter bestimmten Bedingungen verhalten. Aber ihre Signale sind nur sehr langsam und unscharf. Außerdem stellen Hirnareale nicht die entscheidenden Bausteine des Gehirns dar – die Atome der Wahrnehmung und des Denkens, wenn man so will, sind die unerhört komplexen Neurone selbst.
"Gemessen an seiner Größe ist der Kortex wohl das komplexeste Stück geordneter Materie im bekannten Kosmos."
Zum Glück können Hirnforscher mittlerweile einzelne Zellen im lebenden Gehirn untersuchen. Dazu versehen sie die Neurone beispielsweise gentechnisch mit Fluoreszenzmarkern, die jedes Mal aufleuchten, wenn die Zelle ein elektrisches Signal abgibt. Mit den neuesten Verfahren der so genannten Optogenetik, die vom Fachmagazin "Nature Methods" zur "Methode des Jahres 2010" gekürt wurde (siehe unsere Sonderseite "Optogenetik", d. Red.), können Wissenschaftler sogar vorübergehend und reversibel einzelne Neurone durch Lichtstrahlen kontrollieren. Bestimmte Vorgänge lassen sich so in zuvor festgelegten Zelltypen und zu einem gewünschten Zeitpunkt in Gang setzen oder unterbrechen. Damit ist die Neurowissenschaft nicht länger nur darauf festgelegt, nach bloßen Korrelationen zu fahnden: Statt lediglich zu beobachten, dass bei Entscheidungsprozessen immer ein Schaltkreis X aktiv wird, liefert der gezielte Eingriff ins System eine Antwort auf die Frage, ob dieser Schaltkreis auch notwendig ist, um eine Entscheidung zu treffen.
Darüber hinaus erlauben neue Techniken wie die dreidimensionale Elektronenmikroskopie, jedes Axon, jeden Dendriten und jede Synapse in einem neuronalen Netz sichtbar zu machen. Weitere Forschungsgruppen werden hingegen die elektrische Aktivität tausender Zellen gleichzeitig aufzeichnen. Verknüpft man alle diese Verfahren miteinander, erscheint es in der Tat möglich, ein umfassendes Bild einer ganzen Hirnregion zu zeichnen und dabei gleichzeitig sowohl ihre Struktur als auch das Zusammenspiel ihrer Bestandteile zu berücksichtigen.
Und schließlich werden wir alle dabei gewonnenen Daten zu einem realistischen und dynamischen Computermodell des Mauskortex und benachbarter Strukturen verflechten. Es soll uns dabei helfen, Theorien über das Verhalten und die Arbeitsweise des Hirnareals zu entwickeln. Die Modellierungsabteilung wird dabei Tür an Tür mit den Labors liegen, so dass sich die Mitarbeiter gut untereinander austauschen können. Das sollte die Zeitintervalle zwischen dem Ableiten neuer Vorhersagen einerseits und ihrer experimentellen Überprüfung andererseits verringern – wir hoffen auf eine Art "umgekehrten Teufelskreis", mit dem sich das Modell sukzessive an die Wirklichkeit annähern lässt.
Tief greifendes Verständnis fehlt
Obwohl Neurowissenschaftler in den vergangenen 120 Jahren vermutlich alle wesentlichen Elemente des Säugetiergehirns entdeckt haben, sind wir noch weit davon entfernt, die Vorgänge in seinem Innern zu verstehen. Doch ein solches Verständnis ist dringend geboten. Man denke nur an all die Belastungen, die einzelne Menschen, Familien und ganze Gesellschaften durch Störungen oder Verletzungen des Nervensystems auferlegt bekommen.
So gewaltig die Herausforderungen auch sein mögen, wir sind nicht die Ersten, die ein solches Unterfangen vorschlagen. So plant etwa das Human Brain Project unter der Federführung Henry Markrams von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne, rund 150 Teamleiter aus 22 Ländern zusammenzubringen, um lauffähige Computermodelle der Gehirne von Mäusen, Ratten, Affen und Menschen zu entwickeln. Der Unterschied zum Brain-Observatories-Projekt am Allen Institute besteht darin, dass wir uns in nur einem Institut auf einen einzelnen Wahrnehmungskanal einer einzigen Spezies konzentrieren.
Wir sind uns bewusst, dass ein derart kostspieliges Projekt seine Kritiker haben wird: Mit den notwendigen finanziellen Mittel ließen sich hunderte weniger umfangreiche Vorhaben finanzieren. Warum sollte man sie also dermaßen konzentrieren? Als Antwort verweisen wir darauf, dass Geldgeber ohnehin bereits Milliarden Dollar für kleinere Projekte in allen Bereichen der biomedizinischen Forschung ausgeben und dass das Allen Institute eben Vorreiter bei einem neuen Zugang zur Hirnforschung sein will. Wir wollen lieber einen ausgewählten Ausschnitt des Hirns vollständig verstehen, indem wir Erkenntnisse, die mit verschiedensten Techniken und auf unterschiedlichsten Ebenen gewonnen wurden, zu einem einheitlichen Bild zusammensetzen, als Fördergelder noch weiter in den Verästelungen der Forschergemeinde zu verteilen.
Natürlich besteht immer das Risiko, dass unser Projekt nicht das liefert, was wir von ihm erwarten, und dass die einzelnen Brain Observatories, die sich auf Anatomie, Physiologie oder Computersimulationen konzentrieren, schlicht und ergreifend nicht die Synergien entwickeln, die wir uns erhoffen. Es gibt eben keine Garantie dafür, dass die Neurowissenschaft schon bereit ist für "Big Science". Aber wenn wir es nicht ausprobieren, werden wir es nie erfahren.
Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel "Observatories of the mind" in: Nature 483, S. 397–398, 2012
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