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Globale Erwärmung: Hitzewelle ohne Klimawandel »extrem unwahrscheinlich«

Die Vermutung lag nahe: Ohne Klimawandel wäre es wohl kaum zu der extremen Hitzewelle gekommen, die Westeuropa Mitte Juli 2022 erfasst hatte. Nun gibt es Belege für England.
Ein Mitglied der F Company Scots Guards schwitzt in der Hitze während der Zeremonie des Wachwechsels auf dem Vorplatz des Buckingham Palace im Zentrum von London.
In London lag die Temperatur am 19. Juli 2022 bei mehr als 40 Grad.

Eigentlich ist die 4 eine eher kleine Zahl, doch wenn damit eine Temperaturangabe beginnt, macht sie größten Eindruck. Mitte Juli waren weite Teile Westeuropas von einer Hitzewelle erfasst worden; unter anderem in Spanien, Frankreich und Deutschland brannten Wälder. In England wiederum lasen Meteorologen und Meteorologinnen dort erstmals in der Geschichte mehr als 40 Grad Celsius Lufttemperatur an gleich drei Stationen ab.

»Die 40 Grad waren psychologisch sehr beeindruckend«, sagt Friederike Otto. »Dieses Land ist schließlich besonders wenig an solche hohen Temperaturen gewöhnt.« Die deutsche Physikerin arbeitet an der University of Oxford, wo sie eine Methode mitentwickelt hat, um nach Wetterextremen den Einfluss des Klimawandels auf das Ereignis zu berechnen. Eine solche Analyse für die Region von Kent im Südosten bis Yorkshire weiter nördlich und hinüber bis zur Grenze von Wales hat ein Team von 21 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus neun Ländern soeben vorgelegt.

»Solche Temperaturen in England wären ohne den Klimawandel extrem unwahrscheinlich gewesen«, sagt Otto. »An den meisten der einzelnen Stationen wären sie sogar unmöglich gewesen« – dazu ist das englische Klima eigentlich zu kühl. Diese Aussage dürfte kaum jemanden überraschen, zumal die Physikerin ergänzt: »Die Rolle des Klimawandels ist bei jeder Hitzewelle heutzutage groß.« Das gelte auch für die Rekordwerte in Frankreich oder Deutschland, die von der aktuellen Studie nicht erfasst wurden.

Nur im Computer lässt sich der Einfluss der Treibhausgase neutralisieren

Nun liefert die Analyse einen Mehrwert gegenüber der bloßen, begründeten Vermutung, dass der Klimawandel mitverantwortlich war. Das galt auch für die Studie zu den Sturzfluten an Ahr und Erft im Juli 2021. Für eine solche Attributions- oder Zuordnungsstudie unternimmt die Forschungsvereinigung »World Weather Attribution« mehrere Vergleiche. Sie stellt die aktuelle Wetterentwicklung einerseits den historischen Messdaten gegenüber und andererseits den Klimasimulationen im Supercomputer, bei denen die von der Menschheit ausgestoßenen Treibhausgase ausgeschaltet werden. Dort – und nur dort – lässt sich der Einfluss von Kohlendioxid sozusagen per Knopfdruck neutralisieren.

Diese beiden Methoden ergänzen sich bei solchen Studien in der Regel, aber in diesem Fall widersprechen sie einander eher. »Die Klimamodelle werfen nur eine Differenz von zwei Grad wegen des Klimawandels aus«, sagt Otto. »Wenn man allerdings auf die Messdaten schaut, dann war diese Hitzewelle wegen des Klimawandels um vier Grad wärmer, als sie es ohne ihn gewesen wäre.«

Das entspricht den Daten, die der britische Wetterdienst gesammelt hat. Er nennt dies »einen Meilenstein«, ohne das wie sonst bei einer solchen Formulierung als Erfolg zu betrachten. Schließlich wurden an zahlreichen Stationen drei oder vier Grad mehr gemessen als jemals zuvor – und viele der Messreihen reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Fast vier Dutzend Stationen brachen den vorherigen Rekord von 38,7 Grad Celsius, der erst im Jahr 2019 aufgestellt worden war. Und drei Stationen lagen über 40 Grad: Gringely-on-the-Hill in Nottinghamshire, der St. James’s Park mitten in London und Conningsby in Lincolnshire, wo am 19. Juli 2022 der Spitzenwert von 40,3 Grad Celsius notiert wurde. Zum ersten Mal überhaupt stieg ein Thermometer in Wales auf mehr als 37 Grad und in Schottland auf 35 Grad.

Alle 100 Jahre könnten sich solche Rekorde wiederholen – irgendwann alle drei Jahre

Die Diskrepanz zwischen den Vergleichen bei den Observationen und den Simulationen zwingt das Forschungsteam allerdings dazu, das quantitative Ergebnis ihrer Analyse eher zurückhaltend anzugeben. Demnach hat die Erderhitzung die englische Hitzewelle um »mindestens das Zehnfache« wahrscheinlicher gemacht. Analysen anderer Extremereignisse lieferten Faktoren von 30, zum Beispiel bei der Hitzewelle in Indien und Pakistan im März 2022. Die Hitze, die 2021 Kanada und den pazifischen Nordwesten der USA erfasste, war der Studie zufolge sogar »praktisch unmöglich« ohne den Klimawandel. »Das Wort ›mindestens‹ in der Zahlenangabe für die britische Hitzewelle ist darum besonders wichtig, denn sie war sicherlich deutlich mehr als zehnmal so wahrscheinlich«, betont die Forscherin aus Oxford.

»Das heißt für uns in Europa, wir könnten höhere Temperaturen noch schneller als erwartet bekommen«Friederike Otto, Attributionsforscherin

Der Grund für die Diskrepanz zwischen den beiden Analysemethoden liegt Otto zufolge in einer bekannten Schwäche der globalen Klimamodelle: Sie unterschätzten den Trend bei regionalen Hitzewellen in Westeuropa, obwohl sie sonst gute Werte liefern und zum Beispiel Durchschnittstemperaturen oder Regenextreme korrekt abbilden. Der Grund dafür ist allerdings bislang offen. »Das heißt für uns in Europa, wir könnten höhere Temperaturen noch schneller als erwartet bekommen«, sagt die Physikerin.

Trotz dieser unbefriedigenden Details bestätigt die neue Analyse Berechnungen, die der britische Wetterdienst Met Office 2020 veröffentlicht hatte. Der damaligen Studie zufolge wären in Großbritannien Temperaturen von 40 Grad Celsius oder mehr bestenfalls alle 1000 bis 10 000 Jahre eingetreten, falls die Atmosphäre noch die Zusammensetzung wie vor der Industrialisierung hätte. Im heutigen Klima aber, das sich bereits um 1,2 Grad erwärmt hat, dürfte sich die extreme Hitze alle 100 bis 300 Jahre wiederholen. Und wenn der Klimawandel ungebremst voranschreitet, wäre nach 2100 alle drei bis vier Jahre mit einem derart extremen Sommer zu rechnen.

»Es ist sehr ernüchternd, dass ein solches Ereignis so kurz nach dieser Studie passiert«, sagt Fraser Lott vom Met Office. »Unsere neue Untersuchung bestätigt aber die Ergebnisse der alten.« Durchschnittstemperaturen, wie sie über die Tage der Hitzewelle am 18. und 19. Juli 2022 und in der Nacht dazwischen erreicht wurden, könnten sich im heutigen Klima alle 100 Jahre wiederholen, hat das Team um Friederike Otto berechnet. Die Spitzenwerte einzelner Stationen bleiben hingegen unwahrscheinlicher und haben statistische Wiederholungszeiten von 1000 Jahren. »Aber wir leben ja auch nicht in einem stabilen, um 1,2 Grad erwärmten Klima, sondern es verändert sich dynamisch«, sagt Otto. Die Gefahr von häufigeren Temperaturextremen steige also ständig.

Um die 800 vorzeitige Todesfälle könnte die Hitze in England ausgelöst haben. Länder, die historisch so wenig Erfahrung mit extremer Hitze haben wie Großbritannien, aber auch Deutschland, müssen daher besonders schnell lernen, wie sie ihre Bürgerinnen vor deren Effekten schützen. »Hitzewellen sind die tödlichsten Wetterextreme in Europa, sie bringen tausenden Menschen jedes Jahr einen vorzeitigen Tod«, sagt Roop Singh vom Klimazentrum des Roten Kreuzes in Den Haag. »Viele dieser Todesfälle sind vermeidbar, wenn angemessene Anpassungspläne in Kraft sind.« Dazu gehören zum Beispiel soziale Dienste für allein lebende alte Menschen, wie es in Frankreich schon organisiert ist, sowie zentrale Räume, in denen sich Betroffene abkühlen können. Besonders gesundheitsschädlich ist dabei die Hitze in der Nacht, die einen erholsamen Schlaf stört.

In Großbritannien hatte das Met Office wie andere Wetterdienste die Hitzewelle viele Tage im Voraus kommen sehen. Sechs Tage lang schon galt die Warnstufe Orange, bevor die Behörde zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Warnstufe Rot für Hitzegefahr ausrief. Nach der Schätzung von Antonio Gasparrini von der London School of Hygiene könnte die Hitzewelle zu 840 vorzeitigen Todesfällen geführt haben, wenn man die historischen Daten dazu extrapoliert. Da es aber sehr viele Warnungen gab und die britischen Behörden Schutzmaßnahmen ergriffen haben, dürfte die Zählung im Nachhinein niedriger ausfallen, schrieb er bei Twitter.

Allerdings waren die Folgen für die Menschen, die etwa in London zusammenleben, sehr unterschiedlich. »Soziale und wirtschaftliche Faktoren, zum Beispiel der Zugang zu Grünflächen und Wasser, bestimmen die Auswirkungen«, sagt Emmanuel Raju von der Universität Kopenhagen. Alte Menschen mit geringem Einkommen, Bewohner kleiner Wohnungen in schlechtem Zustand oder Menschen in Stadtteilen ohne Parks und Straßenbäume sind dann besonders betroffen. »Und wer obdachlos ist oder im Gefängnis sitzt, leidet auch viel mehr darunter – das war zum Beispiel in der Pandemie ähnlich.«

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