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Geotektonik: Hoch spannend

Erdbeben dauern oft nur Sekunden, setzen dabei aber die Energie vieler Atombomben frei - und machen sie damit zu einer der tödlichsten Gefahren für den Menschen. Bald droht womöglich Südasien wieder eine derartig große Katastrophe.
Himalaja und Tibet aus dem All betrachtet
Am 8. Oktober 2005 um 8.50 Uhr Ortszeit bebt die Erde in Kaschmir: Erschütterungen mit einer Stärke von bis zu 7,6 auf der Richterskala lassen zahllose Gebäude in den Tälern des Hindukusch einstürzen und lösen teils heftige Erdrutsche oder Felsstürze an den steilen Hängen des Gebirges aus. Nach offiziellen Zahlen kommen letztendlich 84 000 Menschen in Pakistan und weitere 1300 in benachbarten Regionen Indiens ums Leben. Sie werden unter einstürzenden Häusern begraben, sterben an infizierten Wunden und ausbrechenden Seuchen oder erfrieren in den kalten Nächten des einsetzenden Winters – die Plattentektonik des unruhigen Planeten Erde hatte wieder einmal ihr zerstörerisches Potenzial bewiesen.

Am Südrand des Himalajas und seiner Nachbarn wie dem Karakorum liegt eine der heikelsten dieser Nahtstellen, da sich hier die Indische Platte unaufhörlich nach Norden unter die Eurasische Platte vorarbeitet. Durch die Kollision und das Abtauchen des kleinen Sub- unter den deutlich größeren Hauptkontinent – gegenwärtig mit einer Geschwindigkeit von rund vier Zentimetern pro Jahr – faltete sich das höchste Gebirge des Planeten auf: Ein Prozess, der nicht ohne Spannungen abläuft. Denn treffen kilometerdicke Erdkrustenpakete aufeinander, gleiten sie nicht reibungslos aneinander vorbei oder in die Tiefe ab. Vielmehr verhaken sich die beteiligten Gesteinsschichten; sie werden gedehnt und gestreckt, bis sie sich ruckartig voneinander lösen und die aufgestaute Energie als zerstörerisches Beben freisetzen.

Je nach tektonischer Aktivität des betroffenen Gebiets geschieht dies in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen, und je länger die ruhigen Phasen andauern, desto stärker wächst die Gefahr eines starken Erdbebens wie in Kaschmir. Wahrscheinlich wurden durch jenes Ereignis aber trotzdem nicht alle regionalen Gesteinsspannungen abgebaut, wie Nicole Feldl und Roger Bilhalm von der Universität von Colorado in Boulder jetzt warnen. Anhand geologischer Daten und eines Computermodells vermuten sie, dass die Wucht des Bebens nicht ausreichte, um die aufgestaute Energie auch nur annähernd freizusetzen und somit vorerst für seismische Ruhe zu sorgen.

Die beiden Geologen berechneten die Geschwindigkeit, mit der sich verschiedene GPS-Fixpunkte im Himalaja und Tibetischen Hochland durch die Plattenbewegung nordwärts bewegen und wo sich deshalb welche Menge an Verzerrungsenergie aufbaut. Mittels ihrer Simulation kalkulierten sie dann, welche Erdbebenstärken notwendig wären, um in bestimmten Zeitabschnitten diese Spannung wieder abzubauen. Bislang galt dabei vor allem der zentrale Bereich des Gebirgszugs als neuralgische Stelle, die für größere Katastrophen zuständig ist. Doch womöglich spielt eine Zone unter dem südlichen Abschnitt des Tibetischen Hochplateaus eine bislang unbeachtete, deutlich stärkere Rolle, denn gerade hier sammelt sich nach Meinung der beiden Forscher eine beträchtliche Energiemenge an.

Über mehr als 2100 Kilometer reicht diese Spannungsfront, die nur durch einen gewaltigen Schlag entlastet werden könnte: mit einem Erdbeben der Stärke 8,4 oder höher. Auch schwere seismische Ereignisse wie jenes von Kaschmir setzen kaum größere Mengen dieser Energie frei und wiegen deshalb die Bevölkerung eventuell in falscher Sicherheit. Und selbst jene Zonen, in denen in jüngster Zeit die verhakten Gesteinspakete gerissen sind, können in ein neues Superbeben mit einbezogen werden, so Bilham, was beispielsweise das Sumatrabeben von Weihnachten 2004 beweise. Dort gab es davor ebenfalls schon kleinere Beben, deren Bruchzonen später trotzdem wieder mit betroffen waren. Zudem lässt sich die Wiederkehr zweier schwerer Beben in Nepal an beinahe exakt derselben Lokalität innerhalb von nur hundert Jahren – 1833 mit einer Magnitude von 7,8 und 1934 mit einer von 8,2 – auf das fortdauernde geologische Spannungsverhältnis in Tibet zurückführen.

Die Gesamtstärke des Tremors hängt dabei stets von der Länge der Bruchzone ab; je weitreichender sie ist, desto gewaltiger fällt die Erschütterung aus. In den letzten Jahrunderten riss die Erde bei Beben im Himalaja jedoch immer nur weniger als 150 Kilometer weit auf, was das Energiereservoir im Süden Tibets nicht beeinflusste. Um es vollständig zu entleeren, müsste der Bruch mindestens 1800 Kilometer lang werden und die Indische Platte dabei um mehr als zwanzig Meter weiter nach Norden vordringen – auf der Richterskala ergäbe dies Ausschläge bis zu einer maximalen Stärke von 9,2. Allerdings schränken Feldl und Bilhalm ein, dass sich dafür die Spannung über mehr als 1000 Jahre aufbauen müsste, was sie für unwahrscheinlich halten.

Manche Abschnitte des Himalajas warten allerdings schon seit einem Jahrtausend auf ein Megabeben, in der zentralen Region kam es zuletzt vor mehr als 500 Jahren zu einem derart schweren Schlag – auch keine guten Aussichten für dicht besiedelten Gebiete am Rande des Gebirges in Indien, Pakistan oder Nepal. Denn den beiden Forschern zufolge sei ohnehin eher ein 500-Jahre-Intervall zu erwarten, bei dem die Platten zwar nur um etwa zehn Meter verrutschten und das Gestein auf einer Länge von etwa 900 Kilometern bräche. Doch wäre ein Beben der Stärke 9,0 die Folge: Es fiele mehr als hundert Mal so stark aus wie jenes in Kaschmir 2005.

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