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Hochland von Tibet: Rätselhafte Denisovaner waren Überlebenskünstler

Von den Denisovanern sind mehr Biodaten bekannt als fossile Knochen. Nun bezeugen Funde aus einer riesigen Höhle in 3200 Meter Höhe im Hochland von Tibet, wie die Frühmenschen ihren rauen Alltag bestritten.
Blick auf den Eingang der Baishiya-Karsthöhle im nordöstlichen Hochland von Tibet.
Die Baishiya-Karsthöhle liegt auf zirka 3280 Meter Höhe im nordöstlichen Hochland von Tibet. Sie ist ein buddhistisches Heiligtum und Fundort von Denisovaner-Knochen.

Wenn das Leben hart wurde, wurden die Denisovaner eben härter. Denn offenbar verfügten sie über eine spezielle Gabe: Sie passten sich erfolgreich an besonders harsche Lebensbedingungen an. Die in vielem noch immer rätselhaften Frühmenschen besiedelten einst mehr als 100 000 Jahre lang das Hochland von Tibet. Um in den extremen Höhenlagen zu überleben, hatten sich die Denisovaner breit aufgestellt; sie jagten Vögel, Nager und sogar Hyänen.

Zu diesem Ergebnis kommen Fachleute um Huan Xia von der chinesischen Universität Lanzhou und Frido Welker von der Universität Kopenhagen in einer Studie in »Nature«. Sie untersuchten tausende Tierknochensplitter aus der Baishiya-Karsthöhle im nordöstlichen Hochland von Tibet. Der Fundplatz, der auf einer Höhe von 3280 Metern liegt, zählt mit der namensgebenden Denisova-Höhle in Sibirien zu den bislang einzigen Stätten, an denen die Denisovaner nachgewiesenermaßen gelebt hatten. Die Frühmenschen waren eng mit den Neandertalern verwandt und existierten möglicherweise in ganz Asien.

Die Wissenschaftler identifizierten viele Überreste aus der Höhle ausschließlich durch deren Proteinprofil. Denn aus dem Aufbau eines Proteins, das man aus einer Knochenprobe fischt, kann man auf die DNA des dazugehörigen Organismus rückschließen. Mit Hilfe der so genannten Proteomik fanden Xia, Welker und ihr Team unter den Knochenfunden der Baishiya-Höhle auch eine Rippe, die von einem Denisovaner stammt – sie ist damit eines von nur einer Hand voll bekannter Knochenstücke dieser Frühmenschen.

»Die Denisovaner nutzten nahezu alle Arten von Tieren, von denen sie umgeben waren, um in dieser recht rauen Landschaft zu überleben«, sagt der naturwissenschaftliche Archäologe Welker. Der Fundort »liegt in großer Höhe. Es ist kalt. Und es ist kein angenehmer Aufenthaltsort für Homininen.«

Die DNA der Denisovaner ist in Asien weit verbreitet

In den Jahren nach der Erstentdeckung im Jahr 2010 – alte DNA aus dem Splitter eines Fingerknochens verriet die bis dahin unbekannte Menschenform – fanden sich Überreste von Denisovanern nur in der Denisova-Höhle in Russland. Im Verlauf von etwa 300 000 Jahren hatten dort auch Neandertaler und frühe Vertreter des Homo sapiens gelebt. Dann entdeckten Genetiker Spuren der Denisovaner im Erbgut heutiger Menschen in Asien und Ozeanien. Offenbar hatten sich die Frühmenschen und Homo sapiens einst vermischt – und vermutlich waren die Denisovaner in einem viel größeren Gebiet verbreitet gewesen, nicht nur in einer überschaubaren Gegend in Südsibirien.

Ein Stück Denisovaner | Der fragmentierte Rippenknochen aus der Baishiya-Karsthöhle stammt von einem Frühmenschen. Wie die Proteinsignatur verriet, war es sehr wahrscheinlich ein Denisovaner.

Wie weit die Lebenswelt der Denisovaner tatsächlich reichte, bezeugte dann ein erster direkter Beleg 2019, als ein Team, dem auch Welker angehörte, Proteinsignaturen der Denisovaner fand: in einem Kieferknochen samt Zähnen aus der Baishiya-Karsthöhle. Der Fund dürfte mindestens 160 000 Jahre alt sein. Ein buddhistischer Mönch nahm 1980 das Unterkieferfragment mit, nachdem er in der Höhle meditiert hatte.

Ausgrabungen in der Baishiya-Höhle lieferten inzwischen weitere Indizien, wann sich die Frühmenschen dort aufgehalten hatten: In Sedimenten, die sich vor ungefähr 100 000 bis 45 000 Jahren angesammelt hatten, entdeckten Fachleute DNA-Schnipsel von Mitochondrien. Diese versorgen die Körperzellen mit Energie. In den Zellorganellen liegt zudem ein eigenes Erbgut. Diese mtDNA unterscheidet sich vom größeren Genom im Zellkern und wird nur von der Mutter weitervererbt. Und die mtDNA aus den Sedimenten der Baishiya-Höhle ähnelt jener aus Überresten der Denisova-Höhle.

Bei Ausgrabungen in der Höhle, die die Archäologin Dongju Zhang von der Universität Lanzhou leitet, kamen auch tausende Tierknochen zum Vorschein. Um mehr als 2000 dieser Überreste ihrer Art zuweisen zu können, suchten Zhang, Welker und ihre Kollegen in den Knochenfragmenten nach Proteinen. Dazu analysierten sie die Strukturproteine, also die Gerüststoffe im Gewebe von Lebewesen, im Speziellen das Kollagen. Je nach Tier ist das Kollagen anders aufgebaut. Auf diese Weise konnten die Forscher verschiedene Spezies identifizieren: besonders häufig Ziegenartige, wilde Yaks, Pferde und Tibetgazellen, aber auch Fleischfresser wie Wölfe und Füchse.

Fernblick auf Baishiya | Die Baishiya-Höhle befindet sich in einem Bergmassiv am Rand des Ganjia-Beckens.

Viele der Knochen – solche von Hyänen, Ziegen und Steinadlern (Aquila chrysaetos) – weisen Schnittspuren auf. Menschen hatten sie demnach zerlegt. Demzufolge jagten die Denisovaner auch Nager und Hasen; der Beinknochen eines Murmeltiers (Marmota) war aufgebrochen worden, wahrscheinlich, um an das Mark heranzukommen. Solche kleinen, schnellen Tiere ließen sich vermutlich nicht leicht einfangen, sagt Zhang. Und Raubtiere wie Hyänen zur Strecke zu bringen, verlange, unerschrocken auf die Jagd zu gehen.

Hoffnung auf alte DNA aus der Baishiya-Karsthöhle

Die Kollagenanalysen ergaben auch, dass eine in der Höhle frei gelegte Rippe zu einer Menschenform gehörte. Die Forscher sequenzierten darin mehr als 4500 Aminosäuren aus 21 Proteinen und stellten fest, dass die Sequenzen am ehesten mit denen eines Denisovaners aus Sibirien übereinstimmen. Einige der Tierknochen aus der Baishiya-Höhle enthalten zudem alte DNA, sagt Zhang. Die Archäologin hofft, dass auch die Rippe noch einige genetische Geheimnisse preisgeben wird. Denn DNA liefert in der Regel mehr Informationen über Verwandtschaften und evolutionäre Beziehungen als Proteine.

»Es ist offensichtlich, dass es sich um einen Denisovaner handelt«, davon ist der Paläoanthropologe Fabrice Demeter von der Universität Kopenhagen überzeugt, der nicht an der aktuellen Studie beteiligt war. Die Rippe lag in einer Schicht, die zwischen 48 000 und 32 000 Jahre alt ist. In diesem Zeitraum könnten die Denisovaner auf frühe Homo sapiens in Ostasien getroffen sein und sich mit ihnen vermischt haben – mit bis heute nachweisbaren Spuren im Erbgut vieler Asiatinnen und Asiaten.

Zerlegt | Zahlreiche Knochen, die sich in der Baishiya-Karsthöhle fanden, weisen Schnittspuren auf. Auch auf diesem Wirbelknochen einer Hyäne entdeckten die Fachleute eine eingeritzte Stelle. Offenbar hatte ein Mensch das Tier mit einem Schneidwerkzeug zerlegt.

»Könnte hier die Gegend gewesen sein, in der die Denisovaner zur menschlichen DNA beigetragen haben?«, fragt die Archäologin Samantha Brown von der Universität Tübingen. Für sie und andere Forscher birgt der Befund einige spannende Details. Denn offenbar hatten keine anderen Menschenformen außer den Denisovanern die Baishiya-Karsthöhle bewohnt. Der Fundort könnte demnach noch genauer zeigen, wie die Denisovaner lebten und sich an verschiedene Umgebungen anpassten. Fabrice Demeter und sein Team identifizierten 2022 einen Backenzahn als möglicherweise denisovanisch. Der Fund kam aus einer Höhle in Laos und bietet einen weiteren Vergleich.

Noch mehr Stätten der Denisovaner zu finden, könnte aber noch etwas dauern. Forscher haben lange gehofft, dass gut erhaltene Knochen und Zähne aus China – wie ein 150 000 Jahre alter Schädel aus Harbin, der unter dem Namen Drachenmensch bekannt ist – mit den Denisovanern in Verbindung gebracht werden könnten. Bislang ließen sich allerdings weder alte DNA noch Proteine aus diesen Funden sequenzieren. Dennoch ist dank neuer Gen- und Proteinanalysetechnologien mehr über die Denisovaner bekannt denn je, sagt Samantha Brown. Doch »momentan sind die Denisovaner für uns im Wesentlichen eine biomolekulare Population«.

Die Überreste, die Zhang und ihre Kollegen untersuchten, stammen aus Ausgrabungen, die vor der Pandemie in der Baishiya-Karsthöhle stattfanden. Inzwischen graben die Forscher wieder in der gigantischen Höhle – in der Hoffnung, weitere Erkenntnisse über das Leben der Denisovaner zu gewinnen. Zhang: »Wir sind noch nicht am Boden angekommen.«

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