Supraleitung: Hochtemperatur-Supraleiter sind doch nicht exotisch
Ein großes Rätsel der Physik ist vielleicht gar keins: Verräterische Magnetwirbel in einem keramischen supraleitenden Material auf Kupferbasis legen nahe, dass auch Supraleitung bei extrem hohen Temperaturen nach dem Bardeen-Cooper-Schrieffer-Mechanismus (BCS) funktioniert. Bisher nahmen die meisten Fachleute an, dass Materialien, die bereits bei Temperaturen über 100 Kelvin supraleitend werden, nicht mit dieser BCS-Theorie beschrieben werden können.
Dem widerspricht nun in den "Physical Review Letters" eine Arbeitsgruppe um Christoph Renner von der Universität Genf. Demnach zeigen auch die Hochtemperatursupraleiter bei der Wechselwirkung mit Magnetfeldern ein entscheidendes von der BCS-Theorie gefordertes Merkmal: Magnetische Feldlinien erzeugen im Supraleiter lokale nicht supraleitende Bereiche mit einer speziellen elektronischen Struktur. Dass in den Cupraten diese charakteristischen Zustände nicht aufzuspüren waren, galt bisher als deutliches Zeichen, dass solche Stoffe ihre außergewöhnliche Leitfähigkeit auf anderem Weg erhalten. Welcher das sein sollte, blieb aber unklar.
Ein Rätsel, das vielleicht gar keines ist
Zumindest dieses Rätsel könnte sich nun in Luft auflösen. Renner und sein Team maßen die elektronischen Eigenschaften von Abrikossow-Wirbeln im Hochtemperatursupraleiter YBa2Cu3O7−δ, genannt Y123. Und die erweisen sich als konsistent mit den Vorhersagen der BCS-Theorie. Nach dieser entstehen solche Wirbel, wenn ein äußeres Magnetfeld in einen Typ-II-Supraleiter eindringt: Die Feldlinien durchdringen das Material in eng begrenzten Zonen nicht supraleitenden Materials, um die ein supraleitender Strom kreist. Erst mit zunehmender Feldstärke wird das Material dann normal leitend.
In den 1960er Jahren erkannten drei Forscher, dass aus der BCS-Theorie eine bemerkenswerte Vorhersage folgt: Demnach sollten in den Kernen der Abrikossow-Wirbel nicht supraleitende Elektronen gefangen sein. Aus der Bindung an einen eng begrenzten Ort sollten Energiezustände hervorgehen, vergleichbar mit jenen, die die typischen Spektrallinien der verschiedenen Elemente erzeugen. Vor allem aber sind diese Caroli–de-Gennes–Matricon-Zustände eng mit den Eigenschaften der Cooper-Paare verknüpft – den durch Gitterschwingungen gebundenen Elektronenpaaren, auf denen Supraleitung nach dem BCS-Mechanismus basiert.
Dank des Rastertunnelmikroskops bestätigte sich diese Prognose 25 Jahre später. Die von der BCS-Theorie geforderten Zustände ließen sich anhand der Leitfähigkeit im Wirbelzentrum experimentell nachweisen. Die Ausnahme blieben ausgerechnet die interessantesten Supraleiter: jene kupferhaltigen Materialien, die bei den höchsten Temperaturen supraleitend werden. Auch in solchen Materialien gibt es Strudel, nie jedoch gelang es, die an den Wirbelkern gebundenen Caroli–de-Gennes–Matricon-Zustände bei ihnen zu messen. Die Supraleitung in diesen Stoffen, schlussfolgerten die meisten Fachleute, ließe sich deswegen nicht mit dem bewährten BCS-Mechanismus erklären.
Die Daten, die das Team um Renner nun präsentiert, bieten einen Ausweg aus dem Problem. Demnach gibt es die Zustände sehr wohl, doch der Anteil der tatsächlich supraleitenden Elektronen im Material ist gering und deswegen kaum zu messen. "Unsere Experimente zeigen, dass die Diskrepanz zwischen Theorie und Experiment auf einem anderen Beitrag zu den Messwerten beruht, der dominant ist und so die Signatur der Wirbel verbirgt", so Renner.
Versteckte Quantensignale
Dazu maßen die Forscher die lokale Leitfähigkeit des Festkörpers abhängig von der Spannungsdifferenz mit einem Rastertunnelmikroskop. Im Zentrum der Wirbel misst man theoretisch einen Peak im Spektrum der Leitfähigkeit abhängig von der Messspannung. Und wenn man erst einmal die viel stärkeren Signale der nicht supraleitenden Elektronenzustände herausgefiltert hat, sollte das auch bei den Cupraten der Fall sein, mutmaßten die Forscher.
Der Schlüssel dazu ist die plausible Annahme, dass sich die supraleitenden und nicht supraleitenden Beiträge einfach addieren und sich nicht gegenseitig beeinflussen. Dann nämlich kann man die Leitfähigkeit über einen Bereich des Festkörpers messen – stößt man auf Inhomogenitäten, die auf Abrikossow-Wirbel hinweisen, zieht man einfach die Messwerte innerhalb des Wirbels von jenen außerhalb des Wirbels ab. Der Beitrag der nicht supraleitenden Elektronen sollte über diese nur wenige Nanometer messende Distanz nicht schwanken, so dass die übrig bleibende Differenz allein von den Wirbeln und den Caroli–de-Gennes–Matricon-Zuständen im Vortexkern herrührt. "Das Schöne an unserer Methode ist, dass wir nun eine perfekte Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment haben", freut sich Renner, "und das ganz ohne aufwändige Datenanalyse."
Auf diesem Weg identifizierten Renner und sein Team in YBa2Cu3O7−δ auf einer Fläche von 90 mal 90 Nanometern insgesamt 19 Wirbelkerne. Deren Spektren gehorchen der BCS-Theorie, so dass die Arbeitsgruppe sie als die lange gesuchten Caroli–de-Gennes–Matricon-Zustände identifiziert. Ob das stimmt, sei aber noch nicht gesagt, warnen Can-Li Song und Qi-kun Xue von der Tsinghua University Peking in einem Beitrag für "APS Physics": So müsse unter anderem noch geprüft werden, ob sich die Leitfähigkeit supraleitender und nicht supraleitender Zustände tatsächlich in der von Renner angenommenen Weise überlagert.
Aber auch wenn sich der Befund von Renner und seinem Team bewahrheitet, bleiben die Hochtemperatursupraleiter mysteriös. Was sich an bemerkenswerten Eigenschaften unter dem "Rauschen" der nicht supraleitenden Elektronen verbirgt, ist noch kaum erforscht. Und bisher gibt es sogar für das entscheidende Merkmal der Supraleitung keine echte Erklärung: Bei so hohen Temperaturen sollte die Kopplung zwischen Elektronen über Gitterschwingungen unterdrückt sein – warum sich trotzdem Cooper-Paare bilden, ist noch völlig rätselhaft.
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