Denisovaner: Höhenflug der Steinzeitmenschen
»Der Unterkiefer auf dem Bild konnte unmöglich zu einem modernen Menschen gehören, die Backenzähne waren viel zu groß, und ein Kinn fehlte auch«, erinnert sich Jean-Jacques Hublin. Eigentlich war der Frühmenschenforscher vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) zum Tauchurlaub am Mittelmeer. Dort erhielt er die Mail eines chinesischen Kollegen von der Lanzhou-Universität in Tibet. Der versteinerte, uralte Unterkiefer auf dem Bild im Anhang hatte sehr verblüffende Eigenschaften, die nicht nur den Forscher von der Lanzhou-Universität, sondern auch alle bereits vorher gefragten Kollegen vor ein Rätsel stellten. Vielleicht könnte Jean-Jacques Hublin helfen?
Zumindest einen Teil des Rätsels löste der französische Frühmenschenforscher tatsächlich schon anhand des Bildes: Bisher waren in Tibet keine menschlichen Überreste gefunden worden, die älter als 40 000 Jahre waren, alle Funde dort waren daher dem modernen Menschen Homo sapiens zugeordnet worden. Der Unterkiefer auf dem Bild konnte jedoch nicht zu einem modernen Menschen gehören. Zu welcher Linie aber passte er dann?
Geheimnisvolle Denisovaner
In Jean-Jacques Hublin keimte ein Verdacht: Im Dezember 2009 hatten seine EVA-Kollegen Svante Pääbo und Johannes Krause ein kaum zwei Zentimeter langes Fingerknöchelchen untersucht, das russische Kollegen in der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge im Süden Sibiriens gefunden hatten. Äußerlich unterscheidet sich das Fragment aus der Kuppe des kleinen Fingers eines Jugendlichen kaum vom gleichen Knochen eines modernen Menschen oder eines Neandertalers. Als Johannes Krause, der inzwischen in Jena Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte und Professor an der Universität Tübingen ist, das Erbgut aus 30 Milligramm Knochenmehl analysierte, passte es aber weder zu uns modernen Menschen noch zu den längst ausgestorbenen Neandertalern. Es war die DNA einer bislang unbekannten dritten Art: der nach ihrem Fundort benannten Denisova-Menschen. Zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte hatten Forscher eine neue Frühmenschenlinie nicht mit Hilfe von Fossilien entdeckt, sondern durch Erbgutanalysen.
Nicht nur in Fachkreisen schlug diese Entdeckung ein wie eine Bombe. Es folgten rasch neue Entdeckungen über das Leben der Denisovaner und ihre Verwandtschaft zum modernen Menschen. Doch bei all dem blieben sie bis heute geheimnisumwittert. Lediglich wenige Zähne und das beschriebene Fingerglied wurden bislang gefunden, und dies zudem ausschließlich in der Denisova-Höhle im Altai-Gebirge. »In dieser Höhle nagten an den Überresten verstorbener Menschen offensichtlich sehr häufig Raubtiere und Aasfresser, die nur kleine Reste wie Zähne und Fragmente von Knochen übrig ließen«, erklärt Hublin. Aus solchen Miniteilchen können die Forscher jedoch kaum ein Phantombild der Denisovaner rekonstruieren. Das aber erschwert die Suche nach weiteren Fossilien der neuen Menschenlinie enorm.
Ein Zufallsfund
Wo sonst nichts hilft, hilft manchmal nur der Zufall weiter: Auf dem Foto aus Tibet fielen Hublin vor allem die sehr großen Zähne auf. Er fühlte sich an die Zähne aus der Denisova-Höhle erinnert. Auch sie stechen mit ihren riesigen Ausmaßen hervor. Lebten die Denisovaner einst also auch auf dem Hochland von Tibet?
Einen Hinweis darauf gab es schon länger – in Form eines Gens mit dem Namen EPAS1. Es hilft den heutigen Bewohnern des tibetischen Hochplateaus, mit der dünnen Luft fertigzuwerden. Erbgutvergleiche zeigten, dass es keine »Eigenentwicklung« ist. Stattdessen haben es die Vorfahren der heutigen Tibeter vor sehr langer Zeit von den Denisovanern übernommen. Der Schluss liegt nahe, dass diese sich ihrerseits selbst einmal an das Leben in großer Höhe angepasst hatten. Und wo, wenn nicht in Tibet, sollte diese Anpassung stattgefunden haben?
Dass also eines Tages in Tibet ein Denisova-Fossil auftauchen würde, hätte man ahnen können. Nicht aber, dass es schon seit Jahrzehnten in einer Schublade liegt.
Genau dort, in einer Sammlung der Lanzhou-Universität, fanden es nämlich die Frühmenschenforscher Fahu Chen und Dongju Zhang. Sie können seine Spur bis in das Jahr 1980 zurückverfolgen. Damals holten Mönche aus der 3280 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Baishiya-Karsthöhle in Xiahe in Tibet Fossilien, die sie später zu Knochenmehl mahlten, das für traditionelle Heilmittel Verwendung fand. Der Unterkiefer mit den großen Zähnen schien einem der Mönche offensichtlich zu wertvoll, um ihn einfach zu zermahlen. Er schenkte das Fossil Jigme Tenpe Wangchug, der im Kloster Labrang als sechste Wiedergeburt des buddhistischen Meisters Gungthang lebte und lehrte. Dieser wiederum gab den Unterkiefer vor seinem Tod im Jahr 2000 der Lanzhou-Universität.
Eine radioaktive Uhr
Seit dem Jahr 2010 untersuchen Fahu Chen und Dongju Zhang die Baishiya-Karsthöhle, die am Fuß einer mehr als 100 Meter hohen Felswand liegt. Dort haben sie inzwischen eine ganze Reihe weiterer Fossilien entdeckt, konnten allerdings bisher nicht feststellen, wo genau in der Höhle der Unterkiefer mit den großen Zähnen gefunden wurde. Dieser exakte Fundort hätte den Forschern wichtige Zusatzinformationen liefern können.
»Zum Glück hat allerdings niemand die Kalkschicht abgekratzt, die sich im Lauf der Zeit auf dem Unterkiefer abgelagert hatte«, sagt Hublin. Daher konnte Chuan-Chou Shen von der Abteilung für Geowissenschaften der Nationaluniversität von Taiwan in dieser Kalkschicht die Isotope untersuchen, die beim radioaktiven Zerfall des natürlicherweise im Kalk enthaltenen Urans entstehen. Mit Hilfe dieser »atomaren Uhr« bestimmte der Forscher das Alter der Kalkschicht auf 160 000 Jahre. Der davon eingehüllte Unterkiefer muss demnach mindestens genauso alt sein, er könnte aber auch noch älter sein. Menschen hatten es daher schon viel früher als bisher bekannt gelernt, in solchen Höhen zu leben, in denen die Wintertemperaturen eisig und der Sauerstoff Mangelware ist.
Proteine statt Erbgut
»Leider konnten wir aus dem Knochen oder den Zähnen kein Erbgut isolieren, das uns rasch verraten hätte, zu welcher Menschenlinie dieser Unterkiefer gehört«, berichtet Jean-Jacques Hublin. In solchen Fällen bittet der Frühmenschenforscher gern Frido Welker um Hilfe, der von 2013 bis 2016 am EVA promoviert hat und inzwischen an der Universität Kopenhagen forscht. Der Niederländer hat sich auf die Analyse alter Proteine spezialisiert.
»Für meine Untersuchungen brauche ich mit 10 bis 20 Milligramm nur sehr wenig Material«, erklärt Welker. Leider fand der Forscher im Pulver aus dem Unterkiefer keine verwertbaren Proteine. Erheblich besser war die Situation dagegen bei einem Backenzahn. Zwar hatte der Zahn der Zeit auch dort die Proteine bereits erheblich zersetzt. Für Frido Welker aber ist das ein gutes Zeichen: »Diese Zersetzung zeigt, dass es sich wirklich um altes Material handelt und nicht etwa um eine Verunreinigung aus jüngster Vergangenheit«, erklärt er. Aus dem Mehl eines winzigen Teils des Backenzahns fischte er Bruchstücke von insgesamt acht verschiedenen Strukturproteinen, so genannten Kollagenen. Normalerweise bestehen sie aus Ketten von einigen hundert bis wenigen tausend Aminosäuren. In Welkers Proben waren sie zu Restchen von gerade einmal 15 bis 20 Aminosäuren Länge zerstückelt. Trotzdem gelang es ihm, die Ursprungsform der Proteine zumindest teilweise zu rekonstruieren.
Bingo
Kennt man die DNA einer Art, weiß man auch, wie die entsprechenden Kollagene aussehen. Kennt man die Kollagene, kann man auf die zugehörige DNA zurückrechnen. Und genau das taten die Forscher nun für die Proben aus dem Backenzahn. »Bingo«, sagt Hublin: Sie passte am ehesten zu der eines Denisovaners.
Das Ergebnis publizierten sie gemeinsam mit den Forschern aus Tibet im Fachmagazin »Nature«. »Ein Glücksfall« sei der Fund, freut sich der Wissenschaftler. Denn mit Hilfe des Unterkiefers gelingt es vielleicht, weitere Funde aus Asien neu zu interpretieren. So fanden Forscher in China nicht nur Millionen Jahre alte Fossilien von Homo erectus und wesentlich jüngere des modernen Menschen Homo sapiens, sondern auch noch Knochen einer weiteren, dritten Gruppe, die sie bisher nicht so recht einordnen konnten. »Viele Vertreter aus dieser Gruppe könnten in der Zeit zwischen Homo erectus und dem modernen Menschen gelebt haben«, erklärt Hublin.
Nun lässt sich möglicherweise ermitteln, ob es sich ebenfalls um Denisovaner oder deren nahe Verwandte gehandelt hat. »Vor wenigen Jahren fanden Fischer vor Taiwan in ihren Netzen, die sie aus dem Chinesischen Meer zogen, einen weiteren Unterkiefer, der dem aus Tibet verblüffend ähnelt«, berichtet Jean-Jacques Hublin. Die Chancen könnten also nicht schlecht stehen, bald weitere Denisovaner dingfest zu machen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.