Direkt zum Inhalt

Höhlenexperiment: Wie völlige Isolation das Zeitgefühl verformt

Als Beatriz Flamini nach 500 Tagen aus einer Höhle stieg, war sie davon überzeugt, dort nicht mehr als 170 Tage verbracht zu haben. Ein Phänomen, das sich psychologisch erklären lässt.
Beatriz Flamini verlässt nach 500 Tagen eine Höhle in der südspanischen Provinz Granada.
Mitte April 2023, nach 500 Tagen, verlässt die Extremsportlerin Beatriz Flamini eine Höhle in der südspanischen Provinz Granada. Der Aufenthalt in völliger Isolation wirkte sich auch auf ihr Zeitgefühl aus.

Eineinhalb Jahre allein in einer Höhle zu verbringen, erscheint vermutlich vielen Menschen wie ein Albtraum. Anders erging es der spanischen Extremsportlerin Beatriz Flamini. Sie kam nach 500 Tagen mit einem fröhlichen Grinsen aus einer Höhle in der südspanischen Provinz Granada und sagte, sie habe nun mehr Zeit gehabt, ihr Buch abzuschließen.

Während ihrer beeindruckenden Ausdauerleistung hatte sie fast keinen Kontakt zur Außenwelt. Mehr als 16 Monate lang dokumentierte sie ihre Erfahrungen, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu helfen, die Auswirkungen extremer Isolation zu verstehen.

Beim Verlassen der Höhle am 12. April 2023 wurde ihr als eines der ersten Dinge klar, wie veränderlich und formbar Zeit ist – die eigenen Persönlichkeitsmerkmale und die Menschen um einen herum prägen diese nämlich stärker als eine tickende Uhr. Als Flamini mit Reportern über ihre Erfahrungen sprach, sagte die Bergsteigerin, dass sie ziemlich rasch ihr Zeitgefühl verloren habe. Der Effekt war extrem: Als ihr Betreuungsteam kam, um sie aus der Höhle zu holen, sei Flamini überrascht gewesen, dass ihre Zeit bereits abgelaufen sei – sie dachte, sie hätte erst 160 bis 170 Tage im Untergrund verbracht.

Warum verlor Flamini ihr Zeitgefühl?

Unsere Handlungen und Emotionen, aber auch Veränderungen in unserer Umgebung können sich stark auf die Art und Weise auswirken, wie unser Gehirn Zeit verarbeitet. Den meisten Menschen vermittelt der Auf- und Untergang der Sonne, dass die Tage vergehen; und den Verlauf der Stunden lassen Arbeit und alltägliche Routinen erkennen. In der Dunkelheit einer unterirdischen Höhle, ohne die Gesellschaft anderer, verschwinden viele Merkmale, die das Vergehen der Zeit signalisieren. Flamini musste sich also womöglich stärker auf psychologische Mechanismen verlassen, um die Zeit im Blick zu behalten, als sie es vom alltäglichen Leben kannte.

Eine Möglichkeit, den Lauf der Zeit zu verfolgen, bietet unser Gedächtnis. Wenn wir nicht wissen, wie lange wir etwas getan haben, greifen wir auf die Anzahl unserer Erinnerungen zurück, die wir während eines Ereignisses gebildet haben. Diese liefern einen Hinweis darauf, wie viel Zeit verstrichen ist. Je mehr Erinnerungen wir an ein Ereignis oder eine Zeitspanne haben, desto länger dauerte sie unserer Meinung nach an. In der Regel ist es nämlich so: Ereignisreiche Tage und Wochen mit vielen neuen und aufregenden Geschehnissen bleiben Menschen eher als lange Zeiträume in Erinnerung; wir nehmen sie zudem als sehr viel länger wahr als eintönige Tage, in denen nichts Besonderes passierte.

Weil Flamini der soziale Austausch mit Menschen fehlte und sie nichts über ihre Familie oder aktuelle Geschehnisse erfuhr (der Krieg in der Ukraine, der Wegfall der Corona-Regeln und Lockdowns), reduzierte sich während ihrer Isolation vermutlich die Zahl an Erinnerungen erheblich. Flamini sagte es selbst: »Ich stecke noch immer im 21. November 2021 fest. Ich weiß nichts über die Welt.« An diesem Tag begann ihr Höhlenaufenthalt.

Der Verlust des Zeitgefühls zeigt womöglich auch, dass im Höhlenleben Zeit an sich weniger wichtig ist. Bewegen wir uns in der Außenwelt, vermittelt vielen von uns die Hektik des modernen Daseins und der soziale Druck, keine Zeit zu verschwenden, dass wir uns in einem ständigen Zustand von Zeitstress befinden. Die Uhr wird dann zu einem Gradmesser dafür, wie produktiv und erfolgreich wir als Erwachsene sind.

Was Höhlen, Gefängnisse und Pandemien gemeinsam haben

Flamini ist nicht die Erste, die nach einem Umgebungswechsel eine Veränderung ihres Zeitempfindens erlebte. Über ähnliche Erfahrungen berichtete der französische Wissenschaftler Michel Siffre, als er in den 1960er und 1970er Jahren erst zwei und dann sechs Monate in Höhlen verbrachte. Einen Verlust des Zeitgefühls schilderten auch Erwachsene und Kinder, die auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs längere Zeit isoliert im Atombunker zubrachten (zu Forschungszwecken). Menschen, die eine Haftstrafe verbüßten, berichteten häufig dasselbe. Und ebenso ging es der Öffentlichkeit während der Lockdowns in der Corona-Pandemie.

Höhlen, Atombunker, Gefängnisse und globale Pandemien haben zwei Merkmale gemeinsam, die zu einem veränderten Zeitgefühl führen können: Sie isolieren uns von der Außenwelt, und sie grenzen uns ein auf engsten Raum. Flamini hingegen lebte einfach vor sich hin – ohne Termine. Es gab keine beruflichen Konferenzen, auf die sie sich hätte vorbereiten müssen, und keine anderen Termine, die sie hätte wahrnehmen oder organisieren müssen. Sie führte ein selbstbestimmtes Leben, in dem sie essen, schlafen und lesen konnte, wie und wann sie wollte. Sie beschäftigte sich mit Malen, Sport und dem Dokumentieren ihrer Erlebnisse. All das könnte den Lauf der Zeit für sie bedeutungslos gemacht haben.

Starker Wille kann das Zeitgefühl verändern

Weil biologische Rhythmen wie Schlaf, Durst und Verdauung solche Termine ersetzten, die sonst von der Uhrzeit bestimmt werden, achtete Flamini vielleicht immer weniger auf den Lauf der Zeit – bis sie ihn schließlich ganz aus den Augen verlor. Dass sie sich von der Zeit frei machen konnte, wurde womöglich durch ihren Willen verstärkt, das gesetzte Ziel von 500 Tagen zu erreichen. Schließlich hatte sie freiwillig beschlossen, in die Höhle zu ziehen – sie hätte den Ort jederzeit verlassen können, wenn sie gewollt hätte.

Für Menschen hingegen, die gegen ihren Willen eingesperrt werden, kann die Zeit selbst zu einem Gefängnis werden. Kriegsgefangene und Gefängnisinsassen berichten oft, dass sie geradezu obsessiv den Verlauf der Zeit im Auge behalten. Es scheint, dass wir uns nur dann wirklich von der Zeit losketten können, wenn wir die Kontrolle über sie haben.

Flaminis Erfahrungen erscheinen verlockend – selbst einmal der Zivilisation zu entsagen und in eine Höhle zu gehen. Doch das Leben unter der Erde ist nichts für schwache Nerven. Denn dort zu überleben, hängt von der Fähigkeit ab, ein hohes Maß an psychischer Resilienz aufrechterhalten zu können. Wer also über die Fähigkeit verfügt, in schwierigen Situationen ruhig und gelassen zu bleiben, wer fest davon überzeugt ist, sein Verhalten steuern zu können – auch bekannt als internale Kontrollüberzeugung –, und wer sich leicht in seine eigenen Gedanken vertiefen kann, der oder die bringt möglicherweise genügend innere Stärke mit, um einen Daueraufenthalt in der Höhle erfolgreich zu überstehen. Angesichts dessen fällt es Ihnen aber vielleicht leichter, einfach die Benachrichtigungen auf Ihrem Handy auszuschalten, keine Termine zu vereinbaren und sich ein wenig Zeit für sich selbst zu nehmen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.