Holdout: Die japanischen Soldaten, die das Kriegsende verpassten
Als sie die Schüsse fallen hörten, flohen die Bauern von den Reisfeldern. Zwei dunkle Gestalten hatten ihre Gewehre abgefeuert und schlüpften nun aus dem Dschungel. Der eine legte Feuer an den Reisbüscheln am Feldrand, während sein Begleiter die hastig zurückgelassenen Habseligkeiten der Feldarbeiter einsammelte. »Keine schlechte Ausbeute«, dachte er. Zwei große philippinische Bolo-Messer, ein paar Zigaretten, Streichhölzer und Kaffee steckte er ein.
»Glaubst du nicht, dass die Polizei gleich da sein wird?«, fragte sein Begleiter. Sie näherten sich dem letzten Reishaufen. »Diese Idioten kommen uns immer in die Quere«, entgegnete der andere. »Lass uns noch diesen letzten abbrennen und dann abhauen.« Doch erneut krachten Schüsse. Die beiden Männer sprangen in Deckung. Während der eine noch drei, vier Schüsse aus dem 35 Jahre alten Repetiergewehr abgab, blieb der andere tödlich getroffen liegen, seine Brust färbte sich rot. »Dafür werden sie bezahlen! Dafür kriege ich sie ran! Ich töte sie, töte sie, töte sie!«, schrie der überlebende Angreifer, als er in den Wald flüchtete.
Für die Feldarbeiter auf der Insel Lubang, die etwa 120 Kilometer südwestlich der philippinischen Hauptstadt Manila liegt, war der am 19. Oktober 1972 getötete Mann nur ein Bandit. Zusammen mit anderen Verbrechern hatte er seit Jahrzehnten die Gegend unsicher gemacht, geplündert, aus dem Hinterhalt auf Unbewaffnete geschossen und viel der hart erarbeiteten Ernten vernichtet. Endlich hatten sie einen der »Teufel der Berge« erwischt.
Doch schnell verbreitete sich die Nachricht, dass es sich bei dem Toten nicht um einen einfachen Kriminellen gehandelt hatte, sondern um einen japanischen »Holdout«: Es war der Obergefreite Kinshichi Kozuka. Er sollte der letzte kaiserlich-japanische Soldat sein, der in der Überzeugung fiel, im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen – mehr als 27 Jahre, nachdem Japan den Krieg verloren hatte.
Versprengte Soldaten kämpften weiter für Japan
Holdouts wie Kozuka waren Soldaten, die nicht über die Kapitulation Japans am 2. September 1945 informiert wurden oder dieser Nachricht misstrauten. Wie viele es von ihnen zum Kriegsende in den von Japan besetzten Gebieten und auf den weit verstreuten Inseln im Südostpazifik gegeben hat, ist nicht genau bekannt. Doch Berichten zufolge tauchten bis in die 1950er Jahre in entlegenen Dschungelgebieten immer wieder japanische Soldaten auf.
Neun Monate vor Kozukas Tod hatte man auf Guam im Westpazifik den Unteroffizier Shōichi Yokoi (1915–1997) gefangen genommen. Zwei Fischer hatten ihn zufällig in seinem Erdloch aufgespürt, in dem er seit der Invasion der US-Amerikaner 1944 hauste. Fast hätten ihn die Fischer getötet. »Einer der beiden schlug Yokoi bewusstlos und hätte ihn erschossen, wenn ihn sein Kompagnon nicht zurückgehalten hätte«, schreibt der Japanexperte Yoshikuni Igarashi in seinem Buch »Homecomings – The Belated Return of Japan's Lost Soldiers«. Der Geschichtsprofessor von der Vanderbilt University in Nashville hat sich intensiv mit dem Schicksal der auch als »stragglers«, als Nachzügler, bezeichneten Holdouts beschäftigt. Seiner Ansicht nach wollte der Fischer Yokoi töten, weil er ihn »als Feind sah« – denn japanische »stragglers« hatten zuvor Verwandte von ihm getötet.
Nach Kozukas Tod auf der Insel Lubang ging man davon aus, dass es sich bei seinem geheimnisvollen Begleiter um den seit Langem verschollenen Leutnant Hirō Onoda (1922–2014) handeln könnte. Im Alter von gerade einmal 22 Jahren war er Ende 1944 mit einem Spezialauftrag nach Lubang entsandt worden. Auf der Insel, die nur etwas größer ist als Sylt, sollte er einen Guerillakrieg gegen die herannahenden US-Amerikaner führen. Als die GIs im Februar 1945 Lubang innerhalb von vier Tagen überrannten, zog sich Onoda mit drei weiteren versprengten Soldaten in den Dschungel zurück.
Im Jahr zuvor hatte er eine kurze, aber intensive Ausbildung im Guerillakampf absolviert. Sein Vorgesetzter, Major Yoshimi Taniguchi, hatte ihm vor der Abreise nach Lubang den Auftrag erteilt, unbedingt am Leben zu bleiben. Suizid zu begehen, war ihm per Befehl untersagt: »Drei Jahre, fünf Jahre, du musst durchhalten – ›hold out‹«, hatte ihm Taniguchi eingetrichtert. »Wir werden zu dir zurückkommen und dich holen. Bis dahin halte durch, auch wenn du Kokosnüsse essen musst.«
Die Holdouts blieben standhaft
Die vier Männer auf Lubang hielten durch. Flugblätter, die den Waffenstillstand am 15. August 1945 und kurz darauf die bedingungslose Kapitulation Japans verkündeten, deuteten sie als geschickte Täuschungen. Man wolle sie nur dazu bringen aufzugeben. Auch die wenigen Berichte, die sie in Zeitungen gelesen haben, wähnten sie als Falschnachrichten und alliierte Propaganda. Sie gaben ihren einsamen Guerillakrieg nicht auf und tyrannisierten die Inselbewohner weiter, die längst in der Nachkriegsordnung angekommen waren.
Erst Anfang 1950 verließ einer der vier Soldaten die Gruppe – er »desertierte«, wie seine Kameraden vermerkten. Er ergab sich dem philippinischen Militär und bezeugte, dass sich auf Lubang noch drei weitere Holdouts versteckten. Suchtrupps konnten jedoch keinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort finden. Vier Jahre später kam es dann zu einem Feuergefecht zwischen den übrig gebliebenen Guerillakämpfern und einer Einheit der philippinischen Armee, bei der ein weiterer Holdout erschossen wurde. Onoda und Kozuka konnten nicht gestellt werden. Man nahm an, dass sie bei dem Kampf verwundet wurden und im Dschungel gestorben seien. 1959 erklärte man sie offiziell für tot.
Als die philippinischen Behörden 1972 den Toten am Rand des Reisfelds als Obergefreiten Kozuka identifizierten, ahnten sie, dass der flüchtige zweite Täter Leutnant Onoda sein könnte. Es begann eine monatelange Suchaktion. Die japanische Regierung entsandte einen knapp 100 Mann starken Erkundungstrupp. Auch Onodas Familie half. Von Hubschraubern aus beschallten seine Verwandten mit Lautsprechern den dichten Dschungel: »Onoda, deine Mission ist erfüllt.«
Auf der Suche nach Onoda, einem wilden Panda und dem Yeti
Doch Onoda blieb verschollen. Erneut ging man davon aus, dass er bei dem Feuergefecht am Rand des Reisfelds tödlich verwundet worden war. Im April 1973 stellten die Behörden die Suche endgültig ein. Die japanische Presse diskutierte Onodas Schicksal jedoch weiter. Das machte den jungen Hochschulabbrecher Norio Suzuki (1949–1986) auf die Geschichte des geheimnisvollen Holdouts aufmerksam. Nach einem Rucksack-Trip durch Südostasien erklärte er seinen Freunden, er werde drei Dinge im Leben finden: »Onoda, einen wild lebenden Panda und den Yeti, und zwar in dieser Reihenfolge.«
Suzuki reiste 1974 in den Dschungel nach Lubang, baute sein Zelt auf, drapierte eine japanische Flagge darüber und wartete. Nur fünf Tage später stand Onoda, sein Gewehr im Anschlag, wahrhaftig vor ihm. Das Foto der beiden ging um die Welt. Onoda erklärte später, dass für ihn »dieser Hippiejunge Suzuki auf die Insel gekommen sei, um sich die Gefühle eines japanischen Soldaten anzuhören«. Weil Suzuki auf Onoda friedlich wirkte, näherte sich der Soldat dem jungen Japaner, blieb aber misstrauisch. Er würde erst dann seine Waffen niederlegen, wenn ihm sein Vorgesetzter Taniguchi dies direkt und mündlich befehlen würde. Dieser hatte ihn 29 Jahre zuvor nach Lubang entsandt.
Suzuki machte den einstigen Major ausfindig und zeigte ihm das gemeinsame Foto mit Onoda. Damit konnte er belegen, dass der Soldat noch lebte. Zusammen kehrten sie nach Lubang zurück, wo Taniguchi Onoda den schriftlichen Befehl verlas, alle Kampfhandlungen einzustellen. Gefragt, warum er weitergekämpft habe, obwohl seine kleine Truppe doch einige Hinweise erhalten habe, dass der Krieg zu Ende sei, erklärte Onoda: »Es gab keine Bestätigung, dass er wirklich vorbei war. Es gab keinen Befehl, den Kampf einzustellen. Ich überlebte, nicht weil mir mein Leben lieb war, sondern weil ich den Befehl erhalten hatte, nicht zu sterben.«
Angst und Zweifel, ob der Krieg zu Ende war
Als der Holdout Yokoi von Guam in Tokio eintraf, erklärte er, es sei ihm entsetzlich peinlich, lebend nach Japan zurückzukehren. Einerseits zweifelte er wie Onoda daran, dass der Krieg tatsächlich vorüber war, andererseits hatte er wohl Angst, als Kriegsgefangener eine ähnliche Behandlung wie seine Gegner zu erleiden. Denn keine 100 Kilometer entfernt von Lubang, auf der anderen Seite der Bucht von Manila, starben im April 1942 beim Todesmarsch von Bataan tausende US-amerikanische und philippinische Kriegsgefangene. Auch der Leichnam des 1972 getöteten Kozuka wies mehrere Verstümmelungen auf, die ihm nach seinem Tod von den wütenden Bauern zugefügt worden waren.
Onoda durfte unbehelligt davonziehen. In einer symbolischen Zeremonie überreichte er sein Militärschwert dem philippinischen Diktator Ferdinand Marcos (1917–1989), der es ihm sogleich zurückgab und ihn mit militärischen Ehren entließ. Obwohl Onoda auf Lubang mehr als 30 Menschen ermordet, über 100 verletzt sowie mehr als 1000-fachen bewaffneten Raub begangen hatte, wurde er amnestiert. Japanexperte Igarashi kritisiert dies mit deutlichen Worten: »Ob sie sich des Kriegsendes bewusst waren oder nicht, die Verletzung und Tötung von Zivilisten durch Onoda und seine Männer sollte unter die Kategorie der Kriegsverbrechen fallen.«
Gehorsame Soldaten oder mörderische Männer?
Onoda verteidigte sich damit, Befehle befolgt zu haben. Der Ghostwriter seiner Autobiografie »No Surrender – My Thirty-year War« erklärte später, dass das Buch einzig und allein dazu dienen sollte, die Taten Onodas auf Lubang zu rechtfertigen. Nachdem japanische Journalisten Hinterbliebene von seinen Opfern befragt und ihre Recherchen öffentlich gemacht hatten, entlarvten sie Onoda »und stellten ihn als mörderischen ›straggler‹ dar, der die Einheimischen terrorisiert hatte«, erklärt Igarashi.
Doch für viele Japaner stellte Onoda das Paradebeispiel eines loyalen kaiserlichen Soldaten dar. »Der Spiegel« beschrieb ihn bei dessen Ankunft in Tokio als »Neuzeit-Samurai« , der »mit peinlichst getrimmten Kopf- und Barthaaren, sorgfältig geputzten Waffen und fachgerecht geflickter Uniform« auftrat. »Obwohl schmächtig«, meinte ein US-Journalist, »sieht er aus wie der strenge, leicht pompöse japanische Armeeoffizier vergangener Zeiten.« Onoda war das Gegenteil des abgezehrten Yokoi, den man zwei Jahre zuvor aus seinem Erdloch gezogen hatte. Er sei ein »Held«, meinte die japanische Wochenzeitschrift »Shūkan Bunshun« und nannte Onoda den »schönsten Japaner der Nachkriegszeit«.
Dass der Mann auch ein Teil der eigenen gewaltvollen Geschichte war, blendete das Japan der Nachkriegszeit aus. Dennoch rief Onoda die Erinnerung an ein Land wach, das nach 1945 die eigenen Verbrechen nur oberflächlich aufgearbeitet hatte. Für beide Seiten, für Onoda wie für Japan, war die Begegnung deshalb auch ein Schock. Der einstige Soldat wanderte noch im Jahr seiner Rückkehr nach Brasilien aus. »Seine Beweggründe«, schreibt Historiker Igarashi, »waren seine Wut auf die japanische Gesellschaft und die schmerzliche Erkenntnis, dass er darin keinen Platz mehr hatte.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.