Homo erectus: Ein neues Gesicht
"Faszinierend", "eine Sensation", "wunderschön" – die sonst so diskussionsfreudigen Urmenschenforscher sind ausnahmsweise einmal einer Meinung: Dieser Fund verdient alle diese Prädikate. Was das Forscherteam um den Georgier David Lordkipanidze heute der Öffentlichkeit präsentiert, ist der erstaunlich gut erhaltene Hirnschädel eines 1,8 Millionen Jahre alten ausgewachsenen Frühmenschen [1]. Es gibt kaum Vergleichbares aus dieser Zeit.
Am 5. August 2005, just am Geburtstag ihres Chefs, hatte das Team um Lordkipanidze das Fossil entdeckt. Schnell stellte sich heraus, dass es exakt zu einem bereits im Jahr 2000 an derselben Stelle gefundenen Unterkiefer passt. Das Gesicht, das der nun komplette Schädel dem frühen Homo verleiht, schaut deutlich anders aus als gedacht: Mit seinen starken Überaugenwülsten, dem kräftigen Kauapparat, vor allem aber wegen seines affenartig weit vorspringenden Kiefers wirkt es noch sehr archaisch. Sein kleines Gehirn rangiert am unteren Ende der Spanne bisheriger Homo-Schädel.
"Im Grunde genommen ist das ein primitives Gesicht", sagt Yoel Rak, Koautor der Veröffentlichung dem Magazin "Science" [2]. Ein anatomisch gesehen eindeutig menschliches zwar, aber eines, das noch ganz am Anfang der Entwicklung unserer Gattung steht.
Das wirklich Besondere an "Schädel 5", wie die Forscher ihn bezeichnen, ist jedoch nicht nur sein Erhaltungszustand. Sondern, dass er nicht allein ist. Bereits vier weitere Individuen tauchten in der reichen Fossilienlagerstätte Dmanisi auf, rund 100 Kilometer von der georgischen Hauptstadt Tiflis entfernt. Seit Anfang der 1990er Jahre fördern Wissenschaftler dort neben Steinwerkzeugen zahlreiche Fossilien zutage – außer den menschlichen Knochen auch allerlei andere Tiere, die sich wohl um ein nahe gelegenes Gewässer scharten.
Homo erectus, der frühe Wanderer
Die Gruppe aus Dmanisi gehört zu einer Art, die sich am ehesten als früher Homo erectus bezeichnen lässt und die in Georgien auftaucht, kaum dass sich ihre ersten Vertreter in Afrika dingfest machen lassen. Eine noch sehr rudimentäre Werkzeugtechnologie ermöglichte es ihnen, sich ausreichend Fleisch zu verschaffen, vielleicht sogar, indem sie selbst auf Jagd gingen. Und offenbar waren sie sehr wanderlustig: Noch weit in Ostasien haben Wissenschaftler ihre Überreste entdeckt. Wie der jetzt präsentierte Schädel zeigt, bedurfte es dazu allerdings keines sonderlichen großen Gehirns.
Die fünf Menschen aus dem heutigen Georgien müssen nahezu zeitgleich, das heißt höchstens im Abstand weniger Jahrhunderte, in die Grube geraten sein – ob als Beute von Raubtieren oder durch eine Flut, ist offen. Bedenkt man nun, welch riesige Lücken in Raum und Zeit sonst zwischen den frühmenschlichen Fossilien klaffen, ist dies ein einzigartiger Glücksfall für die Wissenschaft.
"Wir können dadurch zumindest im Ansatz erkennen, wie eine echte Gruppe ausgestorbener Menschen tatsächlich aussah", sagt Katerina Harvati, Paläoanthropologin an der Universität Tübingen. "Die Funde vermitteln uns ein Bild der Varianzbreite, die es offenbar in solchen Gemeinschaften gegeben hat." Nur in der ebenfalls sehr reichen Fundstätte Sima de los Huesos im spanischen Atapuerca gibt es ein vergleichbar komplettes Panoptikum, das allerdings nicht einmal halb so alt ist.
Nun hatten die vier anderen, ebenfalls recht gut erhaltenen Schädel eher auf einen moderneren Typus hingedeutet. Dass Individuum Nummer fünf weit aus dem Rahmen des ansonsten aus Dmanisi Bekannten fallen könnte, hatte zwar der fünf Jahre zuvor gefundene Unterkiefer bereits nahegelegt. In welchem Ausmaß dies tatsächlich der Fall ist, belegt jedoch erst die neue Entdeckung der georgischen Ausgräber.
Dank dieses Vergleichsstücks ist klar, dass modernere Gesichtszüge kein generelles Merkmal dieser Art waren, erläutert das Forscherteam, zu denen auch die beiden Züricher Wissenschaftler Maria Ponce de León und Christoph Zollikofer gehören. Vielmehr sei es wohl so, dass es sich bei den übrigen Funden höchstwahrscheinlich um die Knochen von weiblichen Vertretern der Art handele. Sie scheinen – genau wie die ebenfalls in Dmanisi und anderswo gefundenen Jugendlichen – einen eher modernen Schädelbau gehabt zu haben.
Sehr maskuliner Körperbau
Schädel 5 hingegen "dürfte einem robusten Männchen gehört haben", findet auch Philipp Gunz vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Sollten die im Umfeld geborgenen Skelettteile zum Körper des Mannes gehören – wie die Forscher vermuten – wäre der Besitzer von Schädel 5 grob geschätzt 1,50 Meter groß und knapp einen Zentner schwer gewesen. Und wahrscheinlich deutlich stabiler gebaut als die Weibchen der Gruppe.
Dieser "Geschlechtsdimorphismus" – also die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern – sei wohl bei den frühen Vertretern der Gattung Homo sehr ausgeprägt gewesen, sagt auch Katerina Harvati, "vielleicht ausgeprägter als gedacht".
Denn so einhellig die Freude in der Forschergemeinde ist, ganz konfliktfrei geht es bei der Präsentation des Neufunds nicht zu: Völlig offen ist bislang die Frage, welche Schlüsse aus dieser Erkenntnis gezogen werden. Was nämlich, wenn die Variabilität, die offenbar natürlicherweise bei diesen frühen Menschen auftrat, jahrelang als Aufsplitterung in verschiedene Arten fehlinterpretiert wurde?
Tatsächlich: Wäre Schädel 5 nicht im georgischen Dmanisi, sondern irgendwo sonst aufgetaucht, hätten ihn viele Forscher vermutlich mit einer anderen Art in Verbindung gebracht. Homo habilis, Homo erectus, Homo ergaster, Homo rudolfensis – alle diese Arten fallen etwa in das gleiche Zeitfenster und sind oftmals nur durch ein Puzzle verstreuter Fossilien definiert. Gehören sie in Wirklichkeit alle zur gleichen Art?
Das Team um Lordkipanidze nutzt die Aufmerksamkeit um ihre Veröffentlichung, um mit dieser Interpretation vorzupreschen. Dazu kalkulierten sie anhand einiger Parameter aus der Schädelvermessung die Varianzbreite früher Homo-Fossilien und verglichen sie mit den Unterschieden, die heutzutage innerhalb dreier verschiedener Arten auftreten – von Mensch zu Mensch, von Schimpanse zu Schimpanse und von Bonobo zu Bonobo.
Alles eine Frühmenschen-Art?
Dabei zeigte sich, dass sich zwei beliebige Homo sapiens von heute ebenso ähnlich oder unähnlich sehen können wie ein Homo habilis einem Homo erectus oder wie ein Mitglied der Dmanisi-Gruppe einem anderen – zumindest laut den Messwerten, die die Forscher berücksichtigten. Die frühe Homo-Linie soll sich daher überhaupt nicht aufgespalten haben. Stattdessen habe es eine graduelle Entwicklung hin zu moderneren Merkmalen gegeben, die aber nicht immer und überall in gleichem Maß sichtbar werden.
Das sei eine "legitime Ansicht", findet Philipp Gunz. Wie viele seiner Kollegen ist er jedoch skeptisch, ob die Analyse des Teams um Lordkipanidze ausreicht. "Es gibt da auch subtile Gestaltunterschiede, die bei einer solchen Statistik nicht berücksichtigt werden können, die aber für andere Forscher ausschlaggebend sind." Auch Katerina Harvati sieht noch Bedarf, das Verhältnis etwa zu Homo habilis genauer herauszuarbeiten. Vertreter dieser Art, deren Stellung im Stammbaum des Menschen ebenfalls umstritten ist, ähneln dem georgischen Neufund am ehesten, von Homo erectus einmal abgesehen.
Ganz neu ist die Idee, alle oder einige frühmenschliche Arten zusammenzufassen im Übrigen nicht. Seit Jahren konkurriert dieser Ansatz der "Lumper" (der "Zusammenwerfer") mit dem der "Splitter", die stattdessen eine Vielzahl von gleichzeitig existierenden Früh- und Vormenschenarten postulieren. Auch David Lordkipanidze hatte den 2000 gefundenen Unterkiefer von Schädel 5 seinerzeit als Homo georgicus angesprochen. Diese Einschätzung zog er jedoch in der aktuellen Veröffentlichung offiziell wieder zurück.
In der Paläoanthropologie könnten Artgrenzen eben in aller Regel nur indirekt erschlossen werden, erläutert Gunz. Wie und wo diese Grenzen gezogen werden, hänge daher immer auch von der Einschätzung des einzelnen Forschers ab: "Darin drücken sich im Grund genommen unterschiedliche Philosophien aus", so Gunz.
Und freilich verschwinden die erklärungsbedürftigen Unterschiede zwischen den einzelnen Fossilien durch eine Umbenennung nicht. Das Team um Lordkipanidze schlägt deshalb vor, eher von Unterarten zu sprechen, die der Tatsache Rechnung tragen, dass an unterschiedlichen Stellen gefundene Fossilien vielleicht ähnlich, aber mitnichten identisch sind. Für die Dmanisi-Gruppe ergibt sich so die etwas schwerfällige Bezeichnung Homo erectus ergaster georgicus, die diese Fossilien zwischen dem asiatischen H. erectus und dem afrikanischen Typus H. ergaster oder eben H. erectus ergaster verortet.
Überdies konzentrieren sie sich mit ihrer Vorstellung einer einzigen, weit verbreiteten Homo-Art ausschließlich auf diese frühe Phase der Menschwerdung vor rund 2 bis 1,5 Millionen Jahren. Wie sich aus dieser Linie in den folgenden Jahrhunderttausenden beispielsweise die modernen Menschen und die Neandertaler entwickelt hätten, "würde ich mit einem großen Fragezeichen versehen", sagte etwa Christoph Zollikofer auf einer telefonischen Pressekonferenz im Vorfeld der Veröffentlichung.
Wie auch immer diese Diskussion ausgehen wird, eines ist wohl sicher: Mit dem Schädel 5 hat der frühe Mensch – ganz gleich unter welchem Namen – ein neues Gesicht bekommen. Ob es hingegen auch der letzte Neuzugang der Dmanisi-Gruppe bleiben wird, steht noch lange nicht fest. Wie Lordkipanidze erklärt, warten daheim an seiner Ausgrabungsstelle noch 50 000 Quadratmeter fossilienhaltiges Gestein auf weitere Grabungen.
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