Homo sapiens in Europa: Kamen die ersten Pioniere viel früher?
Wohin Homo sapiens auch kommt, dort geht er nicht mehr weg. Selbst wenn es mit der neuen Heimat nicht auf Anhieb klappt. Wie zum Beispiel im altsteinzeitlichen Europa: Als anatomisch moderne Menschen vor zirka 200 000 Jahren den afrikanischen Kontinent verließen und sich allmählich über die Welt ausbreiteten, konnten sie hier zunächst nicht dauerhaft Fuß fassen. Immer wieder strömten sie in jene Gebiete, in denen seit Jahrhunderttausenden Neandertaler umherstreiften. Immer wieder zogen sie sich zurück oder gingen zu Grunde. Erst als die Neandertaler vor ungefähr 40 000 Jahren in Europa verschwanden, konnte Homo sapiens den Kontinent endgültig erobern. Doch wann waren die ersten Pioniere überhaupt nach Europa gekommen? Und bis wohin gelangten sie? Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen fehlt. Auch weil sich die Forschergemeinde ausgesprochen uneinig darüber ist.
Wenn es nach Ludovic Slimak vom CNRS der Université de Toulouse Jean Jaurès geht, waren moderne Menschen deutlich früher gekommen und deutlich weiter vorgedrungen als bisher angenommen – und sie hatten eine überlegene Technologie im Gepäck: Pfeil und Bogen.
In der Grotte Mandrin im beschaulichen Rhonetal Südfrankreichs entdeckten der Paläoanthropologe und sein Team fast 60 000 Steingeräte sowie mehr als 70 000 Knochenreste. Die meisten Knochen stammen von Tieren – Wisenten, Pferden, Hirschen –, doch einige wenige Fossilien sind menschlichen Ursprungs: neun Zähne, die verteilt über alle Kulturschichten in der Halbhöhle im Rhonetal zu Tage traten.
Bereits 2022 veröffentlichte Slimak mit Forschenden im Fachmagazin »Science Advances« diese Funde und machte eine Aufsehen erregende Schlussfolgerung: Vor ungefähr 54 000 Jahren hätten nicht mehr Neandertaler die Höhle aufgesucht, sondern anatomisch moderne Menschen. Damit wäre unsere Spezies weit bis nach Westeuropa vorgestoßen, rund 10 000 Jahre früher, als der bislang älteste Nachweis in der Bacho-Kiro-Höhle in Bulgarien bezeugt. Nach wenigen Jahrzehnten sei Homo sapiens jedoch wieder aus dem Rhonetal verschwunden. Die Neandertaler kehrten zurück, bis der moderne Mensch allein in Europa waltete.
Slimaks These beruht auf dem Fund spezieller Steingeräte und den eingangs erwähnten Zähnen. Letztere stammten von Neandertalern, nur einer davon erwies sich als Milchzahn, der der Form nach einst im Gebiss eines jungen Homo sapiens saß. Eine Genanalyse der Zähne hatten die Forscherinnen und Forscher verworfen, weil sich schon aus den Tierknochen keine brauchbare aDNA extrahieren ließ. Form und Aufbau des Milchzahns würden aber besser zum so genannten archaischen Homo sapiens passen, so das Forscherteam um Slimak; das heißt, zu einem aus anatomischer Sicht noch nicht vollständig modernen Menschen.
Eine eigene Kulturstufe: Das Néronien
Das Fossil lag in einer Schicht, in der sich auch eine auffällige Mischung von Schabern, Klingen und Spitzen fand. Die Geräte unterschieden sich von den Artefakten in den Ablagerungen darüber und darunter: Manche ähnelten dem Werkzeugset der Neandertaler aus der Phase des Moustérien, andere dem, was Menschen in der frühesten Kulturstufe des Homo sapiens in Europa herstellten, dem Aurignacien. Slimak taufte die Werkzeugkultur aus der Grotte Mandrin auf den Namen »Néronien«, zu dem er teils sehr kleine Steinspitzen rechnet, zwischen einem und drei Zentimetern lang. Diese Mikrolithe sollen nun gemäß einer neuen Studie in »Science Advances« von Slimak, Laure Metz von der University of Connecticut und Jason Lewis von der Stony Brook University als Pfeilspitzen gedient haben.
Die Technologie von Pfeil und Bogen hatten nach allem, was bislang bekannt ist, nur die modernen Menschen gemeistert. Die Neandertaler nutzten die technische Errungenschaft nicht. Waren also tatsächlich vor 54 000 Jahren Pioniere der Menschenform Homo sapiens über den östlichen Mittelmeerraum und die Regionen der heutigen Türkei, Griechenland und Italien bis ins Rhonetal gekommen?
Dass unsere Spezies bereits vor rund 210 000 Jahren einen Abstecher nach Europa unternommen hatte, konnten Forschende um Katerina Harvati von der Universität Tübingen 2019 zeigen. Sie bestimmten einen Schädel aus einer Höhle an der Südspitze der griechischen Halbinsel Peloponnes als frühen Homo sapiens. Selbst von dort ist der Weg nach Westeuropa aber noch weit. Da bislang anatomisch moderne Menschen in der Grotte Mandrin nicht genetisch nachgewiesen sind, ruht die Beweislage allein auf dem Milchzahn und den Steingeräten aus der Schicht des Néronien.
In ihrer neuen Studie untersuchten Slimak und seine Kollegen nun 852 Steinartefakte aus jener Schicht genauer. Die verschiedentlich gefertigten Stücke unterscheiden sich in der Größe: Der eine Teil misst drei bis sechs Zentimeter in der Länge, der andere Teil besteht aus Mikrolithen von zirka einem Zentimeter Größe. Für was taugten diese Spitzen? Auf der Suche nach einer Antwort dokumentierten Slimak und Co die Gebrauchsspuren und prüften, wie sie zu Stande gekommen sein könnten. Dazu führten sie ein archäologisches Experiment durch: Sie fertigten Repliken und nutzten sie für Steinzeittätigkeiten – als Jagdgeschoss und Metzgermesser. Anschließend verglichen sie die Abnutzungsspuren an ihren Kopien mit den Originalen aus der Grotte Mandrin.
Das Ergebnis: Die meisten Spitzen mussten die Bewohner der Höhle an Pfeilen und Wurfspeeren befestigt haben. Dabei bezeugten die Beschädigungen an den Mikrolithen, dass sie mit der Spitze voraus ihr Ziel trafen, demnach als Pfeile dienten. Das belege auch die Größe von etwa nur einem Zentimeter, schreiben die drei Forscher. Die etwas größeren Projektile hingegen taugten der Form nach auch als Wurfspeere. Diese Jagdtaktik, mit Bogen und Speer gleichzeitig vorzugehen, sei auch ethnologisch gut dokumentiert.
Die Menschen kamen aus dem Osten des Mittelmeerraums
Es wäre eine bedeutende Erkenntnis, dass sich anatomisch moderne Menschen – wenn auch nur kurz – bereits vor zirka 54 000 Jahren in Westeuropa aufgehalten hatten. Aber reichen ein Milchzahn und Gebrauchsspuranalysen an Steingeräten aus, um den weiten Vorstoß von Homo sapiens nach Europa zu belegen? Könnten nicht auch Neandertaler die Steinartefakte gefertigt haben? »Es besteht kein Zweifel, dass diese Geräte von frühen Homo sapiens hergestellt wurden«, betont Ludovic Slimak in einer E-Mail gegenüber »Spektrum.de«. Der Paläoanthropologe hat die Spur der frühen Migranten nachverfolgt. In der Höhle Ksar Akil bei Beirut im Libanon kamen Steinspitzen ans Licht, die den Funden aus der Grotte Mandrin verblüffend ähnlich seien und offenbar dieselben Zwecke erfüllten – es müsse eine Verbindung zwischen den Menschen in der Levante und jenen im Rhonetal gegeben haben, wie Slimak in einem noch nicht begutachteten Paper auf dem Preprintserver »bioRxiv« darlegt.
Was Slimak und seine Kollegen vorschlagen, hält auch Marlize Lombard von der University of Johannesburg für plausibel. »Basierend auf den vorgelegten Nachweisen stimme ich zu, dass die sehr kleinen Spitzen als Pfeilspitzen dienten«, sagt die Expertin für die Steinzeit Afrikas. Ebenso sei die Analyse der Gebrauchsspuren nachvollziehbar. Lombard erkennt außerdem Ähnlichkeiten mit den Jagdwaffen, die Jäger und Sammler im Afrika südlich der Sahara vor ungefähr 58 000 bis 70 000 Jahren nutzten. »Es war ein flexibles Arsenal, bei dem die Jäger je nach Bedarf wohl zwischen Bogen und Speer oder einer Kombination aus beidem wählen konnten.« Zudem: Wenig spräche dagegen, dass Homo sapiens in der Lage gewesen wäre, schon vor 54 000 Jahren Westeuropa zu erreichen. Immerhin gelangten moderne Menschen bereits vor rund 80 000 Jahren nach Ostasien, vor zirka 65 000 Jahren nach Australien.
Pfeil und Bogen untermauern demnach, dass sich unsere Spezies früher und weiter als erwartet in unbekanntes Terrain vorwagte. Dabei brachte ihnen der Bogen einen technologischen Vorteil gegenüber den Wurfspeeren. Die Jagdwaffe ist leichter, treffsicherer und hat eine hohe Reichweite. Im Grunde funktioniert sie wie eine Maschine: Es sammelt sich in der gespannten Sehne Bewegungsenergie, die dann auf einen Schlag freigesetzt wird. Bleibt nur die Frage: Warum hatten sich die Neandertaler die neue Technologie nicht angeeignet?
Hängt die These allein von einem Milchzahn ab?
Einigen Experten stellen sich diese Frage allerdings nicht. Für sie ist nämlich längst noch nicht entschieden, wer die Urheber des Néronien tatsächlich waren – Homo sapiens oder eben doch Neandertaler. Sie fordern deutlichere Belege als die bislang vorgebrachten. »Die Vorstellung, dass diese Objekte von Homo sapiens hergestellt wurden, beruht hauptsächlich auf der Verbindung mit einem Milchzahn«, sagt Paläoanthropologe Jean-Jacques Hublin vom Collège de France in Paris und vormals Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. »Dieser Zahn ist ein einzelner winziger Fund. Ohne direkte Datierung, ohne DNA«, fährt der Experte fort. Nicht unüblich sei zudem für altsteinzeitliche Fundstätten, dass Tiere, die sich durch das Erdreich graben, Artefakte von einer Schicht in die nächste verschleppten. Womöglich sei der Fund viel jünger als gedacht. Das Alter des Zahns hatten Slimak und sein Team mit Hilfe anderer Funde aus der Schicht des Néronien bestimmt; Tierknochen und Sedimente, die sie mit der Radiokarbon- und der Lumineszenzmethode beprobt hatten.
Slimak hält jedoch an der Formanalyse des Zahns fest. Es sei ausgeschlossen, dass er jünger sei. Ihre Formanalyse habe gezeigt, »dass dieser Zahn zu einem archaischen modernen Menschen gehört und deshalb nicht aus einer jüngeren Periode stammen kann«, so Slimak. Alle 14C-Daten aus den Fundschichten würden zudem zeitlich aufeinanderfolgen, Ausreißer gäbe es nicht, folglich gäbe es auch keine Verlagerung durch tierische Bautätigkeiten. Er sieht die Beweiskraft aber vor allem in der Vielzahl an Belegen – dem Zahn, den Pfeilspitzen und ihrer Verbindung zu den Kulturen im Ostmittelmeerraum.
Anders als Lombard ist Hublin jedoch auch von der Analyse der Gebrauchsspuren nicht überzeugt. Die Werkzeugkultur des Moustérien, die den Neandertalern zugeschrieben wird, sei diverser aufgestellt gewesen als gemeinhin angenommen. »In einigen Varianten findet man absichtlich hergestellte Splitter, die nicht größer als eine Eincentmünze sind. Wer weiß, was die Neandertaler damit gemacht haben?«, sagt Hublin.
Gebrauchsspuranalysen bestätigen, was man wissen will
Karl Hutchings von der kanadischen Thompson Rivers University in British Columbia ist ähnlich skeptisch. Der Experte für Steintechnologien und Gebrauchsspuranalysen warnt davor, mit Hilfe archäologischer Experimente die einstige Funktion der Steinspitzen belegen zu wollen. »Das Hauptproblem ist, dass das Versuchskonzept nicht objektiv entworfen wurde«, erklärt Hutchings. Nicht nur im Fall von Slimaks, Lewis' und Metz' Studie, sondern generell bestätigten solche Experimente oft eine vorgefasste These.
Ausgangspunkt ist folgender: Man vermutet, die abgesplitterten Stellen an den Steinspitzen könnten von ihrer Verwendung als Pfeile herrühren, »also entwirft man Experimente, bei denen nachgebildete Spitzen als Geschosse genutzt werden«, sagt Hutchings. »Und siehe da, man stellt fest, dass die Verwendung der Spitzen als Geschosse die erwarteten Absplitterungen erbringt.« Experimentell müssten aber sehr viel mehr und andere Verwendungen getestet werden, um einigermaßen sicherzugehen, für was Menschen der Altsteinzeit die Geräte gebraucht hatten. Kurz gefasst: Wer Jagdwaffen sucht, wird Jagdwaffen finden. »Es ist ein Zirkelschluss«, so Hutchings.
Von der Levante nach Westeuropa keinerlei Spuren
Slimaks These, moderne Menschen seien samt der Pfeil- und Bogentechnologie vor 54 000 Jahren in Europa gewesen, »ist von großer Bedeutung und erfordert daher aussagekräftige Beweise«, betont der kanadische Archäologe. Experimentelle Gebrauchsspuranalysen würden dem aber nicht genügen. Hublin hält die Vorgehensweise ebenfalls nicht für stichhaltig. Zudem: Die bislang ältesten eindeutigen Belege für Pfeil und Bogen seien deutlich jünger, nur zirka 12 000 Jahre alt. Es sind Pfeilschäfte aus dem Stellmoor bei Hamburg.
In den Augen von Hublin sei schließlich noch zu prüfen, warum die vermeintlich frühen Pioniere auf ihrem Weg vom Vorderen Orient ins Rhonetal sonst kaum Spuren hinterlassen haben. Slimak führt für diesen Umstand einen Hauptgrund an: In jener Phase der Altsteinzeit habe der Meeresspiegel am Mittelmeer deutlich niedriger gelegen. Etwaige Fundplätze an der Küste würden heute auf dem Meeresgrund schlummern. Doch existierten einige wenige Funde von néronienähnlichen Kulturen: in der Osttürkei und in Süditalien. »Kollegen dort vermuten, dass es Anzeichen für ein Néronien gibt«, so Slimak.
Offenbar ist die Fundlage im Rhonetal selbst noch nicht eindeutig geklärt. Die Ausgräber liefern Indizien, dass Homo sapiens vor 54 000 Jahren dort war, aber ein zweifelsfreier Fund fehlt noch. Das Blatt könnte sich allerdings rasch wenden. Ludovic Slimak berichtet jedenfalls, dass zurzeit Genanalysen an Funden aus allen Schichten der Grotte Mandrin durchgeführt würden, »inklusive homininer DNA aus Knochen und Analysen von DNA aus Sedimenten.« Und er kündigt an: »Wir haben bereits einige faszinierende Ergebnisse erzielt, doch für die Veröffentlichung müssen wir noch etwas warten.«
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