Homosexualität: Händchenhalten unerwünscht?
So weit, so unspektakulär: In Deutschland identifizieren sich laut einer internationalen Umfrage aus dem Jahr 2021 etwa 78 Prozent der Menschen als heterosexuell: Sie fühlen sich ausschließlich oder überwiegend vom anderen Geschlecht angezogen. Sechs Prozent der Deutschen beschrieben sich als ausschließlich oder überwiegend homosexuell, und fünf Prozent gaben an, beiden Geschlechtern gleichermaßen zugeneigt zu sein. Das bedeutet, dass mehr als jede zehnte Person aus der vermeintlichen Norm fällt, ungefähr so viele wie im weltweiten Mittel. Fast ebenso viele machten keine Angaben.
Und doch haben es nicht heterosexuelle Menschen nach wie vor nicht leicht. Denn trotz aller Bemühungen um Akzeptanz gibt es weiterhin tief sitzende, wenn auch teils unbewusste Vorurteile. In der genannten Umfrage äußerten weniger als die Hälfte der Deutschen, sie fänden es in Ordnung, wenn homo- und bisexuelle sowie Transpersonen offen über ihre sexuelle Orientierung sprechen. Öffentliche Zärtlichkeiten – sich zu küssen oder Händchen zu halten – fanden sogar nur 39 Prozent annehmbar. Echte Akzeptanz ist anders. Zum Vergleich: In einer Umfrage des SINUS-Instituts aus dem Jahr 2017 gaben fast die Hälfte der Befragten an, kein Problem mit öffentlichen (implizit heterosexuellen) Küssen zu haben, 28 Prozent empfanden es als unangenehm, dem Rest war es egal.
Wieso hat sich hier nicht mehr getan? Ein wenig tue sich schon, sagt der Sexualpädagoge Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. »Die Akzeptanz hat zugenommen, gerade in gesellschaftlichen Schichten mit gutem Einkommen und guter Bildung.« Doch leider seien die Fortschritte eher oberflächlich. Von einer bedingungslosen Anerkennung könne keine Rede sein.
»Was nutzt es einer jungen homosexuellen Person, wenn es rein statistisch mehr Akzeptanz gibt, sie aber wiederholt Diskriminierung erfährt?«Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit
Das spürt auch die 27-jährige Chris aus einer nordrhein-westfälischen Großstadt, die sich zunächst als bisexuell identifizierte, mit 20 aber beschloss, sich bloß noch mit Frauen zu treffen. »Manche meiner Freundinnen und Freunde hatten eigentlich nichts gegen Homosexualität«, sagt Chris, »allerdings waren sie beispielsweise überzeugt davon, dass Kinder eine Mutter und einen Vater brauchen.«
Selbst wenn sich die Akzeptanz in der Gesellschaft als Ganzes langsam verbessert: »Statistische Werte zeigen nur den Durchschnitt«, gibt Stefan Timmermanns zu bedenken. »Was nutzt es einer jungen homosexuellen Person, wenn es rein statistisch mehr Akzeptanz gibt, sie aber wiederholt Diskriminierung erfährt?«
Häufige Anfeindungen erlebt beispielsweise Fynn. Er ist 16 und geht in Witten (Nordrhein-Westfalen) zur Schule, wo er auch seinen Freund kennen lernte. Wenn die beiden gemeinsam unterwegs sind, werden sie manchmal so heftig angegangen, dass sie die Polizei einschalten müssen. »Jemand hat uns gedroht, uns Körperteile abzuschneiden, am hellen Tag auf der Straße«, erzählt Fynn. Oft ist es nicht nur offene physische Gewalt, die homosexuellen Menschen das Leben schwer macht. In der Schule müsse er sich häufig homophobe Schimpfwörter anhören, berichtet er weiter. Und in der Umkleidekabine sei seine Gegenwart manchen anderen Jungen unangenehm.
In einer Antwort an den Lesben- und Schwulenverband in Deutschland spricht das Bundesinnenministerium von 1051 Straftaten im Jahr 2021, die in Zusammenhang mit der geschlechtlichen oder sexuellen Identität oder der sexuellen Orientierung stehen. 190 davon waren Gewalttaten, meist Körperverletzungen. Und das sind lediglich die Fälle, in denen sich die Opfer an die Polizei gewandt hatten – die Dunkelziffer ist wesentlich höher.
Heteronormative Beispiele im Unterricht
Eine andere Art der Diskriminierung zeigt sich in Erfahrungen, die der Informatikstudent Benedict an einer Uni in Bayern gemacht hat. Das Lehrmaterial sei meist heteronormativ, sagt er: Oft verwendeten die Lehrenden etwa Stammbäume als Beispiele. Dann werden Bedingungen eingeführt wie »Eine Hochzeit zwischen zwei Personen kann bestehen, wenn ihr Geschlecht ungleich ist und sie nicht dieselben Eltern haben«. Das sei zwar nicht allzu wild, findet Benedict, »aber es drückt schon aus, was das Idealbild sein soll«. Dazu kommen Lehrende, die zumindest unsensibel handeln, bei dummen Sprüchen mitlachen oder selbst welche machen.
Für das Projekt »Interventionen für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt« des Dissens-Instituts für Bildung und Forschung e. V. haben sich verschiedene Fachleute damit beschäftigt, wie es LGBT+-Jugendlichen an Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen geht. In Gesprächen mit Projektteilnehmenden wurde immer wieder deutlich, dass die Lehrkräfte und pädagogischen Fachkräfte meist von einer komplett heterosexuellen Gruppe ausgehen, solange sich niemand explizit anders definiert. Im Umgang mit offen homosexuellen Jugendlichen verhalten sich Mitschülerinnen und Mitschüler und auch das Lehrpersonal laut Fachmeinung häufig diskriminierend. Das müsse nicht einmal gewollt sein. Teils würden übergriffige Äußerungen als »Ist doch nur Spaß« abgetan, teils die Gefühle der Betroffenen schlicht nicht ernst genommen, als »Phase« bezeichnet oder unangebrachte Fragen gestellt. Ein Beispiel: Du wirkst so normal, bist du wirklich schwul? »Auf Dauer fühlt man sich im Alltag unwohl«, sagt Benedict.
All das hat Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Das zeigt etwa eine Metaanalyse von zwölf Bevölkerungsumfragen mit insgesamt mehr als 90 000 Teilnehmenden in Großbritannien: Vor allem lesbische, schwule und bisexuelle Erwachsene unter 35 und über 55 Jahre haben demnach ein höheres Risiko für Depressionen und Angststörungen und berichten oft über ein geringeres Wohlbefinden als heterosexuelle Gleichaltrige. »Das liegt natürlich nicht daran, dass sie lesbisch oder schwul sind«, erläutert Stefan Timmermanns. Vielmehr sieht er den Grund in der gesellschaftlichen Diskriminierung und dem Minderheitenstress – dem konstanten Erleben negativer Ansichten über nicht heterosexuelle Orientierungen.
Das Gefühl, falsch zu sein
Zwei türkische Forschende, Ercüment Yolaç und Meltem Meriç, untersuchten 2020 einen Aspekt von Minderheitenstress genauer. Sie schlossen aus der Befragung von 110 Menschen, dass internalisierte Homophobie bei Homosexuellen das Risiko steigert, depressiv zu werden. »Die gesellschaftliche Wahrnehmung von LGBT-Personen kann ihr Leben derart beeinflussen, dass sie ihre eigene Identität zurückweisen«, erklären die Forschenden.
Dieses Gefühl, falsch oder schlecht zu sein, ist Chris nicht fremd. In ihrer Kindheit spielte die Kirche eine große Rolle und prägte ihr Selbstbild. Sie begann erst recht spät, ihre Sexualität auszuleben, und schämte sich anfangs jedes Mal. Mittlerweile hat sie sich von der Kirche abgewandt: »Ich habe die letzten zehn Jahre damit verbracht, zu verlernen, was mir dort eingetrichtert wurde.«
»Die größte Herausforderung für homosexuelle Jugendliche ist es, trotz gesellschaftlicher Ablehnung und Diskriminierung ein positives Selbstbild zu entwickeln«Stefan Timmermanns, Sexualpädagoge
Auch das Suizidrisiko ist bei LGBT-Personen höher, wie unter anderem 2021 Forschende um Stephen Russell von der University of Texas zeigten. Hierfür befragten sie rund 1500 Menschen in den USA, die einer sexuellen Minderheit angehörten, nach etwaigen Suizidgedanken, -plänen und -versuchen. Ergebnis: Zu etwa 60 Prozent der Suizidversuche kam es innerhalb von fünf Jahren nach dem inneren Comingout, also der Phase, in der sich die Befragten ihrer sexuellen Identität bewusst geworden waren.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
Mit diesem inneren Comingout haben manche bereits zu kämpfen, noch bevor ein äußeres Comingout gegenüber der Familie und dem weiteren Umfeld überhaupt denkbar ist. »Die größte Herausforderung für homosexuelle Jugendliche ist es, trotz gesellschaftlicher Ablehnung und Diskriminierung ein positives Selbstbild zu entwickeln«, erklärt Stefan Timmermanns. Es gäbe nur selten Vorbilder im eigenen Umfeld; die jungen Menschen müssten ihre Identität selbst definieren. Das sei Arbeit, könne aber sehr befreiend sein.
Für manche hingegen gibt es keinen definierten Zeitpunkt, an dem sie sich innerlich oder äußerlich outen. So war es bei Lisa, einer 29-jährigen Frau aus einer kleinen Gemeinde in Bayern, die fünf Jahre mit einer Frau zusammen war. Sie hat ihre bisexuelle Identität schon immer offen gelebt, erzählt auch allen Menschen davon. »In meiner Familie war es ganz normal«, sagt sie. »Wenn jemand ein Problem damit hat, würde ich mich von dieser Person sofort distanzieren. Ich möchte nicht, dass sich ein Mensch in meine sexuellen oder Beziehungspräferenzen einmischt, das geht niemanden etwas an.«
Offen anders zu sein macht weniger unglücklich
Damit ist Lisa eher die Ausnahme, denn das Comingout ist für viele homosexuelle Jugendliche weiterhin ein großes Thema. Anders als etwa die Hautfarbe ist die sexuelle Orientierung schließlich etwas, was man auch verbergen kann. Ein Team um die Psychologin Afra Ahmad von der George Mason University in Virginia spricht von einem »Offenlegungsdilemma«. Einerseits wirkt es sich positiv auf das Befinden aus, offen mit der sexuellen Identität umzugehen. Andererseits riskieren homosexuelle Menschen dadurch Diskriminierung. In ihrer Umfrage unter 184 Homo- und Bisexuellen fanden die Forschenden dennoch die höchste Zufriedenheit bei denjenigen, die in allen Lebensbereichen offen mit ihrer Identität umgehen konnten. Am unglücklichsten hingegen waren Menschen, die ihre Identität in allen Bereichen verbargen.
»Sich über einen längeren Zeitraum verleugnen zu müssen, macht krank«, erklärt Stefan Timmermanns die Ergebnisse. Was hilft: ein Umfeld zu schaffen, das einen offenen Umgang unterstützt.
Immerhin gibt es in Deutschland bereits gute Ansätze. So bieten Strukturen wie »vielbunt«, ein gemeinnütziger Verein der queeren Community in Darmstadt, Orte zur Vernetzung und Beratung für LGBT+. Annika Beer ist Teil des pädagogischen Teams bei »vielbunt«. Sie sieht für homosexuelle Jugendliche und junge Erwachsene Verbesserungen: »Oft haben sie Mitschüler*innen oder Bekannte, die ebenfalls nicht heterosexuell sind. Dann brauchen sie gar nicht mehr unbedingt besondere Freizeitangebote, weil sie die Dazugehörigkeit bereits im eigenen Umfeld finden.« Auch in der Beratung sei das homosexuelle Comingout nicht mehr so relevant, erklärt Annika Beer. Wenn, dann vor allem bei Menschen mit einem streng gläubigen Hintergrund. »Meist geht es eher um die Identitätsfindung an sich.«
»Sich über einen längeren Zeitraum verleugnen zu müssen, macht krank«Stefan Timmermanns, Sexualpädagoge
Solche Initiativen können helfen, die Sichtbarkeit der LGBT+-Community zu verstärken und die Selbstverständlichkeit nicht heterosexueller Identitäten zu fördern. Vereine und Programme wie etwa die »Schule der Vielfalt« bilden Lehrkräfte und Schulsozialarbeitende aus und unterstützen sie mit Projekten sowie Informationsmaterial. Das sei wichtig, um das Bewusstsein der Gesellschaft zu verändern, findet Stefan Timmermanns: »Diskriminierung wächst sich nicht aus.« Jede Generation brauche für die Entwicklung einer diskriminierungsfreien Haltung Unterstützung von Fachleuten.
Mehr dazu?
Das Regenbogenportal der Bundesregierung informiert über queere Beratungsangebote, Selbsthilfegruppen und Interessenverbände aller Art.
Wichtig sei auch, dass die Gesetze überarbeitet werden, sagt Timmermanns. Ein Beispiel: Derzeit können homosexuelle Frauen das Kind der Partnerin nur durch »Stiefkindadoption« annehmen. Justizminister Marco Buschmann hat 2022 jedoch angekündigt, dieses Gesetz bis Herbst 2023 ändern zu wollen. Miteinander verheiratete Frauen sollen dann in Bezug auf Kinder rechtlich genauso behandelt werden wie ein Hetero-Ehepaar. Bekommt also eine der beiden ein Kind, kann die andere sich als zweiten Elternteil eintragen lassen.
Timmermanns' Fazit: »Man kann heute in Deutschland glücklich offen schwul oder lesbisch leben. Das ist möglich, aber nicht selbstverständlich, und man braucht dafür die nötigen Ressourcen.« Vor allem ein Umfeld, das LGBT+ genauso akzeptiert wie heterosexuelle Identitäten.
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