»Hotel Mama«: Warum manche den Auszug aufschieben
Der Kühlschrank ist immer voll, die frische Wäsche liegt im Kleiderschrank, und um Dinge wie Internetanschluss und Stromkosten braucht man sich keine Gedanken zu machen. Das Leben im Elternhaus bringt einige Annehmlichkeiten mit sich. Kein Wunder also, dass es jungen Menschen mitunter schwerfällt, das warme Nest zu verlassen. Laut Statistischem Bundesamt wohnte ein gutes Viertel der 25-Jährigen in Deutschland 2020 noch bei den Eltern – mehr als jeder dritte Sohn und mehr als jede fünfte Tochter.
Mal abgesehen von Ausnahmesituationen wie einer weltweiten Pandemie: Was hält junge Menschen zu Hause? Wann ist das »Hotel Mama« besonders verlockend? Und was treibt andere dazu, sich ein eigenes Dach überm Kopf zu suchen?
Die Psychologin Ulrike Sirsch stört sich an dem Begriff. »›Hotel Mama‹ – das impliziert Faulheit und eine gewisse Langsamkeit im Erwachsenwerden«, sagt die Professorin vom Institut für Entwicklung und Bildung der Universität Wien. Dahinter steckt ein Urteil: Da hat sich's jemand gemütlich eingerichtet. Gleichzeitig offenbart der Begriff ein veraltetes Bild vom Erwachsenwerden, gemessen an klassischen Kategorien wie einem festen Beruf, einer stabilen Partnerschaft, eigenen Kindern.
Das Erwachsenwerden dauert länger
Doch die Welt hat sich verändert. Ausbildungen sind komplexer und dauern länger, und dank Verhütungsmitteln gibt es Sex auch ohne Familiengründung. »Außerdem hat Jugendlichkeit und Jungsein in unserer Gesellschaft eine hohe positive Bedeutung, während erwachsen zu sein weniger wichtig scheint«, sagt Entwicklungspsychologin Sirsch. Dadurch verschieben sich bedeutsame Lebensereignisse. Anfang der 1990er Jahre heirateten Frauen in Deutschland im Mittel mit etwas mehr als 26 Jahren, heute sind sie im Mittel älter als 32 Jahre.
Der US-Psychologe Jeffrey Jensen Arnett bezeichnet die Zeit zwischen Jugend und Erwachsensein als »emerging adulthood«, in etwa: Erwachsenwerden. Ihm zufolge spiegelt sich darin der wirtschaftliche Wandel, mit längeren Ausbildungszeiten und dem dadurch bedingten späteren Auszug aus dem Elternhaus. Die Phase dauert ungefähr von 18 bis 25 Jahren, in Europa länger. Die »emerging adulthood« ist typisch für die industriell entwickelten Länder.
Doch auch hier gibt es Unterschiede. »Wir sehen deutlich, dass sich das Auszugsverhalten junger Menschen in Europa in bestimmte Cluster unterteilen lässt«, berichtet Sirsch. Im Mittel sind die Deutschen beim Auszug mit knapp 24 Jahren gut zwei Jahre jünger als der EU-Durchschnitt. Während Kinder in Nordeuropa noch früher flügge werden – in Schweden im Schnitt mit 17,5 und in Dänemark mit 21,2 Jahren –, finden sich im Süden und Osten Europas die Nesthocker. Am spätesten dran sind die Kinder in Italien und Malta mit 30,2 Jahren und in Kroatien mit 32,4 Jahren.
Die Ursachen sind vielschichtig und reichen von den wirtschaftlichen Voraussetzungen bis zu den Rollenbildern und kulturellen Eigenheiten eines Landes. Wie werden Frauen gesehen? Welche Unterstützung bekommen die Menschen vom Staat? Zahlen die Eltern fürs Studium? Wie viel kostet eine eigene Wohnung? »All das zeigt, dass man den Begriff ›Hotel Mama‹ sehr differenziert betrachten muss«, sagt Sirsch. »Wer ihn darauf reduziert, dass sich jemand daheim ins gemachte Nest setzt, der denkt zu kurz.«
Auch Stefan Schmidt, Professor am Systemischen Institut für Aus- und Weiterbildung am Universitätsklinikum Freiburg, hält die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für einen entscheidenden Faktor. Komplexere Ausbildungswege und eine Welt voller Praktika, verschiedene Beziehungsmodelle – »das alles kostet viel Zeit zum Explorieren, mehr als früher, und beeinflusst die Identitätsfindungsprozesse«, erklärt Schmidt.
»Wenn die elterliche Seite eine gewisse Eigenständigkeit einfordert, entsteht gar nicht erst die Idee von ›Hotel Mama‹«Katja Heumann-Stegner, Psychologische Psychotherapeutin
Eine Zeit, in der eine sichere Homebase viel wert ist. Eltern können dabei durchaus Autonomie im Alltag fordern und fördern. »Wenn die elterliche Seite eine gewisse Eigenständigkeit einfordert bei der Grundversorgung und dem Handling von Konflikten, entsteht gar nicht erst die Idee von ›Hotel Mama‹«, sagt Schmidts Kollegin Katja Heumann-Stegner.
Immer wieder hört die Psychologische Psychotherapeutin, dass das Geld ein Grund dafür ist, warum der Nachwuchs weiter zu Hause wohnt. Je nach Wohnort könne es schwer sein, während der Ausbildung oder während eines Studiums ein eigenes Zimmer zu finanzieren. »Dann wird ein Auszug einfach als Verschwendung gesehen, und es ist für alle Beteiligten finanziell besser, wenn sie gemeinsam im Elternhaus bleiben.«
Dass sich junge Menschen immer länger im »Hotel Mama« verwöhnen lassen, ist eine verbreitete Annahme. Allein: Es gibt dafür keine handfesten Belege. Der Soziologe Dirk Konietzka von der TU Braunschweig hat 2018 gemeinsam mit seinem Kollegen André Tatjes Daten von knapp 30 000 Westdeutschen aus den Jahrgängen 1925 bis 1984 analysiert. Einen deutlichen Anstieg des Auszugsalters konnten die Wissenschaftler nicht finden. »Es gab zwar ein geringfügiges Auf und Ab und in den jüngsten Kohorten eine leichte Tendenz zur Erhöhung. Doch letztlich sind die Ende der 1970er Jahre Geborenen im Mittel nicht später ausgezogen als die in den 1940er Jahren Geborenen«, sagt Konietzka. Bei den Frauen habe sich so gut wie nichts verändert, bei den Männern gab es eher eine wellenförmige Entwicklung. Zur Generation der heute 25- bis 35-Jährigen haben sie allerdings keine Daten.
Das zentrale Motiv für den Auszug: Unabhängig werden
Die eigentlich spannende Frage: Wenn sich Berufseinstieg und Familiengründung deutlich nach hinten verschoben haben, wieso nicht auch der Auszug? Eine belastbare Erklärung habe er nicht, sagt Konietzka, aber eine Interpretation: »Erwachsen zu werden heißt in Deutschland und Nordwesteuropa schon immer, sich vom Elternhaus zu lösen und einen eigenen Hausstand zu gründen. Studien zeigen: Unabhängigkeit ist das zentrale Motiv dafür, dass junge Menschen ausziehen. An zweiter Stelle steht eine Ausbildung oder ein Studium und an dritter ein Partner, mit dem man zusammenleben möchte.«
Was im individuellen Fall den Ausschlag gibt, hat demnach vor allem mit dem Streben nach Autonomie zu tun, einem der Grundbedürfnisse des Menschen. Autonomie entwickelt sich mit zunehmendem Alter, und die Gründung eines eigenen Hausstands ist in diesem Prozess ein bedeutender Schritt. »Hier sehen wir, dass das so genannte Helikopter-Parenting durchaus kontraproduktiv wirken kann«, sagt Bildungsforscherin Ulrike Sirsch. Dann nämlich, wenn zur Wärme und Zuwendung der Eltern ein großes Maß an Kontrolle kommt. Jugendliche verspüren einen wachsenden Drang nach Autonomie, und Eltern sollten darauf reagieren, indem sie sich selbst und ihr Bedürfnis nach Kontrolle zurücknehmen. »Was in der Kindheit eine hierarchische Beziehung war, sollte sich hin zu einem gleichberechtigten Verhältnis auf Augenhöhe verschieben.«
Eine der wichtigsten Aufgaben der Eltern ist es, dem Kind das Gefühl zu geben, selbstständig werden zu können, ohne die Bindung an sie zu verlieren. Dieser Prozess, »Individuation« genannt, verläuft mal mehr, mal weniger erfolgreich, wie Sirsch in einer Studie aus dem Jahr 2022 gemeinsam mit slowenischen Kolleginnen und Kollegen beobachtet hat. Bei jungen Erwachsenen aus Österreich und Slowenien fanden sie vier Typen von Individuation: den abhängigen und den ängstlichen Typ, den individuiert-verbundenen und den individuiert-unabhängigen Typ.
Die beiden Letztgenannten weisen auf eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung hin, mit einer ausgewogenen Balance zwischen Autonomie und einer guten Bindung an die Eltern, wobei der individuiert-unabhängige Typ etwas selbstständiger und weniger verbunden ist. Der abhängige und der ängstliche Typ fürchten beide, die Eltern zu enttäuschen, und entwickeln wenig Selbstwirksamkeit, also die Überzeugung, schwierige Situationen eigenständig meistern zu können. Das habe mit der Erziehung zu tun, berichtet Sirsch: Wenn die Eltern das Kind wenig eigene Erfahrungen machen lassen, beeinträchtigen sie die Entwicklung von Selbstwirksamkeit. Anders gesagt: Muss das Kind sein Zimmer selbst in Ordnung halten, dann macht der Gedanke an eine eigene Wohnung später weniger Angst.
»Es ist Aufgabe der Eltern, Kinder als reife und selbstständige Persönlichkeiten ins Leben gehen zu lassen. Dahinter sollten notfalls eigene Interessen zurückstehen«Stefan Schmidt, Psychologe
Überbehütende Mütter oder Väter fürchten sich womöglich selbst vor dem Tag, an dem die Kinder ausziehen. »Oft haben ja Eltern auch etwas davon, wenn der Nachwuchs weiter zu Hause wohnt«, sagt Heumann-Stegner. »Sie genießen die Rolle des Versorgers und die vertraute Nähe.« Der Auszug ist für viele ein einschneidendes Erlebnis, meist eine Form von Verlust: nicht nur des Kindes, sondern des Elterndaseins. »Das Paar hat plötzlich wieder mehr Zeit für sich und kann oder muss sich ein wenig neu erfinden: Worüber unterhält man sich? Welche sozialen Kontakte waren hauptsächlich über die Kinder getrieben, welche funktionieren auch ohne? Findet man neue gemeinsame Hobbys?« Die Scheidungsrate steigt nach dem Auszug der Kinder deutlich an.
Viele Eltern fragen sich ohnehin, wieso sie den Nachwuchs ohne Not vor die Tür setzen sollen. Der Freiburger Psychologe Stefan Schmidt sieht das Dilemma. Doch er sagt auch: »Es ist Aufgabe der Eltern, Kinder als reife und selbstständige Persönlichkeiten ins Leben gehen zu lassen. Dahinter sollten notfalls eigene Interessen zurückstehen. Wenn ich das Kind im familiären System halte, verhindere ich, dass es eine abgegrenzte und von mir losgelöste Identität entwickelt.« Heißt: den Sprössling besser freundlich vor die Tür setzen, wenn der partout nicht von allein gehen will.
Überall in der EU – die einzige Ausnahme bildet Schweden – ziehen Töchter früher aus als Söhne. In Deutschland betrug 2020 das durchschnittliche Alter beim Auszug aus dem Elternhaus bei Frauen 23 und bei Männern 24,6 Jahre. Das habe vor allem mit der Reifung zu tun, sagt der Psychologe. Frauen seien früher eigenständig und lebten früher in stabilen Partnerschaften als Männer.
Manche Eltern wundern sich vielleicht, wenn der Nachwuchs das Nest nicht verlassen will. »Dann taucht die Frage auf: Ist das normal? Sollte man da was tun?«, erzählt Schmidts Kollegin Katja Heumann-Stegner. Entscheidend ist für sie, ob jemand in der Familie unter der Situation leidet. Fühlen sich alle miteinander wohl, gibt es ein vertrauensvolles Miteinander und genügend Eigenverantwortlichkeit? Dann sei es absolut in Ordnung, wenn die Kinder mit Mitte 20 noch daheim wohnen. Gerade in Krisenzeiten, etwa wenn junge Menschen das Studium abbrechen oder mit einer Pandemie zurechtkommen müssen, hält die Freiburger Psychotherapeutin es nicht für ein Zeichen von Schwäche oder fehlender Autonomie, wieder zu den Eltern zu ziehen oder den Auszug zu verschieben. »Es geht nicht darum, was die Gesellschaft sagt, wann man ausziehen sollte«, sagt Heumann-Stegner, »sondern um eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kind.«
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