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Museen: Hüter verborgener Schätze

Vitrinen voller ausgestopfter Vögel und schubladenweise Insekten, Fledermäuse und gepresste Pflanzen - Museen horten unzählige Objekte. Diese sind von hohem wissenschaftlichem Wert und sollten daher auf jeden Fall für die Nachwelt erhalten bleiben.
Schmetterlingssammlung

Der Inhalt von mehr als 230 000 Vogelmägen, gesammelt zwischen 1885 und den 1940er Jahren, fein säuberlich verpackt und konserviert in kleinen, ordentlich beschrifteten Gläschen: Dieses merkwürdig anmutende Sammelsurium war der "New York Times" im Mai dieses Jahres einen Artikel wert. Schließlich droht ihm die endgültige Vernichtung. Ein Gutteil des Materials ist bereits entsorgt worden – aus Angst, die Präparate könnten krebserregendes Formaldehyd enthalten, wie die US-Tageszeitung berichtet. Die Zukunft des kläglichen Restes ist ungewiss. Dabei hätten die Wissenschaftler damals einen "unvorstellbaren Schatz" zusammengetragen, wie sich die Wildökologin Carola Haas von der Virginia Tech in Blacksburg, USA, gegenüber der "New York Times" äußerte.

"Es ist wirklich unglaublich, dass so etwas verloren geht", beklagt auch Peter Bartsch, Leiter der Abteilung für Sammlungen und Kurator der Fischsammlung im Berliner Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung. Das Forschungsmuseum beherbergt die größte naturkundliche Sammlung Deutschlands mit mehr als 30 Millionen Objekten aus Zoologie, Paläontologie, Geologie und Mineralogie.

Fischpräparate | Im Berliner Museum für Naturkunde lagern allein schon etwa 130 640 in Alkohol konservierte Fische.

Allein Bartsch ist Hüter von rund 130 640 in Alkohol konservierten Fischen, 1100 Fischskeletten und 1750 Trockenpräparaten und Fischhäuten. Irgendetwas davon zu entsorgen, kommt für den Zoologen und leidenschaftlichen Fischforscher nicht in Frage – nicht nur, weil er für seinen Job eine gewisse Sammlermentalität mitbringt, wie Bartsch lachend zugibt. "Es ist völlig unmöglich, den wissenschaftlichen Wert von Sammlungen prospektiv zu prüfen", sagt er. Oft zeigt sich die Bedeutung von Objekten nämlich erst viele Jahre später, etwa weil sich ungeahnte Fragestellungen ergeben oder neue Analysemethoden ein anderes Licht auf die Präparate werfen. So könnte beispielsweise eine spätere DNA-Analyse vormals festgelegte Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb einer Tiergruppe über den Haufen werfen und ein Umdenken erfordern.

Gesche Hohlstein, Pressesprecherin des Botanischen Gartens und des Botanischen Museums Berlin-Dahlem, nennt noch ein weiteres Argument: "Die Sammlungen stellen wissenschaftliche Belege dar – und jeder Forscher hat das Recht, die Arbeit seines Kollegen anhand des Originalmaterials zu überprüfen."

Museen sind hochwissenschaftliche Einrichtungen

Tatsächlich verstehen sich die Museen in erster Linie als wissenschaftliche Einrichtungen, an denen selbst auch Forschung betrieben wird. Und als Anlaufstelle für Wissenschaftler aus aller Welt. Generell gilt daher: horten, horten, horten. "Manchmal verlangen auch die Geldgeber, dass das Material von Forschungsprojekten archiviert wird, damit auf der Grundlage der Ergebnisse weitergearbeitet werden kann", sagt Peter Bartsch. So kommen die teils enormen Investitionen auch späteren wissenschaftlichen Vorhaben zugute. Das passiere aber leider noch viel zu selten.

Vogelsammlung | Immer wieder stoßen Forscher in ihren Museumsarchiven auf neue Arten, die vor langer Zeit gesammelt, aber nicht beschrieben oder falsch zugeordnet wurden.

Eine allgemein gültige Regelung, wie mit wissenschaftlichen Sammlungen zu verfahren ist, existiert in Deutschland indes nicht. Es gibt aber Bemühungen darum. So veröffentlichte der Deutsche Museumsbund erst in diesem Jahr einen Leitfaden zum nachhaltigen Sammeln und zur Abgabe von Museumsgut (Nachhaltiges Sammeln. Leitfaden zum Sammeln und Abgeben von Museumsgut). Er beschreibt das Sammeln als Kernaufgabe der Museen – gemäß des ICOM (International Council of Museums) Code of Ethics for Museums von 2004, in dem es in Artikel 2 heißt: "Museen haben die Aufgabe, ihre Sammlungen als Beitrag zum Schutz des natürlichen kulturellen und wissenschaftlichen Erbes zu erwerben, zu bewahren und fortzuentwickeln."

Zu den allgemein anerkannten Grundlagen der Museumsarbeit gehört nach Aussagen des Deutschen Museumsbunds die Verpflichtung, alle einmal aufgenommenen Sammlungsgegenstände für alle Zeiten aufzubewahren. Ausmisten ist demnach nicht vorgesehen beziehungsweise muss ein Ausnahmefall bleiben, der strengen Kriterien unterliegt. So sollen abzugebende Gegenstände zunächst anderen Museen und öffentlichen Einrichtungen angeboten werden, erst dann auf dem freien Markt. Das Vernichten von Objekten bleibt die allerletzte Option. Und selbst dann bedarf es einer ausführlichen Prüfung durch externe Gutachter. Zudem verlangt der Deutsche Museumsbund eine ausführliche Dokumentation aller vernichteten Gegenstände, die wiederum im Museum archiviert wird. Im Fall der amerikanischen Vogelmägen ist nicht einmal das gesichert. Auch den Dokumentationskarten der Gläschen drohe die Entsorgung, wie die "New York Times" schreibt.

Dokumente ihrer Zeit

Gerade naturwissenschaftliche Museen besitzen oft äußerst alte Sammlungen, die zurückgehen auf die Zeit der Aufklärung und der großen Expeditionsfahrten. So beherbergt das Museum für Naturkunde in Berlin Objekte von Alexander von Humboldts Forschungsreisen, die also nicht nur von naturwissenschaftlichem, sondern auch von historischem Wert sind.

Die wirklich wertvollen Stücke seien aber nicht die Kuriositäten, die gerade in sehr alten Sammlungen zu finden sind, verrät Ulrich Schmid, stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung für Bildung und Öffentlichkeitsarbeit des staatlichen Museums für Naturkunde in Stuttgart. "Eine ganz besondere Bedeutung haben die so genannten Typen, die Wissenschaftler als Referenzexemplar hinterlegen, wenn sie etwa eine neue Art beschreiben", erklärt er. Und dann seien alte Sammlungen wichtig, da sie Auskunft darüber geben können, ob eine Art seltener wird oder wie sich ein Ökosystem verändert.

Raupennest | Weltweit gibt es Millionen Insektenarten, nur ein Bruchteil davon ist schon bestimmt und archiviert. Und auch in den Museen stoßen Forscher immer wieder auf neue Spezies – hier Raupen in der Sammlung des Berliner Museums für Naturkunde.

In ebendiese Kategorie fällt auch besagte amerikanische Sammlung. "Das Traurige an diesem Beispiel ist, dass die Sammlung mit einer klaren Zielvorgabe entstand und heute noch einen enormen wissenschaftlichen Wert hat", so Peter Bartsch. Der Inhalt der Vogelmägen verrät nämlich viel über die Nahrungszusammensetzung zum Zeitpunkt der Sammlung und damit über die Verbreitung von bestimmten Insekten und Pflanzen. Das gibt wiederum Aufschluss über das Ökosystem der damaligen Zeit. Vergleicht man das Ergebnis mit aktuellen Analysen, lässt sich eine Aussage über die Entwicklung der Umwelt machen, über die Artenvielfalt, die Klimaveränderung und so weiter. "Letztlich erlaubt das sogar, Modelle für eine künftige Entwicklung zu erstellen, um beispielsweise gezielt Naturschutzprojekte zu etablieren", verrät Ulrich Schmid. Ganz in diesem Sinne arbeiten die Forscher der Stuttgarter Naturkundemuseen an einem Pflanzenatlas, in dem sie flächendeckend alle Arten erfassen, mit älteren Daten, etwa aus dem Stuttgarter Herbarium, vergleichen und so die Veränderungen dokumentieren.

Letztlich hat aber jedes einzelne Objekt seinen ganz besonderen Wert – auch das hundertste Exemplar ein und derselben Spezies. Mit dieser Vorstellung mag sich gerade der Laie schwertun: Was soll man schon mit Vitrinen voller ausgestopfter Vögel anfangen und mit Schubladen, die vor Insekten überquellen? Auch hier nennt Schmid ein Beispiel, bei dem Freilandforscher auf Museumssammlungen zurückgriffen: die Untersuchung der Mückenfledermaus.

Das Beispiel der Mückenfledermaus

Das Flattertier wurde im Jahr 2000 erstmals wissenschaftlich beschrieben. Es handelt sich um eine seltene Art, eng verwandt mit der weit häufigeren Zwergfledermaus. Für die Forscher stellte sich die Frage, ob die Tiere irgendwann nach Deutschland eingewandert sind oder unerkannt schon lange bei uns lebten, weil sie sich kaum von ihren Verwandten unterscheiden. Bei der Antwort half unter anderem das Stuttgarter Archiv: "Wir haben eine sehr umfangreiche Fledermaussammlung aus rund 200 Jahren", sagt Schmid. "Und die hat gezeigt, dass beide Arten bei uns immer parallel zueinander existierten – zumindest in diesem Zeitraum."

Krokodile im Glas | Auch größere Wirbeltiere werden in Konservierungsmitteln eingelegt, um sie für die Nachwelt zu erhalten – hier Krokodile aus der Berliner Sammlung.

Gesche Hohlstein nennt ein vergleichbares Beispiel aus dem Botanischen Museum in Berlin. In dem Fall unterstützte das umfassende Herbar, also die Sammlung gepresster Pflanzenteile, die Wissenschaft sogar fachübergreifend. "Wir bekamen eine Anfrage von einem Zoologen, der an Kastanienminiermotten forscht, deren Raupen der Rosskastanie zu schaffen machen." Lange Zeit war unklar, woher der Schädling stammt, der Biergärten verwüstet, weil sein Wirtsbaum schon vorzeitig braune Blätter bekommt und sein Laub abwirft. Wurde er möglicherweise aus Südostasien eingeschleppt? "Der Zoologe durchforstete sämtliche Rosskastanienexemplare in unserem Herbar – und wurde fündig." Selbst noch in Exemplaren von 1879 ließen sich Raupen nachweisen – und zwar in Blättern, die vom ursprünglichen Standort der Bäume in Griechenland stammten. Das heißt, der Schädling existierte dort schon mehr als 100 Jahre vor seiner wissenschaftlichen Entdeckung. DNA-Analysen legen sogar nahe, dass er in dieser Region seinen Ursprung hat und von dort aus als blinder Passagier an Fahrzeugen zu uns einwanderte.

Solche Entdeckungen sind aber natürlich nur möglich, wenn in den Museen nicht nur gehortet wird, sondern ebenso sinnvoll geordnet. Das ICOM schreibt dazu: "Das Museum soll Richtlinien festlegen und anwenden, die sicherstellen, dass alle (vorübergehend oder dauerhaft) in seinem Besitz befindlichen Sammlungen und zugehörigen Informationen ordnungsgemäß dokumentiert werden, für gegenwärtigen Gebrauch verfügbar bleiben und an zukünftige Generationen weitergegeben werden, und zwar in einem unter Berücksichtigung heutiger Kenntnisse und Mittel möglichst guten und sichtbaren Zustand."

Digitale Zukunft?

In diesem Sinne arbeiten etwa die Mitarbeiter des Botanischen Museums in Berlin an einer Digitalisierung des Herbars. Das soll künftig den Zugriff auf die vorhandenen Exemplare erleichtern – selbst für Forscher auf anderen Kontinenten. Seit 2000 wurden rund 120 000 der mehr als 3,5 Millionen Herbarbelege – die ältesten darunter 300 Jahre alt – digital erfasst. "Das ganz große Ziel wäre, irgendwann die ganze Sammlung zu digitalisieren, aber das ist sehr zeit-, personal- und kostenintensiv, und wir müssen Prioritäten setzen", so Hohlstein bedauernd.

Schmetterlingssammlung | Die Präparate in den Museen sind nicht nur wertvolle wissenschaftliche Grundlagen: Ins rechte Licht gerückt, sind sie auch äußerst ästhetisch und fotogen.

Doch egal wie akribisch gesammelt wird und wie ausgeklügelt und modern die Ordnungssysteme sein mögen: Ein Verlust, auch wertvoller Exemplare, lässt sich wohl nie ganz verhindern. Zu den größten Feinden der Objekte zählen etwa Kriege, Brände, Wasserschäden und der Museumskäfer. Und gerade sehr alte Sammlungen folgen manchmal einer Ordnung, die sich aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehen lässt, etwa weil die wissenschaftlichen Grundlagen dafür längst überholt sind. Aber gerade das fördert manchmal auch Überraschendes zu Tage. So entdeckten die Mitarbeiter des Naturkundemuseums in Stuttgart in ihrem Fundus ein kleines, unscheinbares Kärtchen. "Es erinnerte ein wenig an eine Postkarte, auf die ein Kind kleine Schneckenhäuser geklebt hat. Schließlich entpuppte es sich als erster echter Fossilienstammbaum, den ein Wissenschaftler 1863 erstellt hat", erzählt Ulrich Schmid.

Die wohl spektakulärste "Wiederentdeckung" zumindest in Deutschland ereignete sich 2004 im Archiv der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim: Beim Umstrukturieren der Depots kamen 19 menschliche Mumien aus verschiedenen Regionen der Welt zum Vorschein. Die Inventarbücher gaben kaum Auskunft über die Objekte, einige waren sogar als Kriegsverlust vermerkt. Dieser überraschende Fund gab den Anstoß für ein großes Forschungsprojekt, bei dem die Mumien mit modernsten Methoden wie Computertomografie und DNA-Analyse untersucht wurden, um ihre Herkunft und Geschichte zu ermitteln – gerade so, als ob es sich um völlig neue Funde handelte. Dabei gelang erstmals der Beweis, dass nicht allein die Ägypter die Kunst des Einbalsamierens für eine gezielte Mumifizierung beherrschten: Die Methoden kamen ebenso in Altamerika zum Einsatz. Das Stöbern im Museumskeller endete schließlich als Paradebeispiel dafür, wie sich aus alten Objekten völlig neue Erkenntnisse gewinnen lassen.

Ob die kläglichen Reste der amerikanischen Vogelmagensammlung dereinst nochmals einen Beitrag zur Wissenschaft leisten dürfen, ist dagegen ungewiss. Die Gläschen wanderten zwischenzeitlich in eine Kunstgalerie und mittlerweile in die privaten Räume der Galeriedirektorin. Dort warten sie auf eine ungewisse Zukunft, und wer weiß: vielleicht auch eines Tages auf ihre Wiederentdeckung.

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