Hirnforschung: Human Brain Project vor radikaler Neuorganisation
Das Human Brain Project (HBP), eines von zwei milliardenschweren EU-Forschungsflaggschiffen, steht vor massiven Umbrüchen. Nachdem im Sommer 2014 ein offener Protestbrief von zunächst 150 teils sehr renommierten Neurowissenschaftlern an die EU-Kommission einen in der Wissenschaft beispiellosen Eklat auslöste, deuten sich in allen kritisierten Bereichen radikale Veränderungen an.
So soll die bisherige Führung des Projekts, eine Troika um den umstrittenen Projektkoordinator Henry Markram, durch die Riege der 22 Direktoriumsmitglieder des HBP ersetzt werden. Zudem verliert die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne (EPFL), an der Markram forscht, ihre zentrale Funktion als Ansprechpartner und verantwortliche Institution gegenüber der EU. An ihre Stelle soll ein neu zu bildender Rechtsträger aus fünf über Europa verteilten Institutionen treten. Außerdem soll den kognitiven Neurowissenschaften eine zentrale Rolle als verbindende Klammer der Subprojekte des HBP zukommen, wofür mindestens zehn Prozent des Forschungsetats bereitgestellt werden. Fernziel ist ab sofort die Schaffung einer europäischen Forschungsstruktur in den Neurowissenschaften nach dem Vorbild anderer Großprojekte wie dem CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf.
Ursprünglich war das Human Brain Project auf den Weg gebracht worden, um mit Hilfe von Methoden der Informationstechnologie und einer Förderung von knapp 1,2 Milliarden Euro für Europa den Spitzenplatz in den Neurowissenschaften zu erringen. Technologische Plattformen wie Supercomputer und neue Datenbanken sowie eigens dafür entwickelte Softwarewerkzeuge sollten die Grundlagen hierfür schaffen. Gleichzeitig wollte man in den zehn Jahren, die das Projekt läuft, Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer besser verstehen und behandeln lernen. Das große Ziel: der Aufbau einer Computersimulation des menschlichen Gehirns, die bei den molekularbiologischen Bausteinen der Zellen beginnt und womöglich bis zur Nachbildung komplexen menschlichen Verhaltens reicht.
Doch viele Neurowissenschaftler hielten diese Vision von Beginn an für unerreichbar. Als im Mai 2014 das dreiköpfige Leitungsteam bestehend aus Markram, dem Heidelberger Physiker Karlheinz Meier und dem klinischen Neurowissenschaftler Richard Frackowiak auch noch ein den kognitiven Neurowissenschaften gewidmetes Subprojekt ersatzlos strich, gingen große Teile der Community auf die Barrikaden – und veröffentlichten im Juli 2014 einen Protestbrief. Dieser scheint nun Wirkung zu zeigen.
"Wir brauchen ein System der 'Checks & Balances'"Wolfgang Marquardt
Die anstehenden Korrekturmaßnahmen leiten sich aus zwei Prozessen ab, die seit Herbst 2014 abliefen und nun kurz vor dem Ziel stehen. Auf den Brandbrief reagierte das HBP im September 2014 mit der Einsetzung eines Schlichters. Wolfgang Marquardt, seit Juli 2014 Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich und mehrere Jahre Vorstand des Wissenschaftsrates, übernahm diese Aufgabe und rief einen Mediationsprozess ins Leben. Man habe es in dem Konflikt mit zwei Parteien zu tun, erläutert Marquardt. Einerseits gebe es die Realisten aus der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung: "Viele von denen halten Ideen wie die, das ganze Gehirn im Computer zu simulieren, für Spinnerei." Auf der anderen Seite stünden die Visionäre. Sie wollten die Grenzen dessen, was man im Moment für möglich hält, verschieben. Dazu setzten sie die Ziele sehr hoch und seien auch bereit, mit einem hohen Risiko des Scheiterns zu leben. "Um ein EU-Flaggschiffprojekt an Land zu ziehen, war ein visionärer Ansatz und ein hohes Risiko Bedingung", so Marquardt. Am 9. März 2015 übergab er die Empfehlungen der beiden Mediationsarbeitsgruppen "Governance" und "Science" dem 22 Mitglieder starken HBP-Direktorium, das nun über sie beraten und am 17. oder 18. März 2015 über sie abstimmen wird.
Auch EU-Expertenrat legt nun Bericht vor
Bereits am 6. März 2015 veröffentlichte ein unabhängiger Expertenrat der EU-Kommission eine Zusammenfassung des ersten Jahresberichts über das HBP. Dieser war im Zeitplan der EU-Flaggschiffprojekte standardmäßig vorgesehen, hat aber durch die Ereignisse des Sommers 2014 stark an Bedeutung gewonnen. In seiner Stoßrichtung zeigen sich deutliche Parallelen zu den Berichten der Mediationsgruppen. Beide verlangen eine Demokratisierung der Führungsstrukturen. "Es bedarf einer sauberen Gewaltenteilung", sagt Schlichter Marquardt. "Wir brauchen ein System der 'Checks & Balances' zwischen der Ebene der wissenschaftlichen Entscheidungsträger, der Exekutivebene, die die Entscheidungen umsetzt, und einer Kontrollebene. Das ist im Moment nicht gegeben."
Die Mediationsgruppen empfehlen zudem eine Dezentralisierung der Organisationsstruktur weg von der EPFL als alleinigem EU-Ansprechpartner. Ein neuer Rechtsträger aus den fünf "engagiertesten" Institutionen in verschiedenen europäischen Ländern solle an dessen Stelle rücken. "Engagement ist dabei nicht unbedingt gleichzusetzen mit der Fördersumme in Euro", sagt Marquardt. Entscheidend sei auch die wissenschaftliche Bedeutung innerhalb des Projekts. Diese neue dezentrale Struktur könnte Vorläufer für eine dauerhafte überstaatliche Institution zur Neuroforschung in Europa nach Beispiel etwa des CERN sein.
Dauerhaftes Comeback für die Neurowissenschaft
Schließlich sollen die kognitiven Neurowissenschaften nach ihrem unrühmlichen Rauswurf ein Comeback erleben. Die Mediatoren wollen sie als verbindende Klammer zwischen den einzelnen Subprojekten installieren. Dabei sollen sie einerseits die Grundlagenforschung der verschiedenen Bereiche des HBP miteinander verknüpfen und andererseits die Zweckmäßigkeit der neu entwickelten Computermodelle und Werkzeuge nachweisen. Dazu wollen die Schlichter ihnen mindestens zehn Prozent des Forschungsbudgets zur Verfügung stellen. Auch die EU-Experten sehen diese Summe für die "Untersuchung kognitiver Architekturen" vor.
Die EU fordert eine neue "Kultur der realistischen Kommunikation"
Die Verfasser des EU-Berichts bestätigen zwar im ersten Satz der Zusammenfassung ihres Berichts die "gute Qualität der Arbeit" des HBP-Konsortiums. Danach folgen aber fast ausschließlich Verbesserungswünsche, teils in ungewohnt deutlicher Sprache. So bemängeln die Experten, das HBP entwickle sich "nicht mit dem zu erwartenden Maß an Verflechtung" und die verwendeten Kontrollmechanismen reichten nicht aus, um dieses Ziel zu erreichen.
Zu den konkreten Maßnahmen, die die EU-Experten fordern, zählt die Einrichtung einer Taskforce zur besseren Verflechtung von Subprojekten und den sechs Technologieplattformen. Außerdem soll eine zu entwickelnde Managementstruktur dafür sorgen, dass die Neurocommunity die Technologieplattformen kennen lernt, annimmt und in ihre alltägliche Arbeit als Werkzeuge einbezieht. Diese Maßnahmen sollen "schnellstmöglich" umgesetzt werden, spätestens bis Juni 2015 will die EU-Kommission konkrete Veränderungen sehen.
Zudem müsse eine neue Kultur der "realistischen Kommunikation" etabliert werden. Die EU-Experten fordern, "um jeden Preis" die Erzeugung zu hoher Erwartungen zu verhindern. Schlichter Marquardt: "Man sollte nicht mehr den Eindruck erwecken, dass man mit den Ergebnissen des HBP Krankheiten heilen oder Verhaltensweisen vorherbestimmen können wird."
HBP teilt Änderung der Führungsstruktur mit
Und das Human Brain Project hat bereits auf die beiden Berichte reagiert. Am 3. März 2015 teilte das Konsortium eine Änderung seiner Führungsstruktur mit. Die Einrichtung des dreiköpfigen Exekutivkomitees sei erforderlich gewesen, um das Projekt während der Anlaufphase schnell und effizient auf den Weg bringen zu können. Da man diese "Ramp-up"-Phase nun erfolgreich hinter sich gebracht habe, könnten Rechte und Pflichten des Komitees dem Direktorium übertragen werden, schreibt das HBP in seiner Mitteilung. Kritiker Alexandre Pouget formulierte gegenüber "Nature", die Entscheidungsgewalt in die Hände des Direktoriums zu legen, sei ein "starkes Signal". Drei neu formierte Arbeitsgruppen sollen sich konkret um die Umsetzung der Wünsche der EU-Experten und der Schlichter kümmern.
Henry Markram sagte gegenüber dem Magazin "Research Europe", das Projekt sei nun auf einem "stabilen Weg" zu einer europäischen Forschungsinfrastruktur. Das sei jetzt ein klares Ziel, wenn es auch Zeit brauche. Philippe Gillet, Vorsitzender des HBP-Direktoriums, hofft, dass man die Phase der Wachstumsschmerzen hinter sich lassen kann. "Als das Projekt begann, waren wir Teenager", äußerte er gegenüber "Nature". "Jetzt sind wir erwachsen und müssen uns anpassen."
Viel Zeit bleibt indes nicht. Das Konsortium muss einen überarbeiteten Entwurf des Forschungsrahmenvertrags mit der EU fertigstellen, der die restliche Laufzeit des Projekts bestimmen wird. Ursprünglich war dafür eine Terminierung auf Ende Mai 2015 vorgesehen. In der Mitteilung der EU zum Expertenbericht steht an selber Stelle nun, man erwarte den Entwurf "später in diesem Jahr".
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