Kulturerbe: Israels Archäologie im Dienst der Bauindustrie
Das kleine Gesicht aus Kalkstein zeugt von einer längst vergangenen Welt. Zwei Punkte bilden die Augen, und ein Strich deutet ganz leicht ein Lächeln an. Die Figurine ist zirka 7000 Jahre alt und diente womöglich als Ritualgerät, vielleicht war es aber auch ein Amulett oder einfach nur eine Puppe. Sicher ist jedoch: Das daumengroße Köpfchen kam zusammen mit mehreren dutzend Figürchen, von denen die meisten Ziegen und Schafe darstellen, bei den fast drei Jahre andauernden Grabungen in En Esur ans Licht, etwa 52 Kilometer nördlich von Tel Aviv.
Die Grabung in En Esur, das auch unter dem arabischen Namen Ein Asawir bekannt ist, »war ein außergewöhnliches Projekt«, sagt Dina Shalem. Die Archäologin leitete die Ausgrabung gemeinsam mit ihren Kollegen Yitzhak Paz und Itai Elad von der israelischen Altertumsbehörde (IAA). In der frühen Bronzezeit, vor ungefähr 5000 Jahren, war En Esur »eine Megacity, die größte bisher bekannte Stadt in der südlichen Levante«, sagt Paz. Diese Region umfasst heute Israel, die Palästinensergebiete und Jordanien. Für Paz sei es »eine einmalige Erfahrung« gewesen, En Esur frei zu legen.
Die frühe Metropole wurde auf den Überresten einer kleinen Siedlung erbaut, aus der auch das steinerne Gesicht stammt. En Esur erstreckte sich vermutlich auf einer Fläche von ungefähr 65 Hektar. 5000 bis 6000 Menschen könnten dort gelebt haben. Damit war es 20-mal größer als andere Ortschaften, die zu jener Zeit in der Region existierten. Seine Blüte verdankte die Stadt wohl einer ganzjährig fließenden Wasserquelle. Die Bewohner bauten Weizen, Gerste, Linsen, Trauben und Oliven an. Und sie hielten Kühe, Schweine, Schafe und Ziegen.
Hinterlassenschaft einer komplexen Gesellschaft
Im November 2019, als die Grabungen noch liefen, war deutlich zu erkennen, wie mächtig der Ort einst war. Weithin erstreckten sich die Überreste von Hausfundamenten und Gassen. Ein 600 Quadratmeter messender Tempel umgab zwei massive Steinbecken, von denen das größere 3,3 Meter in der Länge maß. Es war gefüllt mit verbrannten Knochen, vermutlich den Resten von Opfertieren. »Wir waren wirklich erstaunt, wie dicht die Stadt bebaut war«, sagt Dina Shalem. Geschätzte fünf Millionen Keramikscherben haben die Forscher gefunden. »Tongefäße, Feuerstein, Figurinen, Gräber – alles deutet auf eine komplexe Gesellschaft hin«, sagt Shalem.
Für die Archäologen gab es neben der Grabungsarbeit noch eine Menge anderes zu tun, Fundstücke mussten beschriftet und verpackt werden. Doch die Ausgräber waren nicht die einzigen, die an der Stätte gut beschäftigt waren. Vor Ort arbeiteten auch Ingenieure. Sie führten Messarbeiten für Netivei Israel durch. Dieses vom Staat geführte Unternehmen baut im Land Straßen und Brücken. Netivei Israel hat zudem die Grabungen in En Esur finanziert. Die waren überhaupt erst notwendig geworden, weil an dieser Stelle ein Autobahnkreuz geplant wurde. Die prähistorische Stadt lag daher nur kurze Zeit offen. Im Winter wurde sie unter Erde und Zement begraben.
En Esur ist riesig, und der größte Teil der Bronzezeitstadt schlummert immer noch unberührt in der Erde. Aber der Tempel und die frei gelegten Abschnitte werden für Jahrzehnte oder sogar länger unter Asphalt verborgen bleiben. Kritiker sind davon überzeugt, dass dieses wichtige archäologische Zeugnis nie wieder ans Licht kommen wird.
Nur weil gebaut wird, wird überhaupt gegraben
Noch in diesem Jahr könnte es an hunderten archäologischen Stätten ganz ähnlich laufen. Der Grund: Die meisten Ausgrabungen in Israel sind Notgrabungen, durchgeführt von der staatlichen Altertumsbehörde Israel Antiquities Authority (IAA), die alle Funde und Fundorte im Land beaufsichtigt. Bei den Rettungsarbeiten dokumentiert sie Überreste, an deren Stelle Bauprojekte geplant sind. Allerdings verhindert sie es kaum, dass eine Fundstätte überbaut wird. Zudem unternehme die IAA nur selten Versuche, zumindest Teile eines Fundorts vor der Abräumung zu bewahren, sagt Yonathan Mizrachi. Er ist Geschäftsführer von Emek Shaveh, einer israelischen Nichtregierungsorganisation in Jerusalem, die sich für den Schutz des Kulturerbes einsetzt.
Mehr als die Hälfte aller 424 Grabungslizenzen im Jahr 2019 vergab die IAA für Rettungsarbeiten. Nachdem die Archäologen die Plätze ausgegraben und wichtige Funde geborgen hatten, wurden in fast allen Fällen die Bauprojekte planmäßig begonnen, sagt Mizrachi.
Nicht nur in Israel werden bedeutende Stätten mit Asphalt und Beton versiegelt, erklärt Mizrachi. In der Türkei zum Beispiel versinkt die 12 000 Jahre alte Stadt Hasankeyf am Tigris allmählich im Stausee des neuen Ilısu-Damms. Doch einige Archäologen sind überzeugt davon, dass die Lage in Israel verglichen mit anderen Ländern besonders schlimm ist. Ein großes Problem sei, dass sich der Etat der IAA größtenteils aus Rettungsgrabungen speist – und der wichtigste Bauträger im Land sei die Regierung, sagt die Archäologin Uzi Dahari, ehemalige stellvertretende Direktorin der IAA. Und das Land baut in rasender Geschwindigkeit, um mit der wachsenden Bevölkerung Schritt zu halten. Die Archäologen bemängeln zudem, dass die Regierung eher jüdische Stätten erhalten würde, insbesondere in Jerusalem, als solche, die auf anderen Religionen beruhen.
In Israel, sagt Mizrachi, »gibt es keine klar definierten Regeln oder irgendeine Übereinkunft darüber, was bewahrt und was zerstört werden soll«. Der Chef der archäologischen Abteilung der IAA, Gideon Avni, stimmt dem allerdings nicht zu. Seine Behörde würde versuchen, die Bauprojekte nicht erst nach einer Rettungsgrabung zu verhindern, sondern bei besonders bedeutenden Stätten schon im Voraus einschreiten. Avni betont, die IAA würde sich überdies nach den strengen Kriterien der UNESCO richten, wenn es darum ginge zu entscheiden, ob ein Fundort erhalten, überdacht oder überbaut werden soll. Zudem: »Alles, was wir tun, unterliegt öffentlicher und professioneller Beobachtung. Überdies versucht unser interner Apparat, genau solche Interessenkonflikte zu verhindern.«
Einige Archäologen in Israel weisen darauf hin, dass viele Stätten überhaupt nicht ausgegraben werden müssten, wenn es nicht die Bauprojekte gäbe. Diese würden erst den Grund – und die Finanzierung liefern. Angesichts der schnell wachsenden Bevölkerung könne das Land jedoch nicht so viele Stätten bewahren, wie es die Kritiker gerne hätten, erklärt Avni. »Ich würde mir wünschen, dass das ganze Land voll mit Archäologie wäre. Aber meine Kinder brauchen auch einen Platz zum Leben.«
Wo die Gelder für die Archäologie herkommen
Verglichen mit anderen Mittelmeerländern liegen in Israel sehr viele Fundplätze auf sehr engem Raum, weiß Archäologe Uzi Dahari. Etwa 35 000 Fundorte verteilen sich auf 22 145 Quadratkilometer. An durchschnittlich 200 bis 300 Fundstellen pro Jahr finden Notgrabungen statt. Sobald jedoch die Entscheidung ansteht, ob die Bauarbeiten trotz archäologischer Entdeckungen fortgesetzt werden sollen, gerät die IAA jedes Mal in einen Interessenkonflikt, weil vornehmlich die Bauindustrie die Archäologenbehörde finanziert, erklärt Dahari.
2019 entfielen 83 Prozent des IAA-Haushalts von insgesamt 426 Millionen Schekel (über 110 Millionen Euro) auf Rettungsgrabungen. Das Geld floss aus den Bauprojekten. »Die Aufgabe der IAA ist es, archäologische Stätten zu restaurieren und zu schützen, aber sie sollen gleichzeitig einem Bauherrn sagen: ›Bauen Sie nicht, denn dies ist eine archäologische Stätte‹ – woher wird dann das Geld für die IAA kommen? Das ist ein großer Widerspruch«, sagt Dahari. »Ich gebe nicht der israelischen Antikenbehörde die Schuld«, fährt der Forscher fort, »sondern ich gebe der Regierung die Schuld, wegen der bestehenden Haushaltsregelung für Rettungsgrabungen«.
Yorke Rowan, Archäologe an der University of Chicago, stimmt zu. »Das ist ein widersprüchlicher Aspekt in der Arbeitsweise der IAA: Eine so wichtige Behörde ist von der Finanzierung durch die Bauindustrie abhängig.« Rowan hatte an früheren Ausgrabungen in En Esur teilgenommen. Er untersuchte Steinschüsseln, Mörser und Mühlen aus der Zeit von 5000 bis 3000 v. Chr. Seines Erachtens bestehe das Problem darin, dass die IAA »den Auftrag hat, archäologische Stätten und das Kulturerbe zu erhalten wie zu schützen, dass die Finanzierung aber an die Erfüllung von Bauprojekten geknüpft ist«.
Was das Bevölkerungswachstum mit Archäologie zu tun hat
Zu diesem Dilemma trägt indirekt die rasch wachsende Bevölkerung bei. Israel verzeichnete 2018 eine Fertilitätsrate von 3,1 Kindern pro Frau. Zum Vergleich: Die USA liegen bei 1,7, und der Durchschnitt in den Ländern der OECD, der auch Israel angehört, liegt bei 1,6. Zurzeit zählt Israel mehr als neun Millionen Einwohner. Laut des dortigen Statistischen Zentralamts wächst die Bevölkerung bis 2065 auf voraussichtlich 20 Millionen Menschen an. Damit würde es zu einem der am dichtesten besiedelten Ländern der Welt werden.
Die Auswirkungen dieses Bevölkerungsbooms sind in ganz Israel klar zu erkennen: An den Stadträndern entstehen neue Viertel eng bebaut mit Hochhäusern, mehrspurige Autobahnen durchziehen das Land, Einkaufszentren und Industriegebiete prägen die Landschaft. Nach Angaben von HaMaarag, einem Zusammenschluss von Umweltagenturen in Jerusalem, wurden zwischen 2014 und 2017 ungefähr 107 Quadratkilometer unbebautes Land versiegelt oder neu landwirtschaftlich genutzt.
Weil viele Bauvorhaben auf das stete Bevölkerungswachstum zurückgehen, kann sie die IAA kaum unterbinden, gibt Uzi Dahari zu bedenken. Die Altertumsbehörde »findet einfach keinen Mittelweg zwischen den Bedürfnissen der Landentwicklung und dem Schutz archäologischer Stätten«. In Daharis Amtszeit hat die IAA etwa 700 der insgesamt 35 000 Fundorte zu besonders wichtigen Stätten erklärt und sie für Bauprojekte gesperrt. Aber einige davon »sind nur teilweise geschützt«, sagt Dahari.
Dazu gehört auch Tel Beit Shemesh aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Die Siedlung war womöglich ein großes Zentrum für die Olivenölproduktion. Vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden lag dieser Ort im Grenzgebiet zweier verfeindeter Bevölkerungsgruppen. Deshalb stufen die Forscher den Fundplatz als bedeutend ein. Es hätte Jahrzehnte gedauert, Tel Beit Shemesh zu erforschen, aber bald soll eine vierspurige Autobahn über sie hinweggehen. Aus Sicht von Dahari sei das ein Verbrechen gegen die Archäologie. IAA-Archäologiechef Avni räumt zwar ein, dass das Bauprojekt in Tel Beit Shemesh »ein sehr, sehr schmerzhafter Kompromiss für uns war«. Es ging aber darum, zwischen dem Erhalt einer archäologischen Stätte und einer Autobahn abzuwägen, die bis zu 250 000 Menschen brauchen würden. Man plane jedoch, den Fundplatz zu rekonstruieren – in einem Park, der auf einer Brücke über der Autobahn entstehen soll.
Das Schicksal einer alten Bergstadt
Die Zeit läuft auch für ein zirka 2000 Jahre alte Bergsiedlung namens Nebi Zechariah ab. Die Grabungsfläche liegt in einem Industriegebiet am Rand von Modiin, einer Stadt etwa 26 Kilometer nordwestlich von Jerusalem. Die frei gelegten Bauten wirken gottverlassen. Die Steinmauern, Durchgänge und Mosaikböden sind mit Dornensträuchern und Unkraut überwuchert. Unweit preist eine Plakatwand ein neues Industrie- und Logistikzentrum an. Die Werbefläche ist überklebt mit einem roten Banner: »Ausverkauft«. Und in der Ferne sind die Hochhäuser der wachsenden Stadt Modiin zu erahnen. Laut Stadtplanung sollen dort bis 2040 ungefähr 43 000 neue Wohnungen gebaut werden. Denn bis dahin wird sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppeln, von 93 000 auf schätzungsweise 240 000. Und die neue Wohnsiedlung soll im Industriegebiet stehen und damit auch Nebi Zechariah überdecken.
Die antike Stadt war einst ein belebter Ort. Sie entstand in römischer Zeit um 63 v. Chr. als jüdische Siedlung und war durchgängig bewohnt – von Polytheisten, byzantinischen Christen und Muslimen. Die Gruppen siedelten dort bis ins 11. Jahrhundert. Dann zwang eine durch einen Klimawandel bedingte Dürre die Menschen, den Ort zu verlassen. Die Bewohner hatten bis dahin prunkvolle, mit Mosaiken ausgelegte Häuser errichtet, christliche Kreuze und griechische Inschriften in ihre Olivenpressen geritzt und Glasgewichte zum Wiegen von Münzen hergestellt, die sie arabisch beschrifteten.
»Solche Stätten haben viel Interessantes zu berichten. Sie belegen, dass die ländliche Bevölkerung kontinuierlich vom alten Palästina über die römische bis in die Zeit der Kreuzfahrer dort siedelte«, sagt Avni. »Und sie zeigen, dass verschiedene Gemeinschaften in einer Siedlung zusammenlebten.«
Das würde allerdings nicht bedeuten, dass die Entscheidung falsch sei, den Fundort zu überbauen, erklärt Avni. Die Siedlung sei nur eine von 400 ähnlichen Stätten aus jener Zeit in Israel. »Sie ist nicht einzigartig, wenn man das ganze Land in den Blick nimmt«, sagt Avni. Das Bevölkerungswachstum führe unweigerlich dazu, Kompromisse einzugehen. Trotzdem »ist es sehr schade aus der Sicht eines Bürgers, dass ein solcher Fundplatz zerstört wird – ein wunderschöner Ort, der als archäologischer Park hätten erhalten werden können«. Aber das wird kaum passieren. Eyal Malul, ein Sprecher von Modiin, betont, dass ein Teil des Grundstücks für Bauprojekte ausgewiesen ist.
Nebi Zechariah und andere Stätten dieser Art würden womöglich erhalten bleiben, wenn sie sich besser ins nationale Narrativ Israels einbinden ließen, meint Yonathan Mizrachi von Emek Shaveh. »Seit Generationen beschäftigt sich die israelische Regierung mit der jüdischen Geschichte«, erklärt er. Und sie hege großes Interesse daran, diesen Teil der Geschichte durch die Archäologie zu erhalten. Wichtigstes Beispiel ist die Davidsstadt. Sie liegt in Ostjerusalem, im palästinensischen Viertel Silwan. Die Ir David Foundation (Elad) hat von der Regierung die Erlaubnis erhalten, dort zu graben und den dazugehörigen Nationalpark zu betreiben. Laut Elad habe der biblische König David vor 3000 Jahren einen Palast in der Davidsstadt erbauen lassen. Die Organisation sagt über sich selbst, dass sie sich »dem Erhalt und der Entwicklung der biblischen Davidsstadt widmet«.
Allerdings ist es unter Archäologen stark umstritten, ob das große Bauwerk, das Elad als Davidspalast identifiziert, tatsächlich aus der mutmaßlichen Zeit des biblischen Königs stammt und ob der Fundort überhaupt mit ihm in Verbindung gebracht werden kann. »Die Deutung von Elad beruht auf einer biblischen Geschichte, nicht auf archäologischen Erkenntnissen. Doch Elad zeigt sich so lange zufrieden, so lange ihnen die Archäologie nicht widerspricht«, sagt Raphael Greenberg, Archäologe an der Universität Tel Aviv. »Die Organisation wird von der israelischen Regierung unterstützt, die wiederum die Archäologie gezielt dafür einsetzt, ihre Ideologie zu verbreiten.«
Elad weist die Kritik zurück. Doron Spielman, Sprecher der Organisation, betont, dass in einem Zeitraum von 150 Jahren 20 Ausgrabungen an diesem Ort stattgefunden haben. Dabei seien zahlreiche Ritzinschriften und Tonstempel gefunden wurden, die Namen biblischer Figuren nennen. »Es gibt keinen anderen Ort auf der Welt, der mehr Belege für die biblische Geschichte ans Licht brachte als die Davidsstadt.«
Werden jüdische Stätten bevorzugt?
Zu der Frage, welche Funde erhalten oder ausgegraben werden sollten, meint Avni: »Man hat uns schon oft beschuldigt, dass wir jüdischen Stätten oder Synagogen den Vorzug geben würden. Wenn man sich die Geschichte der Archäologie in diesem Land anschaut, ist diese Kritik sicher nicht grundlos.« Aber das würde nur für die frühen Jahre des modernen Israels gelten. »Die meisten Stätten, die wir heutzutage ausgraben, waren byzantinisch-christlich, muslimisch oder osmanisch.« Avni forscht schwerpunktmäßig über die frühislamische Zeit. Dennoch sagen einige Forscher, dass Stätten weniger häufig geschützt würden, wenn andere Religionsgemeinschaften und nicht Juden sie errichtet hatten. Viele Israelis wüssten zudem gar nicht, dass Menschen verschiedener Religionen nach Ankunft des Islams im 7. Jahrhundert in der Region zusammengelebt hatten, sagt Mizrachi. Es wäre sehr wichtig, frühislamische Fundorte zu erhalten. »Und Nebi Zechariah ist ein sehr gutes Beispiel dafür.«
»Ich würde mir wünschen, dass das ganze Land voll mit Archäologie wäre. Aber meine Kinder brauchen auch einen Platz zum Leben«Gideon Avni, Direktor der Archäologie-Abteilung der IAA
Wenn es keine ausreichende Finanzierung gibt, lassen sich solche Stätten kaum bewahren. Denn anders als die von Elad durchgeführten Ausgrabungen sind nur sehr wenige Projekte der IAA unabhängig finanziert. En Esur wäre nicht frei gelegt worden, sollte dort nicht ein Autobahnkreuz gebaut werden. Die Aufarbeitung der Funde wird noch Jahre in Anspruch nehmen, davon sind die Archäologen der IAA überzeugt. »Was wir bergen, ist Wissen, nicht unbedingt ein Fundort«, sagt Grabungsleiter Paz. Er und seine Kollegen wollen sich jedoch nicht dazu äußern, ob En Esur hätte erhalten werden sollen.
Andere Forscher halten sich weniger zurück. Greenberg, ein Experte für die Bronzezeit in der Levante und ehemaliger Mitarbeiter der IAA, kritisiert, dass En Esur viel zu schnell ausgegraben wurde. Das sei nicht den Archäologen anzulasten, sondern den Entscheidungsprozessen. »Es wird Jahre brauchen, bis wir eine genaue Vorstellung über den Fundort haben, weil die Grabungen unter großem Zeitdruck vonstattengehen mussten und weil beispiellose Fundmengen ans Licht kamen«, sagt Greenberg.
Es hätte deutlich weniger zerstört werden können, davon ist Greenberg überzeugt. So hätten fünf Prozent der Fläche unangetastet bleiben und umfassend untersucht werden können, während das Straßenbauprojekt auf dem restlichen Gelände durchgeführt wird.
Greenberg hat grundsätzlich Bedenken gegen allzu schnelle Rettungsgrabungen. Forschungsgrabungen laufen in der Regel über viele Jahre. Die Archäologen sind abwechselnd im Feld und im Depot tätig, um ihre Dokumentation aufzuarbeiten und kommende Grabungskampagnen zu planen. Das sei bei einer Notgrabung nicht möglich, sagt Greenberg.
Andere Länder, andere Behörden
Der Weg, den der Forscher von Universität Tel Aviv für En Esur vorgeschlagen hätte, wird in anderen Ländern eingeschlagen, etwa den Vereinigten Staaten und Frankreich. Auch dort werden Grabungsflächen überbaut. Die Archäologin Morag Kersel von der DePaul University in Chicago nennt als Beispiel den so genannten Miami Circle in Florida, eine Rundanlage, die von den Tequesta, einer Gruppe der Urbevölkerung, errichtet wurde. Es war geplant, den Fundplatz abzureißen. Doch dank zahlreicher Proteste blieb er erhalten. »Wenn es machbar ist, dann überdenkt man ein Bauprojekt, um eine Zerstörung archäologischer Stätten zu vermeiden.«
In den Vereinigten Staaten gebe es im Unterschied zu anderswo »eine zusätzliche Aufsichtsinstanz auf Ebene der Bundesstaaten«, erklärt Yorke Rowan von der University of Chicago. Jeder US-Bundesstaat hat ein State Historic Preservation Office, das Feldbegehungen und Ausgrabungen beaufsichtigt. Wenn bei einer Notgrabung nichts gefunden wird, dann erteilt die Behörde eine Erlaubnis, das betreffende Gebiet für Bauprojekte zu erschließen. Es kann aber auch zusätzliche Untersuchungen anordnen, etwa mit Hilfe von Fernerkundungsmethoden oder weiteren Grabungen, falls wichtige Funde gemacht wurden.
»Ein Fundplatz wie En Esur wäre in den USA absolut fantastisch. Es würde nie und nimmer überbaut werden«, sagt Rowan. »Ich bin mir sicher, dass die Kollegen gute Arbeit geleistet haben – ich kenne die Archäologen. Es ist eine Schande, dass ein solcher Fundort asphaltiert wird.«
Pierre de Miroschedji, ehemaliger Forschungsdirektor am französischen Centre national de la recherche scientifique in Nanterre stimmt dem zu. En Esur ist »eine großartige Entdeckung«. In Frankreich sei es schon oft vorgekommen, dass der Verlauf einer Autobahn abgeändert werden musste, weil ein wichtiger archäologischer Fundplatz ans Licht kam. Dennoch sieht der Archäologe die Sache pragmatisch: »Wir müssen ein Gleichgewicht finden zwischen den Ansprüchen des modernen Lebens und dem Anspruch, unser Kulturerbe zu bewahren.«
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