Physiologie: Hunger präpariert nicht für spätere Nahrungskrisen
Die Folgen von Hunger in frühester Kindheit können dramatisch sein. Trotzdem gibt es die These, dass ein solcher Mangel evolutionsbiologische Vorteile habe: Der Stoffwechsel der Betroffenen werde davon langfristig geprägt, so dass die Betroffenen auch spätere Krisenzeiten besser überstehen und sich erfolgreicher fortpflanzen können. Dem widersprechen allerdings historische Daten.
Für Anhänger der "Predictive Adaptive Response" (PAR) werden bereits in der Schwangerschaft und den ersten Lebensmonaten die entscheidenden Weichen gestellt, wie der Körper zukünftig mit dem Nahrungsangebot umgeht. Ist Hunger an der Tagesordnung, stelle sich der Metabolismus darauf ein, auch in Zukunft bei mageren Zeiten besonders energiesparend zu wirtschaften und in guten Jahren in Fettreserven zu investieren. Die Folge davon sehe man in heutigen Zivilisationskrankheiten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebserkrankungen, die mit einem schlechten Ernährungszustand kurz vor und nach der Geburt beispielsweise in der Nachkriegszeit korreliert werden könnten, seien eine Folge des auf Mangel optimierten Organismus in reichen Zeiten.
Diese These stellte Forscher um Adam Hayward von der University of Sheffield nicht zufrieden: Ihnen fehlten die empirischen Belege. Diese suchten sie in finnischen Aufzeichnungen des 19. Jahrhunderts – akribisch geführten Listen von Ernteerträgen, Sterbetafeln und Informationen zum sozioökonomischen Status von Gemeinden im Südwesten des Landes. So konnten die Wissenschaftler überprüfen, wie die Ernährungslage rund um die Geburt der betrachteten Personen war und wie sie eine gravierende Hungersnot in den Jahren 1866 bis 1868 überstanden, als acht Prozent der Landesbevölkerung starben – wenn auch überwiegend an Infektionskrankheiten wie Typhus, Fleckfieber und Ruhr.
Wer als Kind zu Zeiten schlechter Roggen- und Gerstenernten – die damaligen Hauptenergielieferanten – zur Welt kam, zählte später jedoch keineswegs mit höherer Wahrscheinlichkeit zu den Überlebenden als Kinder, die gut versorgt waren. Im Gegenteil: Jene mit "goldenem Löffel im Mund" hatten die größeren Überlebenschancen und zeugten auch eher Nachwuchs: Sie meisterten die Krise also besser. Wenig überraschend traf die Hungersnot die Armen besonders hart, und sie profitierten am meisten, wenn sie als Kinder keinen Mangel leiden mussten.
Rein evolutionsbiologisch betrachtet ist ein guter Ernährungszustand in frühester Kindheit also vorteilhafter – zumindest auf lange Sicht. Damit gerät auch die Erklärung, in heutigen nahrungsreichen Zeiten mache sich die frühe Prägung auf Mangel durch Erkrankungen bemerkbar, ins Wanken. Hier seien unbedingt noch mehr Details herauszufinden, so die Forscher.
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