Hydrotherapie: »Kneipp ist kein Becken, sondern ein Konzept«
Der Theologe und Naturheilkundler Sebastian Kneipp gilt als Pionier der Hydrotherapie. Hierbei wird Wasser genutzt, um bestimmte Beschwerden zu lindern. Kalt-warm-Reize sollen Gefäße und Immunsystem stärken sowie die Temperaturregulation verbessern. Funktioniert das wirklich? Und falls ja, wie? Der Mediziner Heinz Leuchtgens erklärt es. Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Balneologie (Bäderheilkunde) und Naturheilverfahren.
Spektrum.de: In vielen Parks oder Freibädern gibt es Kneippbecken, durch die man waten kann – eine herrliche Erfrischung. Was passiert eigentlich, wenn ich kneippe?
Heinz Leuchtgens: Da haben wir schon das große Problem: Kneippen und ein Becken mit kaltem Wasser – das sind komplett verschiedene Dinge. Kneipp ist kein Becken, sondern ein Konzept.
Können Sie das Konzept kurz erklären?
Der deutsche Theologe Sebastian Kneipp (1821–1897) hat die wesentlichen Faktoren, die in der Natur vorkommen, zusammengefasst: Druck, Temperatur, Bewegung, Nahrung, Licht und Zeit. All das lässt sich naturheilkundlich einsetzen. So kann man bestimmte Beschwerden mit heißem oder kaltem Wasser lindern. Die Hydrotherapie ist aber nur ein Aspekt der Kneippmedizin.
Hat Sebastian Kneipp das Wassertreten eigentlich in der Form erfunden, wie wir das heute kennen?
Ob er wirklich der Erste war, ist schwer zu sagen. Ich möchte seinen Erfolg nicht schmälern. Aber die Einsicht, dass kaltes Wasser Menschen guttun kann, gab es sicher schon früher. Kneipp hat die Zusammenhänge ausformuliert. Doch Naturheilverfahren gibt es auf der ganzen Welt. Wenn Sie sich die Traditionelle Chinesische Medizin oder Ayurveda genauer ansehen, werden Sie viele Ähnlichkeiten feststellen. Kein Wunder. Der Mensch folgt, mehr oder weniger, überall auf der Welt den gleichen Gesetzmäßigkeiten. Jeder Körper reagiert auf Wärme und Kälte. Das lässt sich therapeutisch nutzen.
Wie funktioniert das genau?
Anwendungen mit heißem oder kaltem Wasser wirken letztlich auf die Gefäße. Hauptsächlich auf die Arterien, aber auch auf die Venen und Lymphbahnen. Beim Blutdruckmessen bestimmen wir den Druck, der in den Arterien herrscht. Der ändert sich, wenn sich der Querschnitt des Gefäßes verändert, etwa, weil es plötzlich abkühlt. Dafür sind die Ringmuskeln zuständig, die rund um die Gefäßwand angeordnet sind.
Kneippanwendungen können also den Blutdruck beeinflussen?
Genau. Viele Menschen haben dauerhaft einen zu hohen Blutdruck, bei anderen ist er zu niedrig. In beiden Fällen liegt eine Regulationsstörung vor: Der Körper kann den Blutdruck nicht mehr richtig einstellen. Das lässt sich durch Warm-kalt-Reize trainieren.
Gibt es Studien, die das belegen?
Jede Menge. Vor einigen Jahren haben wir selbst eine groß angelegte Studie durchgeführt. Mehr als 350 Probandinnen und Probanden mit unterschiedlichen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems nahmen an einer drei- bis vierwöchigen Kneippkur teil, die unter anderem Hydrotherapie umfasste. Danach ging es ihnen deutlich besser. Sie hatten weniger Schmerzen, konnten ihren Medikamentenverbrauch reduzieren und mussten sich seltener krankschreiben lassen.
Hilft Kneippen ebenso bei anderen Erkrankungen?
Ja. Viele unserer Probanden hatten auch Probleme mit dem Bewegungsapparat, diese haben sich ebenfalls gebessert. Es gibt außerdem Studien, die darauf hindeuten, dass Hydrotherapie gegen Arthrose wirken kann. Zudem stimulieren hydrotherapeutische Anwendungen das vegetative Nervensystem und können bei Schlafstörungen, depressiven Verstimmungen oder Nervosität helfen. Das Problem mit Kneipp ist: Wir können sehr viel – und das klingt irgendwie unglaubwürdig. Rein methodisch lassen sich die positiven Effekte ziemlich schwer nachweisen.
»Das Problem mit Kneipp ist: Wir können sehr viel – und das klingt irgendwie unglaubwürdig«
Warum?
Sie können nicht nach den normalen Studienkriterien vorgehen, etwa der Hälfte der Probanden eine Tablette mit Wirkstoff und der anderen Hälfte ein Placebo geben. Wir können auch nicht verblinden, so dass weder Arzt noch Patient wissen, wer was bekommen hat. Die Leute merken natürlich, ob sie gerade eine Kur machen oder nicht. Es braucht also andere statistische Methoden. Man verwendet ein so genanntes quasiexperimentelles Studiendesign.
Lassen Sie uns nochmal zurück zum Kneippbecken gehen. Ich stecke meinen Fuß ins Wasser – was geschieht?
Das Blutgefäß kühlt ab und zieht sich zusammen. Zusätzlich wirkt ein hydrostatischer Druck: Das Wasser drückt von außen gegen das Gefäß. Wenn ich den Fuß im Wasser aufsetze, betätige ich außerdem meine Bein- und Fußmuskeln. Damit diese gut mit Sauerstoff versorgt sind, verlaufen Gefäße durch sie hindurch. Der angespannte Muskel drückt also ebenfalls gegen die Gefäße, das Blut wird herausgepumpt. Dann nehme ich den Fuß aus dem Wasser. Er erwärmt sich wieder, der hydrostatische Druck fällt weg. Wenn ich es richtig mache und das Bein anziehe wie ein Storch, reduziere ich auch den Druckunterschied zwischen Fuß und Herz. Der ist zwar nicht besonders groß, kann beim Blutdruck aber einen Unterschied von 10 bis 20 mmHg ausmachen. Dasselbe wiederhole ich mit dem anderen Bein. Während sich das eine entspannt, wird das andere durch Kälte und Druck gereizt. So wate ich durchs Wasser.
Langsam oder schnell?
So langsam wie möglich. Es geht nicht darum, möglichst schnell fertig zu werden, sondern die optimale Wirkung zu erzielen.
Ich gehe am liebsten ins Kneippbecken, wenn ich gerade Sport gemacht und heiße Füße habe. Ist das richtig?
Ja, dann wirkt es am besten. Haben Sie kalte Füße, sollten Sie besser nicht hineingehen, da sind Ihre Arterien bereits maximal verengt.
Wie oft und wie lange darf ich das machen?
Jeden Tag. Wenn sie möchten, auch mehrmals. Und zwar immer so lange, bis Ihre Beine kalt sind. Bei manchen Menschen reicht schon eine Runde oder zwei, andere müssen drei oder vier gehen. Das hängt von der Wassertemperatur ab, aber genauso von Ihrer Physiologie: Sind Sie trainiert oder nicht, wie viel Körperfett haben Sie?
»Es geht nicht darum, möglichst schnell fertig zu werden, sondern die optimale Wirkung zu erzielen«
Gutes Stichwort: Also stimmt es, dass Menschen, die weniger auf den Rippen haben, schneller frieren?
Natürlich wirkt eine Fettschicht isolierend. Das Temperaturempfinden ist aber von vielen Faktoren abhängig und individuell verschieden. Man kann nicht sagen: Mit soundsoviel Prozent Körperfett friert man genau bei dieser Temperatur. Auch der Zustand der Gefäße spielt zum Beispiel eine Rolle. Raucherinnen und Raucher frieren häufig an Händen und Füßen, weil die schlechter durchblutet werden, selbst wenn sie übergewichtig sind.
Man kann auch mit den Armen kneippen. Hat das dieselbe Wirkung?
Nein. Zum einen, weil kein Gewicht darauf ist – schließlich gehen Sie ja nicht auf Ihren Armen und Händen, sondern halten sie nur hinein. Zum anderen ist der hydrostatische Druck nicht so hoch. Ihre Arme können Sie in der Regel nicht so tief eintauchen wie die Beine, sonst stünde Ihnen das Wasser bis zum Hals. Die Einwirkdauer ist hingegen länger, denn beide Arme sind konstant im Wasser. Selbst wenn Sie langsam gehen, ist beim Wassertreten ein Fuß für maximal zwei Sekunden im Becken.
Kann ich auch Arme und Beine gleichzeitig ins Wasser hängen?
Das wäre zu viel. Wenn Sie das zu lange machen, unterkühlen Sie. Anhaltende Kälte bedeutet für den Körper eine kritische Situation. Um das Gehirn und die wichtigen Organe möglichst lange warm zu halten, ziehen sich die Gefäße in der Peripherie zusammen, Arme und Beine werden kaum mehr durchblutet und können im Extremfall absterben.
Manche Menschen begeben sich mit dem ganzen Körper in ein kaltes Becken, beispielsweise nach der Sauna. Ist das schlecht?
Sie meinen vermutlich ein Tauchbecken. Hier geht es um das Ableiten der Überwärmung, die man durch das Saunieren verursacht hat. Schließlich darf die Körperkerntemperatur nicht mehr als 42 bis 43 Grad Celsius betragen, sonst gerinnen die Proteine. Ähnlich, wie wenn Sie ein Ei in die Pfanne hauen. Stellt sich jemand nach der Sauna gar nicht unter die kalte Dusche oder geht ins Tauchbecken, steigen Puls und Blutdruck, der Körper muss vermehrt schwitzen. Das ist für ihn sehr belastend.
Kaltes Wasser soll angeblich den Kreislauf anregen, so dass man danach noch mehr schwitzt. Wäre eine lauwarme Dusche nicht besser?
Wie der Körper auf kaltes Wasser reagiert, hängt von der Dauer ab. Auf kurze Kaltreize antwortet er mit einer reaktiven Überwärmung, man schwitzt also unter Umständen tatsächlich mehr. Bei lang anhaltender Kälte ziehen sich die Gefäße zusammen, damit nicht so viel Blut an der Körperoberfläche vorbeifließt und sich dort abkühlt. Es gilt, die für Sie richtige Dauer und Wassertemperatur zu bestimmen. Nicht zu kurz und zu kalt, damit es keine Gegenreaktion gibt, aber kalt und lange genug, so dass Ihr Körper gut abkühlen kann.
Demnach ist es okay, ins kalte Wasser springen?
Ja, aber das sollten nur kreislaufgesunde Personen tun. Wenn man überhitzt, also mit maximal geweiteten Blutgefäßen in so ein Tauchbecken springt, ist der hydrostatische Druck sehr hoch. Die Wassermasse drückt von außen auf die Gefäße, das Blut wird herausgepresst. Plötzlich fließt gut ein Liter Blut in die Lunge zurück. Ein gesundes Herz schafft das. Sie sollten dabei aber nicht ruhig im Wasser sitzen, sondern sich leicht bewegen.
Warum?
Wenn Sie nach der Sauna ins Tauchbecken springen und an ihrem Körper hinabschauen, werden Sie feststellen, wie das Wasser sich an Ihrer Körperoberfläche zu bewegen beginnt: Es erwärmt sich durch den Kontakt mit Ihrer Haut.
Ich bin quasi ein Tauchsieder.
So kann man sich das vorstellen (lacht). Wenn Sie sich nicht bewegen, bildet das Wasser eine Art Isolationsschicht auf Ihrem Körper. Nach einer kurzen Schrecksekunde fühlt es sich deshalb gar nicht mehr so kalt an. Zählen Sie mal bis zehn und bewegen sich dann. Es wird sich anfühlen, als seien Sie nochmals hineingesprungen. Das warme Wasser wird verdrängt, es erfolgt ein zweiter Kaltreiz.
Nach der Sauna gönnen viele Menschen ihren Füßen ein Wechselbad. Wie geht das und was bewirkt es?
In der Regel beginnt man mit einem warmen Fußbad. Die Blutgefäße erweitern sich, die Durchblutung wird angeregt und der Körper erwärmt sich ein bisschen. Dann hält man die Füße für ein paar Sekunden ins kalte Wasser. Das Gegenteil passiert: Die Gefäße ziehen sich zusammen, verstoffwechseltes Blut wird abtransportiert. Dann beginnt man wieder von vorn. Wechselbäder trainieren wiederum die Muskulatur in den Blutgefäßen: Bei Wärme erschlafft sie, bei Kälte zieht sie sich zusammen. So ähnlich, wie wenn ich mit Hilfe einer Hantel meinen Bizeps trainiere.
Hilft mir das, wenn ich ständig friere?
Ja. Es wird nicht lange dauern und sie werden nicht mehr so schnell frieren. Das ist Trainingssache. Sie können auch ein ansteigendes Armbad machen: Lauwarm beginnend, heben Sie die Temperatur auf 39 bis 40 Grad Celsius kontinuierlich an. Das führt zu einer langsamen Öffnung der Blutgefäße an den Armen. Interessanterweise erstreckt sich die Wirkung auf den gesamten Körper. Messungen mit speziellen Geräten haben gezeigt: Auch die Durchblutung in den Beinen verbessert sich dadurch.
»Akute Erkrankungen stellen eine Kontraindikation dar, chronische eher nicht«
Gibt es Menschen, die besser keine Hydrotherapie machen sollten?
Als Faustregel gilt: Akute Erkrankungen stellen eine Kontraindikation dar, chronische eher nicht. Wer eine akute Lungenentzündung hat, sollte keine Kneippanwendungen machen. Bei einem chronischen Lungen- oder Herzleiden sieht es anders aus. Bevor man beginnt, sollte man aber unbedingt ärztlichen Rat einholen.
Im Prinzip kann also jeder und jede von einer Kneippanwendung profitieren?
Genau. Wir müssen dem Körper die richtigen Reize geben, sonst verlernt er, richtig zu reagieren. Nach dem Prinzip: Use it or lose it. In der heutigen Welt haben wir für fast alles Unangenehme eine bequeme Lösung: Gegen das Frieren gibt es Kleidung und eine Heizung. Ist es zu warm, schalten wir die Klimaanlage ein. Der Körper kann nicht mehr so, wie er es mal gekonnt hat. Leben wir in einer keimfreien Umgebung, sind wir Krankheitserregern nicht mehr gewachsen. Durch eine Kneipptherapie reizt man den Körper, damit er all das wieder lernt. Untersuchungen haben übrigens ergeben, dass warme oder ansteigende Fußbäder die Durchblutung der Nasenschleimhäute verbessern. Das führt dazu, dass die Immunzellen im Blut dort befindliche Viren und Bakterien besser bekämpfen können.
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