Militärtechnik: Der Hype um den Hyperschall
2018 hat der russische Präsident Wladimir Putin eine Ansprache vor der russischen Föderationsversammlung gehalten, in der er ein eskalierendes Wettrüsten mit den USA androhte. Diese waren 2002 aus dem 30 Jahre zuvor geschlossenen ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen ausgestiegen. Nach der einseitigen Aufkündigung entwickelten und bauten die USA ein Netz von Abfangmaßnahmen gegen Langstreckenraketen. Putin habe die US-Amerikaner gewarnt, und nun sähe Russland sich gezwungen, darauf zu reagieren. Darum entwickle Russland neben anderen Systemen jetzt neue Hyperschallwaffen.
Dabei handelt es sich um Flugkörper, die mit mehr als der fünffachen Schallgeschwindigkeit über große Entfernungen durch die Atmosphäre steuern. Mit Mach 1 wird die einfache Schallgeschwindigkeit bezeichnet. Das bis zu Fünffache wird Überschall und alles über Mach 5 Hyperschall genannt. Putin zufolge sollen die »Awangard«-Flugkörper mit einem Anfangstempo von mehr als Mach 20 Tausende von Kilometern weit gleiten und »absolut unverwundbar durch jedes Luft- oder Raketenabwehrsystem« sein. Putin untermauerte die Drohkulisse mit Computeranimationen der Waffen, die sich den Globus entlang- und um Abfangraketen herumschlängeln.
Am 18. März 2022 soll Russland dann tatsächlich erstmals mit einer Hyperschallwaffe angegriffen haben. Mit einer Rakete des Typs »Kinschal« sei ein unterirdisches Munitionslager in der Ukraine zerstört worden, hieß es aus Moskau. Abgefeuert wurde das Geschoss offenbar von einem Kampfflugzeug. Im Anschluss folgten weitere Angriffe auf andere Ziele.
Putins Ankündigung heizte bereits 2018 einen gefährlichen Rüstungswettlauf an. Die daran beteiligten Militärmächte preisen die neuen Wunderwaffen nicht nur als schnell an, sondern darüber hinaus als gut manövrierbar und schwer zu entdecken. Das wären klare Vorzüge gegenüber den bekannten Interkontinentalraketen. Diese dringen auf einer elliptischen Flugbahn in den Weltraum ein und stürzen dann auf ihr Ziel zu. Dabei erreichen sie zwar ebenfalls Geschwindigkeiten von mehr als Mach 20, haben aber während des größten Teils der Strecke eine vorhersehbare »ballistische« Trajektorie und lassen sich in der Regel nur kurzzeitig steuern, nachdem sie wieder in die Atmosphäre eingetreten sind. Im Gegensatz dazu würden Hyperschallwaffen die meiste Zeit in der Atmosphäre fliegen und den durch die Luftströmung erzeugten Auftrieb nutzen, um Abfangmaßnahmen auszuweichen. Da sie sich in relativ geringer Höhe bewegen, könnten bodengestützte Radarsysteme sie erst in der Nähe ihres Ziels entdecken.
Als Reaktion auf Putins Ansprache erklärten US-Militärs, Hyperschallwaffen würden »die Kriegsführung revolutionieren« – und verstärkten eigene Anstrengungen in dem Bereich. Allein 2021 stellte der US-Kongress 3,2 Milliarden Dollar für die Forschung und Entwicklung von Hyperschallwaffen und zugehörigen Abwehrmaßnahmen bereit. In den verschiedenen Teilstreitkräften des Landes gibt es sechs bekannte Hyperschallprogramme. Auch China forscht an solchen Systemen.
In bestimmten Szenarien militärisch vorteilhaft – aber keineswegs eine Revolution
Befürworter behaupten, die Waffen seien unglaublich flink und praktisch unsichtbar. Wir sind anderer Meinung. Als Teil einer weltweiten Gemeinschaft von Fachleuten aus der Physik und den Ingenieurwissenschaften sammeln wir so viele Informationen wie möglich über neue und in der Regel geheime Technologien, analysieren sie und geben unsere Einschätzungen an die Öffentlichkeit weiter. Unsere Untersuchungen zeigen: Hyperschallwaffen könnten in bestimmten Szenarien militärisch vorteilhaft sein, aber sie stellen keineswegs eine Revolution dar. Viele Behauptungen, die den Hyperschall-Rüstungswettlauf zwischen den USA, Russland und China antreiben und internationale Spannungen verschärfen, sind übertrieben oder schlichtweg falsch.
Seit fast einem Jahrhundert versuchen Militärs, Flugzeuge im Hyperschallbereich zu entwickeln, allerdings mit mäßigem Erfolg. In den späten 1930er Jahren haben der österreichische Ingenieur Eugen Sänger und die deutsche Physikerin Irene Bredt das erste Hyperschallflugzeug entworfen, einen Gleiter namens Silbervogel. Es sollte mit Raketentriebwerken starten und sich mit Hilfe aerodynamischer Effekte in der Luft halten. Die Konstrukteure des NS-Regimes sahen wegen der Komplexität und der Kosten jedoch von der praktischen Umsetzung ab.
Die während des Zweiten Weltkriegs entwickelten Raketentriebwerke wurden hingegen vielfach eingesetzt, auch in der Luftfahrt. In den folgenden Jahrzehnten stellten experimentelle Flugzeuge mit dem auf einem Gemisch aus Brennstoff und einem Oxidationsmittel basierenden Antrieb einen Geschwindigkeitsrekord nach dem anderen auf. Im Oktober 1947 durchbrach mit der raketengetriebenen X-1 erstmals ein Mensch offiziell die Schallmauer. In den 1960er Jahren erreichte die X-15 bei Tests Mach 6,7. Pilotengesteuerte Raketenflugzeuge kamen nie über die Prototypphase hinaus, auch wegen der extremen Beschleunigungen, die auf den Organismus einwirken. Unterdessen ermöglichte es das Antriebsprinzip den USA und der Sowjetunion, mit Atomwaffen bestückte ballistische Raketen zu bauen, die mit mehr als Mach 20 von Kontinent zu Kontinent jagen können.
In der militärischen und kommerziellen Luftfahrt wurde stattdessen eine andere Technologie zum Standard: das Turbinen-Strahltriebwerk. Das Bauteil nutzt einströmenden Luftsauerstoff zur kontinuierlichen Verbrennung von Treibstoff. Dadurch entfällt das Gewicht des Oxidators, der beim Raketentriebwerk zusätzlich mitgeführt werden muss. 1976 erreichte die Lockheed SR-71 Blackbird mit etwa Mach 3 die bis heute höchste Geschwindigkeit für ein mit Turbinen-Strahltriebwerken ausgerüstetes Flugzeug. Luft einsaugende Triebwerke stecken außerdem in unbemannten, steuerbaren Marschflugkörpern, von denen die schnellsten Überschallgeschwindigkeiten erreichen können.
Unterdessen blieb die Geschichte der Hyperschallgleiter wechselvoll. Nachdem die USA bis 1963 mehr als fünf Milliarden Dollar (nach heutiger Kaufkraft) für die Entwicklung des auf dem Silbervogel beruhenden Flugkörpers X-20 ausgegeben hatten, beendeten sie das Projekt. Erst nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ordnete Präsident George W. Bush die weitere Erforschung von Hyperschallwaffen an. Sie sollten mit nicht nuklearen Sprengköpfen auf verschiedenen Kontinenten zur Terrorbekämpfung eingesetzt werden. Ballistische Interkontinentalraketen hätten die Aufgabe ebenso erfüllt, aber ihr Abschuss könnte fälschlicherweise für einen atomaren Erstschlag gehalten werden und einen Atomkrieg auslösen.
Darüber hinaus wollte die Bush-Regierung Abfangmaßnahmen entwickeln, um sich vor Raketen mit Massenvernichtungswaffen von Terroristen oder so genannten Schurkenstaaten zu schützen. Der dazu 2002 aufgekündigte ABM-Vertrag hatte die USA und Russland bis dahin daran gehindert, eine Abwehr gegen die ballistischen Raketen der jeweils anderen Seite aufzubauen. Angesichts des nun verschobenen Abschreckungsgleichgewichts arbeiteten Russland und in jüngster Zeit China Strategien zur Überwindung des US-Schilds aus, und das führte schließlich auch bei diesen Mächten zum gesteigerten Interesse an Hyperschallwaffen. Letztlich haben die Anschläge vom 11. September 2001 also eine Reihe überstürzter Entscheidungen nach sich gezogen, auf Grund derer die drei Supermächte USA, Russland und China heute aus unterschiedlichen Gründen und mit verschiedenen technologischen Ansätzen um einsatzfähige Hyperschall-Lenkflugkörper ringen.
Der mächtigste Gegner während des Flugs ist der Luftwiderstand
Die ersten Vertreter dieses Waffentyps funktionieren nach dem so genannten Boost-Glide-Prinzip. Hierbei befördert eine Trägerrakete den Flugkörper auf eine passende Starthöhe. Dort koppelt er ab, baut beim Herabfallen Geschwindigkeit auf und gleitet ohne eigenen Antrieb über weite Strecken, indem er aerodynamische Auftriebskräfte in den Atmosphärenschichten nutzt. Die USA und weitere Länder arbeiten außerdem an Hyperschall-Marschflugkörpern.
Unsere Untersuchungen zeigen, welche enormen Herausforderungen die Gesetze der Physik bei der Konstruktion darstellen. Einer der mächtigsten Gegner ist der Luftwiderstand. Er wirkt auf jedes Objekt, das sich durch die Atmosphäre bewegt, und nimmt proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit zu. Ein Flugzeug ist bei Mach 5 zum Beispiel einem 25-fach höheren Luftwiderstand ausgesetzt als eines bei Mach 1. Mach 20 bedeutet gar das 400-Fache.
Noch gravierender wirkt sich die Energie aus, die ein Flugzeug aufwenden muss, um die Luftmoleküle vorwärts und zur Seite zu drücken. Sie steigt mit der dritten Potenz der Geschwindigkeit. Der Verlust bei Mach 5 ist also 125-mal größer als bei Mach 1. Bei Mach 20 liegt der Unterschied sogar bei einem Faktor von 8000. Die kinetische Energie, die vom Flugzeug auf die umgebende Luft übertragen wird, wandelt sich in Wärmeenergie und Stoßwellen um. Ein Teil davon fließt in Form von Wärme zurück: Die Vorderkanten können bei Mach 10 oder mehr leicht Temperaturen von rund 2000 Grad Celsius erreichen. Der Schutz eines Flugkörpers vor der intensiven Hitzeeinwirkung ist eines der größten ingenieurtechnischen Probleme.
Gleichzeitig muss ein Hyperschallgleiter wie jedes andere Gleitflugzeug Auftrieb erzeugen, das heißt eine senkrecht zur Luftströmung gerichtete Kraft. Nur so kann er sich in der Atmosphäre halten und manövrieren. Wie bereits der Luftwiderstand ist auch der Auftrieb proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit – die aerodynamischen Prozesse, die Letzteren erzeugen, rufen unvermeidlich Ersteren hervor. Das Verhältnis zwischen der Auftriebskraft und dem Luftwiderstand wird als Gleitzahl bezeichnet und ist eine wichtige Kennzahl für die Leistungsfähigkeit eines solchen Fliegers.
Die erreichbaren Gleitzahlen sind im Hyperschallbereich viel niedriger. Bei einem konventionellen Unterschallflug beträgt das Verhältnis von Auftrieb zu Luftwiderstand typischerweise 15 oder mehr. Doch die im letzten Jahrzehnt von den USA getesteten Hyperschallwaffen scheinen trotz jahrzehntelanger Forschung lediglich Gleitzahlen von weniger als 3 zu haben. Das begrenzt die mögliche Geschwindigkeit und Reichweite eines Hyperschallgleiters, verringert seine Manövrierfähigkeit und erhöht die Erwärmung des Materials.
Und damit nicht genug: Die Physik und die Chemie der Luft, die an einem Objekt vorbeiströmt, ändern sich bei Hyperschallgeschwindigkeit radikal. In der auf Tausende von Grad erhitzten Umgebung brechen die Bindungen der Gasmoleküle, und freie Sauerstoffatome greifen die Oberfläche des Flugkörpers an. Selbst wenn das Material der Hitze und der chemischen Beanspruchung standhält, sendet es intensives Licht im Infrarotbereich aus, das von Satelliten detektiert werden kann.
In den frühen 2010er Jahren führten die USA Tests mit einem Langstreckengleiter namens Hypersonic Technology Vehicle 2 (HTV-2) durch. Es sollte von einer Rakete auf ein Anfangstempo von Mach 20 beschleunigt werden und anschließend knapp 8000 Kilometer weit gleiten. Wir haben die bekannten Versuchsergebnisse mit anderen Daten über den Flugkörper kombiniert und detaillierte Computersimulationen des Hyperschallflugs erstellt. Außerdem haben wir die Leistungsfähigkeit von Boost-Glide-Waffen mit etablierten Technologien wie ballistischen Raketen oder Marschflugkörpern verglichen. Dabei haben wir uns auf die drei Bereiche konzentriert, in denen Hyperschallgleiter besonders leistungsfähig sein sollen, das heißt in Bezug auf Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Tarnung.
Oft wird behauptet, Hyperschallwaffen würden die Zeit verkürzen, in der ein Gefechtskopf an sein Ziel gebracht werden kann. Die Einschätzung beruht größtenteils auf einem irreführenden Vergleich mit Unterschall-Marschflugkörpern oder mit den außerordentlich lang gezogenen Trajektorien ballistischer Raketen. Die energieeffizienteste Bahn eines ballistischen Flugkörpers schickt den Sprengkopf in einem Bogen hoch über die Erde, bevor er auf sein Ziel fällt. So ist er auf dem größten Teil der Bahn zwar wenig Luftwiderstand ausgesetzt, legt aber viel mehr Strecke zurück als ein Hyperschallgleiter. Darum kann er etwas mehr Zeit benötigen, bis er das gleiche Ziel erreicht.
Allerdings kann eine ballistische Rakete stattdessen ebenso in geringerer Höhe auf einer »abgesenkten Bahn« fliegen. Sie gilt schon lange als Mittel der Wahl für schnelle Nuklearschläge von U-Booten aus. Eine solche Bahn wäre viel kürzer als eine mit minimaler Energie, und sie würde ebenfalls zum größten Teil durch Abschnitte ohne nennenswerten Luftwiderstand führen. Im Gegensatz dazu verbringt ein Hyperschallgleiter wesentlich mehr Zeit in der abbremsenden Atmosphäre. Laut unseren Berechnungen kann ein Gefechtskopf mit einer ballistischen Rakete auf einer abgesenkten Bahn mit gleicher oder sogar kürzerer Flugzeit über dieselbe Distanz befördert werden.
Jede Kurve erfordert Energie fressende und raumgreifende Manöver
Auch bei einem weiteren angepriesenen Vorteil von Hyperschallwaffen, der Manövrierfähigkeit, sieht es in der Realität kompliziert aus. Die USA entwickeln und testen seit Jahrzehnten manövrierfähige Wiedereintrittskörper (kurz MARV für englisch: maneuverable reentry vehicle). Das sind Gefechtsköpfe, die unter Ausnutzung aerodynamischer Kräfte ihre Richtung ändern können, während sie sich dem Ziel nähern. Das erhöht ihre Treffgenauigkeit und erschwert Abwehrmaßnahmen. Die Steuerbarkeit ist also keine prinzipielle Besonderheit von Hyperschallwaffen. Zwar vollführen MARV solche Manöver üblicherweise erst spät, wohingegen Hyperschallgleiter die ganze Flugzeit über ihre Bahn verändern sollen. Allerdings leidet bei Hyperschallgeschwindigkeiten die Manövrierfähigkeit unter den großen Kräften, die hier für jede Kursänderung erforderlich sind.
Um seine Richtung zu ändern, muss ein Hyperschallgleiter mit Hilfe von Auftriebskräften eine zusätzliche horizontale Geschwindigkeitskomponente erzeugen, die ihrerseits überschallschnell sein kann. Um etwa eine Kurve von 30 Grad zur Seite zu fliegen, muss ein Gleiter mit Mach 15 (4,5 Kilometer pro Sekunde) eine Geschwindigkeit von Mach 7,5 (2,3 Kilometer pro Sekunde) in die entsprechende Richtung aufbringen. (Da sich die Schallgeschwindigkeit mit der Höhe ändert, dient als Konvention für Mach 1 oft ein Tempo von 300 Meter pro Sekunde.) Gleichzeitig braucht der Flugkörper genügend vertikalen Auftrieb, um in der Luft zu bleiben. Solche Manöver verringern Geschwindigkeit und Reichweite erheblich.
So könnte der Gleiter den für den Richtungswechsel erforderlichen zusätzlichen Auftrieb erzeugen, indem er in eine niedrigere Höhe vordringt und die größeren Kräfte in der dichteren Luft nutzt. Er würde anschließend in eine größere Höhe mit weniger Reibung zurückkehren und seinen Flug fortsetzen. Das Abtauchen würde die für die Kurve benötigte Zeit verkürzen; zugleich würde es den Luftwiderstand erhöhen. Bei Mach 15 fliegt ein Gleiter wie HTV-2 beispielsweise in einer Höhe von zirka 40 Kilometern. Während eines Sinkflugs um 2,5 Kilometer würde die 30-Grad-Drehung etwa sieben Minuten dauern und einen großen Bogen mit einem Radius von 4000 Kilometern beschreiben. Dabei verringerte sich die Geschwindigkeit des Gleiters um rund Mach 1,3, wodurch er 450 Kilometer seiner ursprünglichen Reichweite von 3000 Kilometern einbüßen würde. Ein gewisses Manövrieren kann durchaus sinnvoll sein, etwa zum Ansteuern eines neuen Ziels, und Gleiter könnten das wahrscheinlich eher leisten als ballistische Gefechtsköpfe. Dennoch kann ein MARV den anvisierten Bereich bereits heute um Hunderte von Kilometern ändern, so dass sich solche Fähigkeiten schwerlich als revolutionär bezeichnen lassen.
Eine weitere gängige Behauptung ist, Gleiter wären auf Grund ihrer geringeren Flughöhe für Frühwarnsysteme nahezu unsichtbar. Ein bodengestütztes Radar kann einen Gefechtskopf in einer Höhe von 1000 Kilometern aus einer Entfernung von etwa 3500 Kilometern erkennen. Wegen der Erdkrümmung würde es einen Gleiter 40 Kilometer über dem Boden erst in einem Abstand von zirka 500 Kilometern sehen. Sowohl die USA als auch Russland verfügen allerdings über Frühwarnsatelliten mit empfindlichen Infrarotsensoren. Sie würden auf die intensive Strahlung ansprechen, die ein extrem heißer Gleiter aussendet. Unserer Analyse zufolge wären die derzeit eingesetzten US-Satelliten in der Lage, Gleiter mit Geschwindigkeiten im größten Teil des Hyperschallbereichs zu identifizieren und auf ihrem Weg durch die Atmosphäre zu verfolgen.
In absehbarer Zukunft ließe sich ein Auftauchen in Satellitenbildern nur vermeiden, wenn die Flugkörper mit weniger als Mach 6 fliegen. Das Bestreben, diesen blinden Fleck zu beseitigen, könnte hinter Forschungen der USA an neuen Satellitenkonstellationen stecken. Eine Boost-Glide-Waffe ähnlich dem HTV-2 mit einer Anfangsgeschwindigkeit von Mach 5,5 käme jedoch weniger als 500 Kilometer weit. Hyperschall-Marschflugkörper indes könnten solche Geschwindigkeiten über größere Entfernungen beibehalten. So ein relativ niedriges Tempo entwertet aber ein weiteres wichtiges Argument für Hyperschallwaffen, nämlich ihre Fähigkeit, feindlicher Raketenabwehr zu entgehen.
Russland und China scheinen Hyperschallwaffen vor allem deshalb zu entwickeln, weil sie in der Lage sein sollen, die US-Schilde zu durchdringen. Die bodengestützte Midcourse Defense und die schiffsgestützte Aegis SM-3, welche die USA, Japan und andere Länder verteidigen, fangen Raketen oberhalb der Atmosphäre ab. Sie wären nutzlos gegenüber Hyperschallwaffen, die in niedrigeren Höhen fliegen. Gleiter mit ausreichender Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit könnten außerdem kurzreichweitige Abwehr umgehen, die innerhalb der Atmosphäre arbeitet, wie die US-Systeme Patriot, SM-2 und THAAD. Sie schützen kleine Regionen von einigen zehn Kilometern Durchmesser um militärische Anlagen und Schiffe. Sie sind so lange wirksam, wie sie wendiger sind als die Rakete, die sie zu treffen versuchen, was wiederum stark von der Geschwindigkeit abhängt. Die Patriot-Flugkörper zum Beispiel erreichen mit Hilfe von Raketenantrieben Geschwindigkeiten von bis zu Mach 6. Eine Hyperschallwaffe könnte ihnen bei hohen Geschwindigkeiten wahrscheinlich entkommen, wäre jedoch unterhalb von Mach 6 verwundbar. Das bedeutet: In Bereichen, in denen ein Gleiter für Satelliten unsichtbar ist (aber möglicherweise auf bodengestütztem Radar erscheint), wird eine Abwehr wieder möglich.
Inzwischen schlägt sich die Ernüchterung auch in neuen Designs nieder
Darüber hinaus haben nicht nur Hyperschallgleiter die Fähigkeit, Raketenabwehr zu überwinden. Gerade Abfangraketen, die jenseits der Atmosphäre operieren, sind besonders anfällig dafür, von Täuschkörpern und anderen Gegenmaßnahmen in die Irre geleitet zu werden. Solche Technologien haben Russland und China bereits entwickelt. Außeratmosphärische Systeme könnten zudem vollständig von Raketen kurzer und mittlerer Reichweite umgangen werden, die von einem Flugzeug aus niedriger Höhe entlassen werden. Verteidigungsanlagen innerhalb der Atmosphäre könnte ein MARV ausmanövrieren, das von einer ballistischen Rakete aus startet.
Inzwischen haben die USA ihr Augenmerk von der Entwicklung von Langstreckengleitern wie dem HTV-2 auf Hyperschallwaffen mit kürzerer Reichweite von bis zu einigen tausend Kilometern verlagert. Dazu trugen nicht nur unbefriedigende Tests mit dem HTV-2-Prototyp bei, sondern auch neue Missionsprofile: Die Waffen sollen auf lokal begrenzten Kriegsschauplätzen eingesetzt werden, um dort Verteidigungssysteme zu umgehen und zu zerstören. In Bezug auf ihre Fähigkeiten sind Hyperschallgleiter mit kürzerer Reichweite jedoch praktisch nicht von ballistischen Raketen mit abgesenkter Bahn und einem MARV-Gefechtskopf zu unterscheiden.
Die Ähnlichkeit wurde 2018 deutlich, als das US-Verteidigungsministerium seine Wahl des Designs für einen Hyperschallflugkörper bekannt gab, das von Heer, Marine und Luftwaffe gemeinsam genutzt werden soll. Anstatt sich für eine keilartige Form wie beim HTV-2 mit größerer Gleitzahl zu entscheiden, wählte das Pentagon ein älteres konisches Profil, das auf einem experimentellen, in den 1970er Jahren entwickelten MARV basiert. Diese Waffe hätte eine geringere Reichweite und wäre weniger manövrierfähig, räumten die Militärs ein, doch sei die Technologie weniger riskant. Ein Design aus den 1970er Jahren ist wohl kaum revolutionär. Für uns scheint es vielmehr so, als würde das Pentagon den Hype um Hyperschallwaffen lediglich nutzen, um sich finanzielle Mittel zu sichern, während es sich eher randständig mit neuartigen Entwürfen beschäftigt und seinen eigentlichen Fokus auf die Weiterentwicklung althergebrachter Technologien legt.
Zumindest theoretisch würde eine deutliche Verbesserung der Gleitzahl die technischen Hürden für den Hyperschall-Langstreckenflug verringern. Im Prinzip können »Waverider«-Konstruktionen den Wert auf sechs oder mehr erhöhen. Dabei passt eine spezielle Keilform genau zum Muster der Stoßwellen, das die Luftströmung um den Flugkörper bei einer bestimmten Geschwindigkeit und Höhe hervorruft. Die Hülle schließt dann einen Teil der Stoßwelle unter sich ein und erzeugt so zusätzlichen Auftrieb. Das Konzept stammt aus den späten 1950er Jahren, hat sich allerdings als schwer umzusetzen erwiesen. Das HTV-2 basierte zwar auf einem solchen Prinzip, erreichte aber nur eine Gleitzahl von 2,6. 2020 zog sich die Luftwaffe aus dem teilstreitkräfteübergreifenden Hyperschallprogramm zurück und kündigte an, das keilförmige Design des HTV-2 für einen Kurzstreckengleiter zu adaptieren.
Am Ende bleibt gefährliches Säbelrasseln
Eine Erhöhung der Gleitzahl auf vier oder sechs würde dazu beitragen, die Wärmebelastung zu verringern und die Reichweite eines Gleiters zu erhöhen. Doch wir bezweifeln, dass solche Verbesserungen wirklich neue militärische Möglichkeiten eröffnen würden. Die Erwärmung ist nach wie vor eine große Herausforderung, da die Oberflächentemperatur eines Flugkörpers mit zunehmender Gleitzahl nur langsam sinkt. Laut unseren Berechnungen würde eine Erhöhung des vom HTV-2 erreichten Werts von 2,6 auf 6 die Oberflächentemperatur um höchstens 15 Prozent reduzieren. Damit wäre es kaum einfacher, Materialschäden bei Langstreckenflügen zu verhindern. Eine höhere Gleitzahl würde auch das Infrarotsignal eines Flugkörpers verringern und womöglich die Geschwindigkeit auf bis zu Mach 7 steigern, mit der er – zumindest von momentan eingesetzten Satelliten – unentdeckt fliegen könnte. Dazu käme eine etwas bessere Manövrierfähigkeit. Diese ließe sich jedoch leichter durch eine vergleichsweise geringe Zunahme der Anfangsgeschwindigkeit steigern, da die Manövrierfähigkeit vom Auftrieb abhängt, der mit dem Quadrat der Geschwindigkeit wächst. Darum sieht es insgesamt nicht so aus, als verliehen zu erwartende Fortschritte bei Hyperschallgleitern den Waffen plötzlich revolutionäre Eigenschaften.
Dessen ungeachtet hat die Propaganda rund um Hyperschallwaffen die Militärmächte zu steigenden Investitionen in solche Systeme getrieben sowie das Risiko eines Konflikts zwischen den USA, Russland und China erhöht. Die Angst vor einem unabwendbaren Angriff, so vage und unberechtigt sie sein mag, verleitet die Länder möglicherweise zu überhasteten und eskalierenden Reaktionen. Deswegen braucht es unparteiische technische Analysen, die der Öffentlichkeit und der Politik dabei helfen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Doch obwohl die Mittel für die Entwicklung und den Bau neuartiger Waffen unerschöpflich zu sein scheinen, schrumpfen die Ressourcen für unabhängige Forschung auf dem Gebiet. Ihr Verlust wäre ein Freifahrtschein für verschwenderische Ausgaben und wachsende globale Spannungen.
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