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Ignoranz: Warum Menschen an einem Irrglauben festhalten

Ob es um die Klimakrise geht, um die Existenz des Coronavirus oder ums eigene Privatleben: Manche wollen einfach nicht wahrhaben, was längst erwiesen ist. Das hat weniger sachliche als psychologische Gründe.
Mann von hinten, der sich die Ohren mit den Zeigefingern zuhält.

Oft genug gibt es auf eine Frage noch keine verlässliche Antwort; es fehlt an Forschung, oder die Daten sind uneindeutig. Doch manchmal ist die Sache klar, und dennoch vertreten Menschen Ansichten, die den Fakten offenkundig widersprechen. Woran liegt das?

Mit Bildung oder Denkvermögen hat das nur wenig zu tun, wie zwei neue Studien zeigen. Vielmehr mit »motivated reasoning«, dem Festhalten an erwünschten, wenn auch nachweislich falschen Annahmen. Anders gesagt: Wenn jemand eine Ansicht vertritt, die mit den Fakten unvereinbar ist, dann nicht aus sachlichen, sondern aus persönlichen Gründen.

Corey Cusimano und Tania Lombrozo von der Princeton University untersuchten das Phänomen an Beispielen aus Alltag und Privatleben. Sie legten rund 1900 Versuchspersonen Fallgeschichten vor, in denen die Sachlage eine bestimmte Sicht nahelegte, aber moralische Normen eine andere. Ein Beispiel: Im Zimmer eines guten alten Freundes wurde Kokain gefunden, doch er behauptet, es sei nicht von ihm. Soll man ihm glauben? Die Versuchspersonen gaben zum einen an, was sie in dieser Situation für die richtige Position hielten, zum anderen, was ein objektiver Beobachter aus den Beweisen schließen würde.

Lag die sozial erwünschte Meinung nicht innerhalb der von den Fakten vorgegebenen Grenzen, so wurden diese notfalls verschoben

Die beiden Urteile lagen im Schnitt zwar nahe beisammen. Aber je mehr die Versuchspersonen es für moralisch geboten ansahen, die Fakten zu ignorieren, desto mehr taten sie das auch – jeder Dritte sogar jenseits der Grenzen, die er selbst nach objektiven Maßstäben noch als vertretbar ansah. Und umso moralischer eine Ansicht in den Augen der Versuchspersonen war, desto weniger Belege befanden sie für nötig. »Die Versuchspersonen hielten moralische Erwägungen für legitime Gründe, eine Ansicht zu vertreten, die nicht dem objektiven, evidenzbasierten Urteil entspricht«, erläutern Cusimano und Lombrozo in der Zeitschrift »Cognition«.

Wie die Psychologen in einer Anschlussstudie zeigten, legten die Versuchspersonen zweierlei Maß an: War jemand moralisch verpflichtet, die Sachlage zu ignorieren, so vergrößerte sich für ihn – aber nur für ihn – der zulässige Spielraum dessen, was noch als faktengetreu galt. Lag die sozial erwünschte Meinung nicht innerhalb der von den Fakten vorgegebenen Grenzen, so wurden diese eben notfalls verschoben.

Die Augen vor der Wahrheit zu verschließen, ist nachvollziehbar, wenn es um Freunde und Familie geht. Anders bei wissenschaftlichen Fragen: Hier gibt es auf den ersten Blick keinen guten Grund dafür, Fakten zu leugnen. Matthew Hornsey von der University of Queensland erforscht seit vielen Jahren, was hinter Wissenschaftsskepsis steckt. Sein Fazit in der Zeitschrift »Current Directions in Psychological Science«: Um eine solche Haltung zu verstehen, müsse man die psychologischen Hintergründe kennen. Der Psychologe hat sechs Motive gefunden, deretwegen Menschen wissenschaftliche Befunde ignorieren.

Ideologien und Eigeninteressen

Hornsey und seine Arbeitsgruppe zeigten: Ob jemand den Klimawandel leugnete, ließ sich besser aus dessen politischer Weltanschauung vorhersagen als aus dessen Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildungsstand. Bei politisch Linken steige zwar erwartungsgemäß mit zunehmendem Wissen auch der Glaube an den Klimawandel. Bei Erzkonservativen hingegen war es jedoch umgekehrt: Je gebildeter, desto skeptischer waren sie. Eine konservative Einstellung sei aber nicht per se ein Grund, wissenschaftliche Fakten zu leugnen, erläutert der Psychologe, sondern es gehe um wirtschaftliche Interessen. Den Klimawandel anzuerkennen, könne kostspielig sein, etwa für die Kohleindustrie.

Verschwörungsglaube und Ängste

Verschwörungsglaube – die Neigung, offiziellen Verlautbarungen zu misstrauen – sei mit vielen Einstellungen verbunden, die dem Stand der Wissenschaft widersprechen, sagt Hornsey. Am stärksten mit Impfskepsis: Vor allem in westlichen Ländern hing sie eng mit Verschwörungsglaube zusammen, wie er und sein Team in einer internationalen Studie zeigten. Die Befragung in 24 Ländern ergab außerdem, dass die Impfskepsis umso größer war, je mehr sich die Befragten vor Spritzen ekelten. Hornsey wertet das als Hinweis darauf, dass hinter einer scheinbar rational begründeten Einstellung manchmal auch irrationale Gefühle stecken. Beispielsweise könne sich jemand zum Impfgegner entwickeln, um sich nicht mit seiner Angst vor Spritzen konfrontieren zu müssen.

Persönliche und soziale Identitäten

Eine Einstellung kann einen Teil der persönlichen Identität ausmachen, zum Beispiel als Querdenker oder Impfgegner, und so das Selbstwertgefühl stärken. Sie kann auch zur sozialen Identität werden und ein Gefühl von Zugehörigkeit verschaffen. Wer seine Meinung ändert, riskiere damit auch sein soziales Netz, schreibt der Psychologe. Die soziale Identität könne umgekehrt aber ebenso zur Meinungsänderung beitragen, wie Hornseys Forschung zeigte. Schlägt ein Konservativer eine klimafreundliche Maßnahme vor, habe sie bei Gleichgesinnten bessere Chancen, vor allem wenn sie mit gemeinsamen konservativen Werten begründet werde.

Hornsey hält Aufklärung mit objektiven Informationen zwar für das erste und beste Mittel gegen Ignoranz und Fehlinformationen. Doch das allein genüge nicht, sagt er. Man müsse die wahren Motive berücksichtigen, zum Beispiel, indem man sich ihrer bediene. »Wenn die Gründe dafür, Wissenschaft zu leugnen, beseitigt sind, dann haben die meisten Menschen auch keine Probleme mehr, den wissenschaftlichen Konsens zu verstehen.«

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