Lebensmittelallergien: Erdnüsse schon für Säuglinge?
Zoe ist ein gutes Jahr alt, als sie beim Besuch des Urgroßvaters unbemerkt ein paar Erdnüsse ergattert. »Abends ging das Drama los: Hautausschlag, Atemnot und ab in die Kinderklinik, wo wir erst einmal zwei Tage verbrachten«, schreibt Zoes Mutter auf der Seite des Nuss/Anaphylaxie Netzwerks (NAN) e. V. Zoe reagiert allergisch auf Erdnüsse und muss sie fortan meiden. Zu Hause gelingt das gut, Probleme gibt es aber, als Zoe in den Kindergarten kommt.
Die Kleine ist in eine Gruppe mit backfreudigen und wenig allergiekundigen Eltern geraten: Drei Anfälle innerhalb eines halben Jahres, jeweils mit Aufenthalt im Krankenhaus, folgen. Das Kita-Personal weigert sich zunächst, die notwendigen Medikamente zu geben. Wenn die anderen Kinder vor Keks und Kuchen sitzen, lutscht Zoe an einem Bonbon. Ihre Eltern entschließen sich, Zoe bei einem anderen Kindergarten anzumelden, wo es kleinere Gruppen und Erzieherinnen und Erzieher mit Allergieerfahrung gibt.
Wer ein Kind mit einer Nahrungsmittelallergie hat oder selbst daran leidet, weiß, mit welchen Sorgen und Gefühlen von »Anderssein« die Beschwerden verbunden sein können. Nicht selten stehen die Betroffenen (und ihre Angehörigen) unter emotionalem und körperlichem Stress, sind (über)vorsichtig und beeinträchtigt in ihren sozialen Aktivitäten.
Wie entsteht eine Nahrungsmittelallergie? Was kann präventiv getan werden, damit das Immunsystem nicht überreagiert, sondern sich tolerant verhält? Sollten Kinder – entgegen älteren Empfehlungen – tatsächlich möglichst früh mit allergenen Nahrungsmitteln in Kontakt kommen?
Wo fängt eine Nahrungsmittelallergie an?
Bei einer Nahrungsmittelallergie (NMA) reagiert das Immunsystem mit Antikörpern (vom IgE-Typ) und/oder aktivierten Abwehrzellen auf molekulare Strukturen, die Allergene, in harmlosen Lebensmitteln. Die häufigsten Auslöser bei Kindern sind hier zu Lande Kuhmilch, Hühnerei, Weizen, Soja und Erdnuss, bei Erwachsenen Hasel- und Erdnüsse, Weizen und Schalentiere.
Es gibt einen Unterschied zwischen einer Allergie und einer Nahrungsmittelunverträglichkeit. Wer nach dem Verzehr etwa von Milch Durchfall, Krämpfe und Blähungen bekommt, muss keine Allergie haben, sondern kann an einer Laktoseintoleranz leiden – bei der wegen eines Enzymmangels zu viel unverdauter Milchzucker in den Dickdarm gelangt.
In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten haben Nahrungsmittelallergien deutlich zugenommen – in manchen Industrieländern sind bis zu zehn Prozent der Bevölkerung betroffen. Laut Angaben der WHO leiden in Island und Thailand die wenigsten, in Kanada, Australien und Finnland die meisten Kinder an einer Nahrungsmittelallergie. »In Deutschland sind etwa vier Prozent der Kinder betroffen; bei den Erwachsenen etwas mehr oder etwas weniger als vier Prozent, je nachdem, ob man pollenassoziierte Nahrungsmittelallergien mitzählt oder nicht«, sagt Stefan Vieths, Vizepräsident des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen. Auf dem Allergiekongress in Hannover Ende September 2019 seien sich die Experten einig gewesen, dass die Häufigkeit aktuell nicht mehr so stark ansteige, sondern die Zahlen eher stagnierten, berichtet Vieths.
»Symptome wie ein leichtes Schwellungsgefühl im Hals oder Ohrenjucken werden oft gar nicht als Allergiezeichen gedeutet«Stefan Vieths, Paul-Ehrlich-Institut
Während Allergien bei Kindern der häufigste Grund für lebensbedrohliche anaphylaktische Reaktionen sind, dominieren bei Erwachsenen – gerade wenn bei einem Pollenallergiker eine Kreuzallergie gegen Apfel, Haselnuss, Kiwi, Kirsche, Karotte oder anderes vorliegt – häufig mildere allergische Reaktionen. »Die Symptome wie ein leichtes Schwellungsgefühl im Hals oder Ohrenjucken werden dann gar nicht als Allergie gedeutet«, sagt Vieths. Doch wie bei Kindern können NMA auch bei Erwachsenen Rötungen der Haut, Husten, Luftnot und schwere, lebensbedrohliche Reaktionen des Herz-Kreislauf-Systems verursachen.
Sichere Zahlen zur Häufigkeit gibt es aus verschiedenen Gründen nicht. So geben bei Befragungen meist mehr Menschen an, eine Allergie zu haben, als sich dann bei einer klinischen Untersuchung tatsächlich bestätigt. Sechs Prozent der Befragten in Deutschland etwa glauben, sie hätten eine Kuhmilchallergie, aber nur jeder zehnte von diesen hat wirklich eine solche Allergie.
Außerdem können sich Nahrungsmittelallergien von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich zeigen. Selbst wenn die Menge an IgE-Antikörpern gegen ein Nahrungsmittel im Blut von zwei Menschen eine gewisse Grenze überschreitet, kann das bei dem einen Symptome auslösen, bei dem anderen nicht. Ebenso kann ein Mensch je nach eigener Lebenssituation und Konstitution (Krankheit, Hormone, Stress) mal stärker, mal weniger oder gar nicht spürbar auf ein Nahrungsmittel reagieren.
Wie entsteht eine Nahrungsmittelallergie?
»Genetische Faktoren können den starken Anstieg von Nahrungsmittelallergien in den letzten Jahren nicht erklären; Umweltfaktoren und der Lebensstil spielen eine entscheidende Rolle«, sagt Stefan Vieths. Wenn man versteht, wie eine solche Allergie entsteht und welche Faktoren dazu beitragen, könnte man präventiv – soweit es sich um veränderbare Faktoren handelt – eine Nahrungsmittelallergie verhindern. Inzwischen kennt man einige Risikofaktoren und immunologische Mechanismen, die ablaufen, vieles ist aber auch noch unbekannt.
»Einer Allergie liegt eine fehlgesteuerte Antwort des Immunsystems zu Grunde«, sagt Margitta Worm, Leiterin der Allergologie und Immunologie der Hautklinik der Charité in Berlin. Das kindliche Immunsystem lernt normalerweise sehr früh, die Bestandteile harmloser Nahrungsmittel oder Umweltantigene zu tolerieren. Kommen Immunzellen in dieser Phase mit den Antigenen in Kontakt, werden vermehrt »beruhigende« Abwehrzellen, so genannte »Treg-Zellen«, gebildet, die eine Immunreaktion gegen die Bestandteile in der Nahrung verhindern. »Vermutlich gibt es im Lauf der kindlichen Entwicklung ein sehr frühes Zeitfenster, innerhalb dessen der Kontakt zu einem Nahrungsmittel in einer Toleranz mündet«, erklärt Worm.
Wo genau dieses Zeitfenster liegt – womöglich von der Schwangerschaft bis in die ersten Lebensmonate oder Jahre? –, ist noch unklar. Findet die erste Begegnung mit den harmlosen Nahrungs- und Umweltbestandteilen jedoch außerhalb dieses Zeitfensters statt, so die Theorie, würden andere Immunzellen aktiv, IgE-Antikörper ausgeschüttet und die bekannten Symptome auftreten.
Mütterliches Mikrobiom beeinflusst kindliche Immunabwehr
Die Effekte mütterlicher Faktoren auf die Entstehung einer Nahrungsmittelallergie seien bisher kaum verstanden, schreiben Takashi Fujimura und seine Kollegen von der Harvard Medical School in Boston. Während der Schwangerschaft, der Geburt und des Stillens treten Bestandteile der mütterlichen Nahrung auf das Kind über. Dadurch kann sich die kindliche Abwehr auf die natürliche Umwelt, in die es hineingeboren wird, einstellen. Außerdem beeinflussen Signalstoffe des mütterlichen Immunsystems, Zytokine und Bakterien des mütterlichen Mikrobioms die Balance zwischen Toleranz und Angriff der kindlichen Immunabwehr.
Doch offenbar spielen nicht nur der Zeitpunkt oder begleitende (mütterliche) Immunfaktoren eine wichtige Rolle, sondern auch das »Wie« der ersten Begegnung. Nach Ansicht des britischen Kinderarztes und Allergologen Gideon Lack vom King's College London toleriert das Immunsystem Nahrungsmittelbestandteile, wenn der erste Kontakt oral, also über den Verdauungstrakt, zu Stande gekommen ist. Findet dieser Kontakt dagegen über die Haut statt (zum Beispiel über entzündete, durch Neurodermitis versehrte Haut), können die Moleküle in den Lebensmitteln eine Allergie auslösen.
Dieser dualen Allergen-Expositions-Hypothese liegt die Beobachtung zu Grunde, dass Erdnussallergien oder auch Senf- beziehungsweise Buchweizenallergien dort häufiger auftreten, wo diese Nahrungsmittel regelmäßig verzehrt werden: Erdnüsse etwa in den USA oder Großbritannien, Senf in Frankreich, Buchweizennudeln in Japan. »Die Eltern essen diese Lebensmittel, dann berühren oder küssen sie ihre Kinder, und die Moleküle durchdringen die Haut«, erläutert Lack gegenüber »Scientific American«. Falls die Hypothese zuträfe, könnte sie aber nur eine Untergruppe von Nahrungsmittelallergien erklären. »Kinder mit Neurodermitis bekommen zwar häufiger eine Nahrungsmittelallergie, doch nicht alle Nahrungsmittelallergiker haben einmal unter Neurodermitis gelitten«, sagt Margitta Worm.
Risikofaktoren minimieren
Inzwischen sind einige Faktoren bekannt, die das Risiko für eine Nahrungsmittelallergie erhöhen, das Immunsystem also offenbar dabei stören, Toleranz zu lernen. Dazu zählen beispielsweise all diejenigen Einflüsse, die die Bakteriengesellschaft im Darm eines Menschen negativ beeinträchtigen, wie eine frühe Antibiotikatherapie, das Leben in der Stadt, die Geburt per Kaiserschnitt.
Ebenfalls im Verdacht, Nahrungsmittelallergien zu fördern, steht eine unausgewogene Ernährung von Mutter und Kind – etwa Mahlzeiten, die arm an Vitaminen, guten Fetten (Omega-3-Fettsäuren), Ballaststoffen und Antioxidanzien sind. Besonders ein Defizit von Vitamin D soll sich ungünstig auf die Toleranzentwicklung gegenüber Nahrungsmitteln auswirken, allerdings ist die Studienlage hierzu noch unklar.
»Eine wichtige Rolle spielt auch das Rauchen«, sagt Stefan Vieths. Wenn Kinder Rußpartikel über das Passivrauchen oder durch starken Autoverkehr in Wohnnähe einatmeten, erhöhe dies das Risiko für Nahrungsmittelallergien. »Rußpartikel haben eine adjuvante Wirkung: Sie verstärken die ungewollten Reaktionen der Immunabwehr gegen harmlose Nahrungsmittelbestandteile«, erklärt der Allergiespezialist vom Paul-Ehrlich-Institut.
Zurückhaltend sein oder nicht?
Noch vor 10 bis 20 Jahren wurde jungen Eltern empfohlen, kritische Nahrungsmittel bei der Versorgung des Nachwuchses möglichst spät einzuführen. Werdende Mütter sollten während der Schwangerschaft und der Stillzeit auf diese Lebensmittel verzichten. Die noch unreife und stärker durchlässige Darmschleimhaut des Säuglings würde eine Sensibilisierung gegen Allergene wahrscheinlicher machen. Mit kritischen Lebensmitteln wie Weizen, Kuhmilch, Ei sollte daher bis nach dem ersten Geburtstag gewartet werden – vor allem bei Kindern, deren Eltern unter Allergien litten.
»Wie sich inzwischen herausgestellt hat, ist diese übermäßige Zurückhaltung kontraproduktiv und hat eher zu einer Zunahme als Abnahme von Nahrungsmittelallergien geführt«, sagt Margitta Worm. Die Empfehlung, während Schwangerschaft und Stillzeit auf Erdnüsse zu verzichten, um den Nachwuchs vor einer Allergie zu schützen, führte in Großbritannien zum Beispiel zu den bisher höchsten Erdnussallergiker-Raten bei Vorschulkindern, die es jemals gab.
Die American Academy of Pediatrics (AAP) hat im April 2019 in ihren Empfehlungen zur Prävention von Erdnussallergie eine Kehrtwende vollzogen. Allergiegefährdete Kinder sollen demnach möglichst zwischen dem vierten und sechsten oder (bei Stillkindern) ab dem sechsten Lebensmonat mit speziellen Erdnussprodukten gefüttert werden. Grundlage für diese aktuelle Empfehlung ist die britische LEAP-Studie. »In dieser Studie mit insgesamt 640 Säuglingen bekamen Kinder, die über einen erdnusshaltigen Snack bereits früh (zwischen dem vierten und elften Lebensmonat) mit dem Allergen in Kontakt kamen, mit 3,2 Prozent seltener eine Erdnussallergie als Kinder, die diesen Snack nicht bekamen (17,2 Prozent)«, sagt Margitta Worm.
»Sicher ist, dass eine strikte Allergenmeidung aus den Empfehlungen gestrichen wird«Stefan Vieths
Die deutschen Leitlinien zum Management von Nahrungsmittelallergien sollen voraussichtlich 2021 in überarbeiteter Form erscheinen. »Sicher ist, dass eine strikte Allergenmeidung aus den Empfehlungen gestrichen wird«, sagt Stefan Vieths. Aber sonst sei noch nicht klar, in welche Richtung die Empfehlungen gehen würden, so Worm: »Die Frage der Früheinführung der Allergene wird international und auch in Deutschland gerade heftig diskutiert.«
Dass eine frühe Gabe des Allergens die Allergiehäufigkeit senke, sei bisher nur für die Erdnuss bestätigt, sagt Stefan Vieths. »Wir brauchen noch mehr Studien.« Nationale Studien seien wichtig, weil die Menschen hier zu Lande im Vergleich zu Großbritannien oder den USA anders lebten, sich anders ernährten und womöglich auch eine andere genetische Grundausstattung hätten; wichtige Faktoren, die die Entstehung einer Nahrungsmittelallergie stark beeinflussen, erklärt Margitta Worm.
Wie sollen Eltern nun mit dieser noch unsicheren Studienlage umgehen? In der Praxis sei man jetzt schon von extremen Meidungsstrategien zurückgetreten, sagt Worm. Fisch, Eier und anderes würden in den meisten Familien schon früher eingeführt als ehemals empfohlen. Sinnvoll wäre es, wenn die Kinder das, was in der Familie ohnehin auf dem Speiseplan steht, in kindgerechter Form zu essen bekämen, äußert auch Kirsten Beyer, Leiterin des kinderallergologischen Studienzentrums der Klinik für pädiatrische Pneumologie und Immunologie der Charité, gegenüber dem »Deutschen Ärzteblatt«.
»Wir haben gelernt, Empfehlungen nicht voreilig auszusprechen. Die alten bewirkten schließlich das Gegenteil von dem, was wir eigentlich erreichen wollten«Margitta Worm, Charité Berlin
In diesem Artikel warnt Beyer zusammen mit ihrer Kollegin Katharina Blümchen, Kinderärztin und Allergologin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, davor, dass bereits etwa gegen Erdnuss sensibilisierte Kinder mehr Schaden als Nutzen von einer frühen Gabe dieses Lebensmittels haben könnten. In Deutschland hätte man es mit einer weitaus niedrigeren Häufigkeit von Erdnussallergien als etwa in Großbritannien zu tun. Bislang wisse man nicht, ob eine »künstliche« Einführung der Erdnuss nicht letztlich zu mehr sensibilisierten Kindern führen würde.
Noch ist also vieles unklar. Empfehlungen für die Eltern müssten evidenzbasiert und gut überlegt sein, sagt Margitta Worm. »Wir haben gelernt, Empfehlungen nicht voreilig auszusprechen. Die alten bewirkten schließlich das Gegenteil von dem, was wir eigentlich erreichen wollten.«
Neue Ansätze gegen Allergien
Eltern, deren Kinder bereits eine Nahrungsmittelallergie haben, können aktuell auf zwei Dinge hoffen. Zum einen arbeiten Forscher und Firmen an Strategien zur Desensibilisierung, ähnlich wie es sie für Pollen-, Hausstaub- oder Tierhaarallergien gibt. Auf dem Allergie-Kongress in Hannover wurden zwei viel versprechende Ansätze für Erdnussallergiker vorgestellt. Bei einer oralen Immuntherapie werden kleinste Mengen Erdnuss zunächst unter ärztlicher Aufsicht, dann jeden Tag gegeben, wodurch sich der Schwellenwert erhöht, der noch ohne körperliche Reaktion vertragen wird.
Nach erfolgreicher Therapie werden drei oder vier Erdnüsse statt nur einer drittel Erdnuss vertragen. Der Nachteil: Die Methode ist mit zum Teil starken Nebenwirkungen verbunden. Bei einem zweiten Ansatz, der besser vertragen wird, aber auch nicht so gut wirkt, werden Pflaster mit einem Erdnussextrakt besprüht und auf die Haut geklebt.
Der andere Lichtblick: Manchmal verschwindet eine Nahrungsmittelallergie im Lauf des Lebens von allein. Am Ende der Grundschulzeit reagieren etwa nur noch die Hälfte der Kinder, die zu Beginn ihres Lebens große Probleme mit Milch, Ei, Weizen oder Soja hatten. Auch Zoe hat eine (allerdings geringere) Chance, dass sich die Allergie von selbst wieder gibt. Vielleicht zählt sie zu den 20 von 100 Allergikern, die zwar zu Beginn ihres Lebens heftig auf Erdnüsse reagieren, als älteres Schulkind jedoch nicht mehr.
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