Immunsystem: Löst Corona eine Immunschwäche aus?
Immunschwäche. Dieser Begriff ist in der Medizin normalerweise entweder für genetisch bedingte Erkrankungen reserviert, bei denen Teile des Immunsystems nicht funktionieren. Oder eben für die Immunschwächekrankheit Aids, die durch das HI-Virus hervorgerufen wird und ohne Behandlung bestimmte Immunzellen spezifisch infiziert und zerstört. Auch vom Masernvirus ist bekannt, dass es langfristig das Immunsystem schädigt. Hat Sars-CoV-2 vergleichbar gefährliches Potenzial? Schwächt das Coronavirus womöglich dauerhaft das Immunsystem?
Mit ausgelöst hat diese Debatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der vorsichtigen Menschen lange als Stimme der Vernunft in der Pandemie galt. Seine Ende Januar 2023 getätigten Aussagen zu Sars-CoV-2 sorgten deshalb in Teilen der Bevölkerung für Besorgnis. Zunächst hieß es, Karl Lauterbach habe in einem Interview mit der »Rheinischen Post« von einer »unheilbaren Immunschwäche« durch die Infektion gesprochen. Doch diese Aussage wurde korrigiert, nachdem viele Medien sie aufgegriffen hatten. Es sei zu einem Autorisierungsfehler gekommen, so der Minister. »Es ist bedenklich, was wir bei Menschen beobachten, die mehrere Corona-Infektionen gehabt haben. Studien zeigen mittlerweile deutlich, dass die Betroffenen es häufig mit einer Immunschwäche zu tun haben, deren Dauer wir nicht kennen«, hieß es schließlich in dem überarbeiteten Interview.
Wie andere Viren das Immunsystem schwächen
Doch was zeigen diese Studien genau? Welche Vergleiche lassen sich zu anderen Erregern, die das Immunsystem schädigen, ziehen? Bei HIV ist gut bekannt, was die Immunschwäche bei Betroffenen auslöst: Das HI-Virus nutzt zum Eindringen in seine Wirtszelle bestimmte Rezeptoren, zum einen den so genannten CD4-Rezeptor, zum anderen den CCR5-Rezeptor. Sie sind gemeinsam vor allem für T-Helferzellen charakteristisch. Diese wiederum sind unentbehrlich für eine gute Antikörperantwort. HIV zerstört diese Zellen. Auch das Masernvirus dringt über Rezeptoren in Zellen ein, die maßgeblich auf Immunzellen vorkommen – und zwar auf B-Zellen, die Antikörper produzieren. Ungeimpfte, die sich infizieren, verlieren dadurch einen Teil ihres Immungedächtnisses. »Das ist ein Reset des Immunsystems, der über Jahre hinweg anfälliger für andere Infekte machen kann«, sagt der Molekularbiologe Emanuel Wyler, der am Max Delbrück Center für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin an Herpes- und Coronaviren forscht.
Sars-CoV-2 dagegen nutzt den ACE2-Rezeptor, der vor allem in den Atemwegen und im Herzen, aber auch im Verdauungstrakt, in den Nieren, in der Leber, den Fortpflanzungsorganen sowie in einigen Hirnarealen vorkommt – nicht aber auf Immunzellen. Zwar gibt es eine Studie, die nachgewiesen haben will, dass Coronaviren selbst ohne Beteiligung des ACE2-Rezeptors in T-Zellen aufgenommen werden, allerdings hat sie methodische Schwächen. Die Versuche beziehen sich lediglich auf eine Patientenprobe. »Die Kontrollen waren nicht ausreichend, und es wurde letztlich nur nachgewiesen, dass Viruspartikel von Immunzellen aufgenommen wurden. Das ist nicht außergewöhnlich und bedeutet vor allem erst mal nicht, dass diese zerstört werden«, sagt Emanuel Wyler. »Vor allem aber hat diese Arbeit keine praktische Bedeutung, weil infektiöses Sars-CoV-2 in der Regel gar nicht im Blut vorkommt, wo sich diese T-Zellen grundsätzlich befinden.« Der MDC-Forscher war an einer Arbeit beteiligt, die bei an Covid-19 Verstorbenen sogar in den Organen keinerlei Viren finden konnte, in denen die meisten ACE2-Rezeptoren im Körper vorkommen: in den Nieren.
Seit Beginn der Pandemie gab es viele Studien, die versucht haben, immunologische Veränderungen durch eine Sars-CoV-2-Infektion festzustellen. Eine Studie fand, dass die Balance eines Typs von T-Zellen, so genannter CD4-Zellen, sich bei Personen mit schwerem Verlauf verändert hatte. Und zwar so, dass die für eine gute Antikörperantwort notwendigen T-Helferzellen weniger oft vorkamen. Eine andere Studie wies bei schweren Covid-Verläufen erschöpfte zytotoxische CD8-Zellen nach, also jene T-Lymphozyten, die virusinfizierte Körperzellen töten. »Es sind allerdings kleine Fallzahlen, und außerdem kann man da auch nie sagen, wie gut das Immunsystem vor der Infektion war«, sagt Emanuel Wyler. »Prospektive Studien, also mit Daten von vor und nach der Infektion, gibt es von solchen immunologischen Parametern nicht.« Mit anderen Worten: Die Immunsysteme der Probanden in den Studien können auch vor der Infektion bereits sehr unterschiedliche Zahlen an mehr oder weniger gut funktionierenden Immunzellen gehabt haben, man weiß es aber nicht. »Menschen unterscheiden sich am meisten nicht im äußeren Aussehen, sondern in ihren Immunsystemen«, erklärt Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich. »Das ist genetisch bedingt, so dass ein Erreger immer auf eine ganz individuelle Abwehr trifft.«
Effekt auf das Immunsystem durch Sars-CoV-2
Eine umfassende Arbeit zur Veränderung des Immunsystems kommt aus Australien, wo ein Forscherteam mit verschiedenen Methoden bei 69 Corona-Infizierten über sechs Monaten viele Immunparameter nachverfolgte. Es zeigte sich, dass etwa die CD4-Zellen, wozu auch die T-Helferzellen zählen, gegenüber nicht erkrankten Personen 12 Wochen nach der Infektion stark verringert waren. Nach 24 Wochen hatte sich ihre Anzahl aber wieder so weit erhöht, dass sie im Mittel auf dem Niveau wie bei den Nichtinfizierten war.
»Das ist eigentlich genau das, was wir erwarten«, sagt Onur Boyman. »Denn wenn die T-Zellen effektiv aktiviert werden, wandern sie in die Lymphknoten und verschwinden deshalb aus dem Blut.« Zwar sind T-Zellen spezifisch, das heißt, eine T-Zelle erkennt nur genau ein Bruchstück eines Proteins, also zum Beispiel ein Fragment des Spike-Proteins von Sars-CoV-2, was bedeutet, dass durch eine Konfrontation mit dem Virus zunächst nur genau diese T-Zellen aus dem Blut verschwinden würden. Doch dies allein würde die Abwehr von etwa Streptokokken nicht beeinträchtigen.
»Allerdings gibt es auch eine so genannte Bystander-Aktivierung durch die Entzündungsreaktion«, erklärt Onur Boyman. »Dadurch wird ein Großteil der benachbarten T-Zellen angeregt, in die Lymphknoten zu wandern.« Dieses Phänomen wiesen Forschende auch bei Sars-CoV-2 nach. Es zeigte sich, dass eine frühe und hohe Bystander-Aktivität bei Menschen vorhanden war, die nur leicht an Corona erkrankten. Bei denjenigen, die schwer betroffen waren, fiel sie geringer aus. Man vermutet, dass die Bystander-Aktivität durch die Ausschüttung bestimmter Zytokine (etwa Interleukin-15) die frühe Immunantwort verstärkt, bevor die spezifischen T-Zellen in ausreichend großer Zahl vorhanden sind.
»Auf einer Skala, auf der ein Rhinovirus kaum bis keinen Schaden am Immunsystem anrichtet und HIV es komplett zerstört, würde ich Sars-CoV-2 … irgendwo in der Mitte verorten«Emanuel Wyler, Max Delbrück Center für Molekulare Medizin
Nur wenige Hinweise auf eine Immunschwäche durch Sars-CoV-2 gibt es aus der Epidemiologie. Eine Analyse der Krankendaten von fast zwei Millionen Israelis fand eine signifikant erhöhte Anzahl von Diagnosen einer durch Streptokokken verursachten Mandelentzündung. Das Risiko stieg bei Corona-Infizierten um ein Drittel gegenüber Nichtinfizierten, allerdings lediglich von 0,62 auf 0,96 Prozent. Es war demnach weiterhin niedrig. »Für mich zeigen diese Daten: Ja, es gibt einen erschöpfenden Effekt auf das Immunsystem, aber er ist wohl nicht sehr groß«, sagt Emanuel Wyler. »Auf einer Skala, auf der ein Rhinovirus kaum bis keinen Schaden am Immunsystem anrichtet und HIV es komplett zerstört, würde ich Sars-CoV-2 – jetzt, da die meisten Menschen gegen das Virus geimpft, davon genesen oder beides sind – irgendwo in der Mitte verorten. Denn nach wie vor gibt es Menschen, die nach einer Infektion ins Krankenhaus müssen oder daran sterben oder wochen- bis monatelang krank sind.«
Sars-CoV-2 hat in der Akutphase viele Mechanismen, dem Immunsystem zu entgehen, etwa indem es die Interferon-Ausschüttung infizierter Zellen verringert und die Antigen-Präsentation (den Prozess, mittels der der Körper erkennt, ob eine Zelle mit einem Virus infiziert ist) behindert. Immer wieder wird von persistierenden (bleibenden) Sars-CoV-2-Infektionen berichtet. Bei diesen Menschen wird das Immunsystem also dauerhaft von dem Virus beeinflusst. Vielleicht ist aber auch eine bereits vor der Infektion vorhandene Immunschwäche überhaupt der Grund für eine anhaltende Erkrankung. Bei anderen chronischen Infektionen ist bekannt, dass sie dauerhaft Mechanismen in Kraft setzen, die die Immunabwehr ausschalten. So können Zytomegaloviren langfristig natürliche Killerzellen, die der ersten Virusabwehr dienen, in ihrer Funktion stören. Bei Sars-CoV-2 gibt es dafür bislang keine Hinweise.
»Sars-CoV-2 verursacht keine Immunschwäche. Wir sehen langfristig bei Genesenen lediglich die Folgen eines zum Teil sehr intensiven Kampfes ihrer Immunabwehr«Onur Boyman, Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich
»Eine wenige Wochen andauernde, leichte Unterdrückung des Immunsystems ist nach Infektion mit respiratorischen Viren nichts Außergewöhnliches«, sagt Onur Boyman. »Insbesondere, wenn die Lunge befallen wird, sehen wir häufig zusätzliche bakterielle Infektionen, die zu Lungenentzündungen führen.« Dies ist auch etwa von der Influenza bekannt, allerdings eher in der akuten Phase. Es gibt Hinweise, dass antivirale Botenstoffe des Immunsystems wie Interferone vom Typ I andere Botenstoffe herunterregulieren, die sich gegen Bakterien richten. Wahrscheinlich um Ressourcen für die Virusabwehr zu schonen.
»Wie sich virale Infekte der Atemwege langfristig auf das Immunsystem auswirken, ist kaum untersucht«, sagt Emanuel Wyler. Mit anderen Worten: Vielleicht fallen entsprechende Effekte nun auf, weil es im Zuge der Pandemie erstmals möglich ist, diese zu analysieren. Die Experten sind jedenfalls nicht beunruhigt. »Sars-CoV-2 verursacht keine Immunschwäche«, sagt Onur Boyman. »Wir sehen langfristig bei Genesenen lediglich die Folgen eines zum Teil sehr intensiven Kampfes ihrer Immunabwehr.«
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