Immunantwort: Wie das Gehirn Krankheit und Gesundheit steuert
Weltweit suchen hunderte Forscherinnen und Forscher nach neuen Wegen, Herzinfarkte zu behandeln. Aber nur wenige suchen dort, wo Hedva Haykin sie vermutet: im Gehirn. Die Doktorandin am Technion Israel Institute of Technology in Haifa versucht nachzuweisen, dass die Stimulation einer bestimmten Hirnregion die Heilung des Herzens beschleunigen kann.
Es ist Ende 2022. In einem kleinen, fensterlosen Mikroskopierraum holt Hedva Haykin einen Objektträger nach dem anderen aus einem schmalen schwarzen Kasten. Auf den Glasplättchen liegen kürbiskerngroße Scheiben, Schnitte aus Mäuseherzen, die einen Herzinfarkt erlitten haben. Unter dem Mikroskop erkennt man bei einigen der Proben sofort die Narben, die der Infarkt hinterlassen hat. Andere dagegen zeigen nur kleine Inseln geschädigten Gewebes zwischen Streifen gesunder, roter Zellen. »Der Grund für das unterschiedliche Aussehen dieser Herzen liegt im Gehirn«, sagt Hedva Haykin. »Die gesünderen Proben stammen von Mäusen, bei denen ein Bereich des Gehirns stimuliert wurde, der für positive Emotionen und Motivation zuständig ist. Die anderen stammen von Tieren, deren Gehirn nicht stimuliert wurde.«
Anfangs konnten Hedva Haykin und ihre Kollegen nicht glauben, was sie da im Mikroskop sahen. Erst nachdem sie das Experiment mehrfach wiederholt hatten, begannen sie den Ergebnissen zu trauen. Zusammen mit ihren Mentoren vom Technion Institute, der Neuroimmunologin Asya Rolls und dem Kardiologen Lior Gepstein, versucht Hedva Haykin seither herauszufinden, wie der Effekt in den Mäuseherzen zu Stande kam. Vorläufigen Daten zufolge war es die Aktivierung des so genannten ventralen tegmentalen Areals (VTA), eines Teils des Belohnungssystems, die das Immunsystem dazu gebracht hatte, das Narbengewebe im Herzen abzubauen.
Hedva Haykins Arbeit ist von Forschungsergebnissen der vergangenen Jahrzehnte inspiriert. Sie legen nahe, dass die psychische Verfassung eines Menschen zur Herzgesundheit beitragen kann. Beim so genannten »Syndrom des gebrochenen Herzens« etwa kann ein belastendes Ereignis die Symptome eines Herzinfarkts hervorrufen, was in seltenen Fällen tödlich enden kann. Umgekehrt kann eine positive Einstellung bei Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen den Therapieerfolg verbessern. Die Mechanismen hinter diesem Zusammenspiel von Hirn und Herzgesundheit liegen jedoch im Dunkeln.
Auch Krankheiten, die jahrhundertelang als »psychosomatisch« abgetan wurden, müssten dann anders bewertet und behandelt werden
Asya Rolls, Hedva Haykins Mentorin, ist es gewohnt, dass ihre Mitarbeiter mit überraschenden Ergebnissen zu ihr kommen. Auch wenn sie ihre Begeisterung dann kaum zügeln kann, bleibt sie vorsichtig. Immerhin hätten die jüngsten Entdeckungen, wenn die sich erhärten, weit reichende Konsequenzen. So könnten sie eine Erklärung für ein Phänomen liefern, von dem Ärzte und Forscher immer wieder berichten: dass psychische Zustände tief greifend beeinflussen, wie krank wir werden – und wie gut wir uns erholen. Einmal verstanden, könnten sich Ärzte diese Interaktion von Hirn und Immunsystem zu Nutze machen. »Zum Beispiel, um den Placeboeffekt so zu verstärken, dass er in der Krebsbehandlung genutzt werden kann«, sagt Asya Rolls. »Oder, um Impfreaktionen zu optimieren.« Auch Krankheiten, die jahrhundertelang als »psychosomatisch« abgetan wurden, müssten dann anders bewertet und behandelt werden.
Es gibt viele bekannte Kommunikationswege zwischen Nerven- und Immunsystem: von kleinen lokalen Schaltkreisen in Organen wie der Haut bis hin zu größeren, die ihren Ursprung im Gehirn selbst haben. Bei einer Vielzahl von Krankheiten, von Autoimmunerkrankungen bis hin zu Krebs, spielen diese Schaltkreise eine entscheidende Rolle. Der Vagusnerv zum Beispiel – ein Bündel aus Nervenfasern, die den Körper mit dem Gehirn verbinden – wird derzeit in klinischen Studien als möglicher Auslöser von Autoimmunerkrankungen untersucht. Andere Studien erkunden, wie das Gehirn selbst zur Therapie körperlicher Erkrankungen rekrutiert werden könnte.
So ermutigend diese Entwicklung für die Forscher sein mag: Viele Puzzleteile des Zusammenspiels zwischen Nerven- und Immunsystem liegen noch im Verborgenen. »Wir sprechen da oft von einer ›Blackbox‹ zwischen dem Gehirn und den Auswirkungen, die wir in der Peripherie sehen«, sagt Henrique Veiga-Fernandes, Neuroimmunologe am Champalimaud Centre for the Unknown in Lissabon. »Wenn wir sie therapeutisch nutzen wollen, müssen wir die Mechanismen innerhalb dieser Blackbox verstehen.«
Eine Geschichte von zwei Systemen
Hinweise auf eine enge Beziehung zwischen Kommandozentrale und Körperabwehr gibt es schon lange. So wurde bereits Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts nachgewiesen, dass sich bestimmte Entzündungssymptome lindern lassen, wenn die Nerven in der Haut durchtrennt werden. Aber erst seit Ende der 1990er Jahre haben Forscher solche Effekte mit dem Gehirn in Verbindung gebracht. Der Neurochirurg Kevin Tracey, der zu dieser Zeit am North Shore University Hospital in Manhasset im US-Bundesstaat New York arbeitete, hat mit seinen Kollegen damals etwas völlig Unerwartet entdeckt.
Eigentlich wollte Traceys Team einen entzündungshemmenden Wirkstoff zur Behandlung von Schlaganfällen testen. Dazu injizierten sie Mäusen, die einen Schlaganfall erlitten hatten, das Medikament direkt ins Gehirn. Mit dem erwarteten Effekt: Die Entzündung im Gehirn ließ nach. Zur Kontrolle hatten sie den Wirkstoffkandidaten aber auch anderen Mäusen ins Gehirn injiziert, die zusätzlich unter einer systemischen Entzündung des ganzen Körpers litten. Ihre Vermutung war, dass die Wirkung in diesen Tieren auf das zentrale Nervensystem begrenzt bleiben müsste. Doch genau das Gegenteil war der Fall; auch die systemische Entzündung ließ nach. »Das war ein echter Schock für uns«, sagt Kevin Tracey, heute Präsident und CEO des Feinstein Institutes for Medical Research in Manhasset.
Nach den monatelangen fruchtlosen Versuchen, zu erklären, wie das Medikament vom Gehirn in den Körper gelangt war, durchtrennten die Forscher bei einigen Tiere den Vagusnerv. Dieses Bündel von etwa 100 000 Nervenfasern verläuft vom Gehirn zu vielen wichtigen Organen, darunter zu Herz, Lunge und Magen-Darm-Trakt. Und tatsächlich: Mit gekapptem Vagusnerv zeigte das entzündungshemmende Medikament keine Wirkung mehr außerhalb des Gehirns. Von der unerwarteten Entdeckung angespornt, erforschen Traceys Arbeitsgruppe und andere seither die Mechanismen, über die der Vagusnerv und das übrige Nervensystem Immunreaktionen steuern. Dabei konzentrieren sich die einzelnen Forschergruppen auf verschiedene Körpersysteme. Im vergangenen Jahr berichtete eine Gruppe um den Kardiologen Andreas Habenicht von der LMU München, dass die Interaktion zwischen Immunzellen und Nerven in der äußersten Schicht der Arterienwand beeinflusst, inwiefern eine Atherosklerose fortschreitet, eine entzündliche Erkrankung, bei der die Blutgefäße mit Cholesterin und anderen Substanzen verstopfen. Henrique Veiga-Fernandes und seine Gruppe wiederum haben herausgefunden, dass Cluster von Nerven- und Immunzellen in verschiedenen Geweben zusammenarbeiten, um Schäden zu erkennen und eine Immunreaktion zu mobilisieren. Aktuell untersuchen sie, wie diese kleinen Kommandozentralen durch das Gehirn gesteuert werden.
»Die meisten Menschen denken wahrscheinlich, dass Bakterien oder Viren im Körper das Krankheitsgefühl auslösen«Catherine Dulac, Harvard University
Auch das Gehirn selbst gibt nach und nach seine Immun-Geheimnisse preis. Die Neurowissenschaftlerin Catherine Dulac und ihr Team von der Harvard University haben Neuronen in einer Hirnregion, dem Hypothalamus, gefunden, die als Reaktion auf eine Infektion Symptome wie Fieber, das Bedürfnis nach Wärme sowie Appetitlosigkeit auslösen. »Die meisten Menschen denken wahrscheinlich, dass Bakterien oder Viren im Körper das Krankheitsgefühl auslösen«, sagt Catherine Dulac. Doch sie und ihre Forschungskollegen konnten zeigen, dass auch die künstliche Aktivierung der Nervenzellen im Hypothalamus Krankheitssymptome verursachen kann. Offen ist, ob diese Neuronen manchmal selbst ohne Infektion vom Körper aktiviert werden, etwa durch chronische Entzündungen.
Dass das Gehirn umgekehrt Entzündungen auszulösen vermag, zeigt eine Studie aus Asya Rolls' Labor aus dem Jahr 2021. Direkt über dem Hypothalamus liegt eine Hirnregion namens Insula (zu Deutsch: Insel), die an der Verarbeitung von Emotionen und Körperempfindungen beteiligt ist. Tamar Koren, eine Doktorandin von Asya Rolls, konnte zeigen, dass Neuronen in diesem Hirnareal Erinnerungen an frühere Darmentzündungen speichern – und dass die Immunreaktion reaktiviert wird, wenn diese Zellen stimuliert werden. Rolls, Koren und ihre Kollegen vermuten: Diese Reaktion bereitet den Körper auf Bedrohungen vor, auch wenn der ursprüngliche Auslöser fehlt. Das könnte bei bestimmten Krankheiten wie dem Reizdarmsyndrom der Fall sein, die sich durch negative psychische Zustände verschlimmern können.
»Klinikärzte wissen schon lange, dass positives Denken den Krankheitsverlauf beeinflusst«Fahed Hakim, Nazareth Hospital in Israel
Geist trumpft Materie
Asya Rolls verfolgt zusammen mit Fahed Hakim, Kinderarzt und Leiter der EMMS am Nazareth Hospital in Israel, noch eine weitere Fährte. Im Jahr 1989 erschien eine Studie über Frauen mit Brustkrebs, die neben der routinemäßigen Krebsbehandlung an unterstützender Gruppentherapie und Selbsthypnose teilnahmen. Diese Frauen überlebten länger als solche, die nur die übliche Krebstherapie erhielten. Mehrere Studien haben diesen und ähnliche Effekte der Psyche auf die Überlebenszeit bestätigt. Als Ursache vermuteten Rolls, Hakim und ihr Team auch hier die VTA-Region, die sie in der Herzinfarktstudie aktiviert hatten. Und tatsächlich konnten sie in einem Experiment an Mäusen mit Lungen- und Hautkrebs nachweisen, dass die Aktivierung von VTA-Neuronen die Tumoren deutlich schrumpfen ließ. Außerdem zeigte sich: Die Aktivierung hemmte Zellen im Knochenmark der Tiere, die ihrerseits die Immunaktivität unterdrücken. Die VTA-Zellen versetzten das Immunsystem also wieder in die Lage, den Krebs zu bekämpfen. »Klinikärzte wissen schon lange, dass positives Denken den Krankheitsverlauf beeinflusst«, sagt Fahed Hakim. Die Belege dafür seien aber bisher größtenteils anekdotisch oder korrelativ gewesen. Nun habe man aber einen Mechanismus entdeckt habe, bei dem genau dieser Effekt auftritt; das mache es viel realer, erklärt Fahed Hakim.
Dass auch negative psychische Zustände die Immunreaktion des Körpers beeinflussen, berichtete Filip Swirski, ein Immunologe, der an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York arbeitet, im Mai 2022. In einer Studie an Mäusen wiesen er und sein Team nach, dass spezifische Schaltkreise im Gehirn Immunzellen im Körper mobilisieren, wenn die Tiere unter akutem Stress stehen. Dabei schien das Mäusegehirn über zwei Pfade mit dem Immunsystem zu kommunizieren: Der erste hat seinen Ursprung im motorischen Kortex (der Hirnrinde) und lenkt Immunzellen an den Ort der Verletzung oder Infektion. Der zweite beginnt im Hypothalamus, einer entscheidenden Reaktionsstelle im Fall von Stresssituationen, und reduziert die Zahl der im Blut zirkulierenden Immunzellen. Aktuell untersucht die Gruppe die Rolle dieser Stress-Schaltkreise bei chronischen Entzündungskrankheiten. Dass der Hypothalamus in Mäusen eine Immunreaktion auslösen kann, bestätigt auch eine Studie des Neurowissenschaftlers Jeremy Borniger vom Cold Spring Harbor Laboratory in New York. Aktuell untersuchen er und seine Kollegen, wie die Aktivierung der Hypothalamus-Neurone das Wachstum von Tumoren beeinflussen könnte.
Unklar ist indes, ob sich solche Beobachtungen auch am Menschen bestätigen werden. Filip Swirskis Team plant, die Immunreaktion auf Stress zu untersuchen, den Probanden in einer virtuellen Realität erleben sollen. Tamar Koren und Asya Rolls wiederum arbeiten mit Talma Hendler, einer Neurowissenschaftlerin und Psychiaterin an der Tel Aviv University in Israel, an einer Studie zusammen. Diese soll klären, ob die Immunreaktion sich verbessert, wenn man vor der Gabe eines Impfstoffs das Belohnungssystem im Gehirn stimuliert. Statt das Gehirn direkt anzuregen, verwenden sie eine Methode namens Neurofeedback, bei der die Teilnehmer lernen, ihre eigene Hirnaktivität zu steuern. Gemessen wird die Aktivität dabei unter anderem mit bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie.
Von der Laborbank ans Krankenbett
Über die vergangenen Jahre hat Asya Rolls viel mit ihrer guten Freundin Tehila Ben-Moshe gesprochen, einer Geschäftsführerin von Biond Biologics, einem israelischen biopharmazeutischen Unternehmen, das sich auf den Einsatz von Immunzellen zur Krebsbekämpfung spezialisiert. Während eines Gesprächs im vergangenen Jahr erkannte diese, dass Asya Rolls' Experimente zur Hirnstimulation eine Reihe von Immunzellen betreffen, auf die auch ihr Unternehmen abzielt. »Als ich die Daten sah, staunte ich nicht schlecht«, sagt Tahila Ben-Moshe. »Mir kam sofort die Frage: Wie kann ich das, was Asya mit Mäusen macht, auf Patienten übertragen?«
Seither arbeiten die Freundinnen gemeinsam an der Gründung eines Unternehmens, das eben dieses Ziel verfolgen soll. Sie hoffen, mit Hilfe von Hirnstimulation, wie der transkraniellen Magnetstimulation, das Immunsystem von Menschen mit Krebs, Autoimmunerkrankungen oder anderen Krankheiten positiv zu beeinflussen. In einem ersten Schritt hat das Team Kontakt zu Firmen aufgenommen, die solche Technologien entwickeln. Noch bevor die klinischen Studien beginnen, wollen Tahila Ben-Moshe und Asya Rolls Blutproben aus abgeschlossenen Studien untersuchen, die mit diesen Techniken durchgeführt wurden. So ließen sich erste Hinweise darauf finden, wie die Stimulation mit diesen Verfahren das Immunsystem beeinflussen kann.
Der klinischen Anwendung näher sind heute Therapien, die auf den Vagusnerv abzielen. Ein von Kevin Tracey mitbegründetes Unternehmen, SetPoint Medical in Valencia, testet derzeit pillengroße Vagusnerv-Stimulatoren, die Probanden mit Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn, multipler Sklerose oder rheumatoider Arthritis in den Vagusnerv in den Hals implantiert werden. Die Studie zur rheumatoiden Arthritis ist am weitesten fortgeschritten: In einer kleinen Gruppe von Probanden vermochte das Implantat die Symptome der Erkrankung abzumildern. Die Technologie wird in diesen Tagen in einer randomisierten, placebokontrollierten Studie mit 250 Patienten in mehreren Kliniken in den USA untersucht. Die Kontrollgruppe bekommt dabei ebenfalls ein Implantat, das aber nicht aktiviert wird.
Asya Rolls hofft, dass ihre und andere Arbeiten Ärzten am Ende erlauben, die Mechanismen die Körper und Geist verbinden, zu verstehen und zu steuern. Der Bedarf an solch neuartigen Therapien lässt sich jedenfalls nicht leugnen: Als Rolls die Psychologen des Krankenhauses, in dem ihr Labor untergebracht ist, zu einer Besprechung einlud, war der Raum brechend voll. Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen, von der Dermatologie bis zur Onkologie, wollten ihre Geschichten erzählen. Ein Teilnehmer meinte, Ärzte würden Menschen mit scheinbar psychosomatischen Problemen zu oft an Psychologen überweisen, mit der Begründung, körperlich sei ja alles in Ordnung. Das könne für eine Person, die Hilfe sucht, sehr belastend sein. Den Menschen sagen zu können, dass eine Verbindung zwischen Gehirn und Immunsystem existiert, die für ihre Symptome verantwortlich ist, könnte dagegen einen riesigen Unterschied machen.
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