Impfung gegen Krebs: »Das sind riesige Schritte vorwärts«
Das amerikanische Biotech-Unternehmen Moderna entwickelt einen Krebsimpfstoff mit der Bezeichnung mRNA-4157. Er funktioniert ähnlich wie die mRNA-Impfstoffe, die in den zurückliegenden Jahren massenhaft gegen Covid-19 eingesetzt wurden. Doch im Gegensatz zu Letzteren schleust er die Baupläne für so genannte Tumorantigene in den Körper ein – also für Proteine, die auf den Oberflächen von Krebszellen vorkommen. Der Organismus entwickelt dann eine Abwehrreaktion gegen diese Proteine und kann anschließend den Tumor zielgerichteter attackieren.
In einer klinischen Studie hat sich mRNA-4157 als hochwirksam erwiesen. Zwei Drittel der behandelten rund 160 Hautkrebspatientinnen und -patienten erhielten alle drei Wochen eine Dosis des neuen mRNA-Impfstoffs, zusammen mit einem weiteren Immuntherapeutikum. Die übrigen bekamen nur das Immuntherapeutikum. Über die dreijährige Beobachtungszeit hinweg senkte der Impfstoff das Risiko, dass die Krankheit nach einer Behandlung zurückkehrt oder tödlich endet, auf etwa die Hälfte. Das Risiko, dass der Tumor in andere Organe streut, verminderte sich um mehr als 60 Prozent. Die Studie war allerdings noch nicht groß genug, um auf ihrer Basis den Impfstoff zuzulassen; eine umfangreichere Studie läuft bereits. Im Gespräch mit »Spektrum« erläutert der Mediziner Niels Halama, wie die bisherigen Untersuchungsdaten einzuordnen sind und ob mit einer baldigen Zulassung des Krebsimpfstoffs zu rechnen ist. Halama leitet die Forschungsgruppe Tumorimmunologie und Tumorimmuntherapie am Helmholtz-Institut für Translationale Onkologie Mainz, das ein Teil des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) ist.
Herr Halama, derzeit macht ein neuer Krebsimpfstoff von sich reden. Es ist ein mRNA-Impfstoff mit der Bezeichnung mRNA-4157, der sich in klinischen Untersuchungen als wirkungsvoll erwiesen hat. Von »beeindruckenden Ergebnissen« ist die Rede, gar von einem »Quantensprung«. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, man sieht, dass sich die Daten sehr gut einreihen in Ergebnisse, die wir aus anderen Studien mit mRNA-Krebsimpfstoffen kennen. Patientinnen und Patienten, die nach einer Tumor-OP nur noch wenige Krebszellen im Körper haben, profitieren oft sehr stark von einer solchen Impfung. Das ist von großem klinischem Nutzen, weil es viele Erkrankte gibt, bei denen sich nicht alle Tumorzellen chirurgisch entfernen lassen. Ich gehe davon aus, dass der Impfstoff in absehbarer Zeit eine Zulassung bekommt und dann auch breit verfügbar sein wird.
Mediziner setzen mRNA-Impfstoffe gegen Krebs meist im Anschluss an eine chirurgische Operation ein. Warum?
Diese Impfstoffe sollen eine starke Immunreaktion gegen bereits existierende Tumoren entfesseln. Sie sollen also therapeutisch wirken – und nicht, wie etwa die Grippeschutzimpfung, vorbeugend. Anfangs hatten Fachleute die Vorstellung, dass therapeutische Krebsimpfungen in allen Krankheitsphasen helfen würden. Dann hat man aber festgestellt, dass Patienten, bei denen der Tumor schon in andere Organe gestreut und viele Absiedelungen gebildet hat, davon nicht so profitieren wie erhofft. Wenn man aber den Großteil der entarteten Zellen aus dem Körper entfernt, dann entwickeln therapeutische Krebsimpfungen eine deutlich höhere Schlagkraft. Deshalb lautet die Taktik jetzt, vor Gabe des Impfstoffs erst einmal die Tumorlast im Organismus möglichst stark zu reduzieren. Etwa, indem man den Hauptteil der Tumormasse chirurgisch entfernt, so dass nur noch wenige Krebszellen im Körper übrig sind.
Das Immunsystem hat dann nicht mehr so viel zu tun, die verbliebenen Herde auszuschalten?
Es geht nicht so sehr darum, dass die Körperabwehr dann nur noch wenig Arbeit hat, sondern vor allem um die Zugänglichkeit des Tumors. Wenn Sie sich vorstellen, dass beispielsweise eine Lebermetastase mitunter zehn Zentimeter durchmisst, dann ist das ein großer Gewebeklumpen, in den die Abwehrzellen kaum hineinkommen. Liegen hingegen einzelne Krebszellen oder kleine Cluster davon irgendwo im Körpergewebe, dann sind die für Immunzellen viel leichter zugänglich.
Das heißt, therapeutische Krebsimpfungen wirken weniger gut gegen solide Tumoren – also gegen Wucherungen mit festem Ort im Körper, die oft aus kompaktem und relativ dichtem Gewebe bestehen?
Zumindest nicht so gut, wie wir das anfangs gehofft hatten. Und das liegt unter anderem an den Abmessungen solcher Wucherungen, aber auch an Resistenzmechanismen. Solide Tumoren reagieren oft mit Gegenmaßnahmen, wenn das Immunsystem aktiv wird. Da sie sich aus vielen Zellen zusammensetzen, die unterschiedlich stark entartet sind, ist es recht wahrscheinlich, dass sich darunter ein paar resistente Exemplare finden. Die vermehren sich dann und nutzen Abwehrmechanismen. Das ermöglicht es dem Tumor, systematisch Schutzmechanismen zu entwickeln, so dass Immunzellen beispielsweise nicht an ihn herankommen oder aber in seiner Nähe deaktiviert werden. Deshalb ist es im Augenblick die bessere Taktik, so viel Tumormaterial wie möglich chirurgisch zu entfernen und dann per Impfung dafür zu sorgen, dass der Rest vom Immunsystem erkannt und vernichtet wird. Dieser Ansatz hat in klinischen Studien funktioniert – mitunter sogar gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs, der äußerst schwer zu behandeln ist.
Der neue mRNA-Impfstoff wurde in der klinischen Studie gegen schwarzen Hautkrebs eingesetzt. Warum?
Schwarzer Hautkrebs war die erste Erkrankung, bei der gezeigt werden konnte, dass sich die Immunabwehr effektiv gegen den Tumor einsetzen lässt. Deshalb war hier die Erwartung am höchsten, mit Krebsimpfstoffen eine klinisch messbare Wirkung zu erzielen. Bei schwarzem Hautkrebs ist das Immunsystem an sich schon sehr aktiv, deshalb stehen die Chancen gut, dass man es erfolgreich in die Therapie einbinden kann. Auch gegen Lungentumoren haben sich Immuntherapien als schlagkräftig erwiesen, während sie gegen andere Krebsarten wie das Pankreaskarzinom bislang nur eingeschränkt wirken.
»Indem man den Krebsimpfstoff zusammen mit Pembrolizumab verabreicht, greift man den Tumor von zwei Seiten an«
In der klinischen Studie ist der Krebsimpfstoff nicht allein verabreicht worden, sondern zusammen mit einer weiteren Substanz namens Pembrolizumab. Was ist das, und warum hat man die beiden gleichzeitig gegeben?
Der Tumor schützt sich vor der Körperabwehr mit bestimmten Rezeptormolekülen, die wir als Checkpoints bezeichnen. Sie schalten das Immunsystem lokal ab. In einem gesunden Organismus erfüllen Checkpoints die Funktion, überschießende Immunreaktionen zu unterbinden. Sie sorgen beispielsweise während der Schwangerschaft dafür, dass die Körperabwehr der Mutter sich nicht gegen das werdende Kind richtet. Tumoren missbrauchen diesen Mechanismus aber, um sich vor Immunattacken zu schützen. Die erste erfolgreiche Krebsimmuntherapie, die in der Breite zum Einsatz kam, bestand darin, Checkpoint-Inhibitoren zu verabreichen. Solche Substanzen hindern die Tumoren daran, Checkpoints zu missbrauchen. Einer dieser Stoffe ist Pembrolizumab, ein Stoff, der gewissermaßen eine Bremse der Körperabwehr löst. Indem man ihn zusammen mit dem Krebsimpfstoff verabreicht, greift man den Tumor von zwei Seiten an. Pembrolizumab verhindert eine Hemmung des Immunsystems, während der Krebsimpfstoff den Abwehrzellen zeigt, was genau attackiert werden muss.
Es heißt, der neue mRNA-Krebsimpfstoff könnte recht bald für die Behandlung zugelassen werden. Wann könnte das sein?
Das ist nicht leicht abzuschätzen. Im Augenblick laufen viele Studien parallel, in denen dieses Vakzin getestet wird, und die Ergebnisse fallen alle ähnlich viel versprechend aus. Deshalb vermute ich, dass es nicht mehr sehr lange bis zur Zulassung dauern wird. Wahrscheinlich wird sie in den nächsten ein oder zwei Jahren, sicher aber noch vor 2030 erteilt.
Laut den vorliegenden Daten verringert der neue Impfstoff das Risiko, dass der Krebs nach der Behandlung zurückkehrt, um 50 Prozent. Das Risiko von Fernmetastasen sinkt sogar um mehr als 60 Prozent. Sind das gute Werte?
Auf jeden Fall, das sind riesige Schritte vorwärts. Dass man jetzt in Bereiche vorstößt, wo man das Rückfallrisiko halbieren kann für die Patientinnen und Patienten, ist sehr bedeutsam. Natürlich hat der Krebsimpfstoff auch Nebenwirkungen, aber die sind generell gut tolerierbar. Insbesondere wenn man sie mit den Nebenwirkungen herkömmlicher Chemotherapien vergleicht, die ja nach wie vor in der Krebsmedizin sehr häufig eingesetzt werden.
Was kostet eine Behandlung mit dem neuen mRNA-Krebsimpfstoff?
Dazu gibt es bislang keine Zahlen. Es hat noch niemand diese Therapiemethode für eine große Patientengruppe ausgerollt und Preisverhandlungen mit den Krankenkassen geführt. Die Kosten werden stark davon abhängen, wie viele Patienten die Behandlung bekommen – also unter anderem davon, wofür genau die Zulassung erteilt wird. Bei Nischenmedikamenten haben wir schon lange die Situation, dass die Kosten eine gigantische Bandbreite abdecken; sie können bei einigen tausend Euro liegen oder auch einer Viertelmillion. Einfach deshalb, weil die behandelten Patientengruppen klein sind, Medikamentenhersteller aber viel in die Entwicklung investieren müssen. Krebsimpfstoffe könnten für einen breiten Anwendungsbereich in Frage kommen, und ihre Herstellungskosten sollten nicht allzu hoch ausfallen, da ihre Produktion technisch nicht so aufwändig ist wie etwa die von personalisierten zellulären Immuntherapien. Insofern kann man vorsichtig vermuten, dass die Preise deutlich unter denen liegen werden, die beispielsweise für eine aktuelle CAR-T-Zelltherapie zu bezahlen sind.
Ließe sich genug von dem Vakzin herstellen, um Krebskranke auf der ganzen Welt damit zu behandeln?
Derzeit sind die Produktionskapazitäten dafür nicht ausreichend. Falls der Impfstoff die Zulassung relativ bald bekäme, wäre deshalb zu erwarten, dass wir erst einmal ein Nadelöhr in der Versorgung hätten. Wenn es länger dauert mit der Zulassung, bleibt mehr Zeit, damit sich die Herstellungskapazitäten erweitern und dann mit der erwarteten Nachfrage Schritt halten können.
»Die Krebsimpfstoffe werden personalisiert hergestellt, also auf jede einzelne Patientin und jeden einzelnen Patienten individuell zugeschnitten«
mRNA-Krebsimpfstoffe funktionieren im Grunde ähnlich wie mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19. Läuft auch ihre Produktion ähnlich?
Ja, aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Die Krebsimpfstoffe werden personalisiert hergestellt, also auf jede einzelne Patientin und jeden einzelnen Patienten individuell zugeschnitten. Man versucht dabei Merkmale zu finden, die nur dieser spezielle Tumor hat und die ihn von den gesunden Zellen der jeweiligen Person unterscheiden. Insbesondere fahndet man hier nach veränderten Oberflächenproteinen der Krebszellen, so genannten Tumorantigenen. Dank moderner Methoden der Hochdurchsatzsequenzierung geht das mittlerweile recht schnell, innerhalb einiger Wochen bis weniger Monate. Von den gefundenen Tumorantigenen wird der jeweils zugehörige mRNA-Bauplan ermittelt; spezielle Einrichtungen produzieren die entsprechenden mRNA-Moleküle dann, verpacken sie in kleinen Partikeln aus Lipidmolekülen, stellen sie als »Cocktails« zusammen und liefern diese an die behandelnden Mediziner aus.
Zielt ein mRNA-Krebsimpfstoff immer nur auf ein Tumorantigen oder auf mehrere gleichzeitig?
Standardmäßig auf mehrere gleichzeitig. Die große Frage dabei lautet: Was sind die besten Ziele? Es ist immer noch umstritten, welches die optimale Methode ist, um die anzugreifenden Tumorantigene auszuwählen. Das ist ein sehr komplexes Problem, weil das Immunsystem aus vielen Elementen besteht, die auf komplizierte Weise ineinandergreifen. Die Tumorantigene müssen sich genügend stark von Oberflächenmolekülen gesunder Zellen unterscheiden, sie müssen ausreichend gut als »fremd« erkennbar sein, sie müssen für die Körperabwehr zugänglich sein, die Abwehrzellen müssen mit einer gewissen Stärke daran haften und so weiter. Wie kann man diesen Mechanismus optimal aktivieren? Hinzu kommt, dass man die mRNA auf unterschiedliche Weise in Lipidmolekülen verpacken kann, was sich darauf auswirkt, von welchen Körperzellen und Geweben sie aufgenommen wird. Das wiederum hat großen Einfluss auf die klinische Wirksamkeit. Zudem gibt es Hinweise, dass der Ort, wohin man den Impfstoff injiziert – ob etwa in den Arm oder in die Bauchdecke – eine bedeutende Rolle für die Wirksamkeit spielt. Da sind also sehr viele Dinge zu beachten.
Lassen sich mRNA-Krebsimpfstoffe gegen alle Tumorarten einsetzen?
Es gibt einige Szenarien, bei denen man sich vorstellen kann, mit einem Impfansatz nicht vorwärtszukommen. Zum einen, wenn man keinen Zugang zum Tumorgewebe hat und deshalb keine Tumorantigene ermitteln kann, die sich als Angriffsziel eignen. Zum anderen, wenn sich das Immunsystem der Patientin oder des Patienten nicht aktivieren lässt, beispielsweise auf Grund einer Immunerkrankung. Das kommt aber sehr selten vor. Viel häufiger erleben wir, dass man mit herkömmlichen Chemotherapien oder auch mit anderen Immuntherapien an Grenzen kommt, weil die Immunaktivierung zu heftig ist oder die Nebenwirkungen auf das Knochenmark so stark sind, dass sie den Behandlungserfolg durchkreuzen. Das ist bei der Impfung nicht so ein großes Thema.
Nach dem enormen Erfolg der Covid-mRNA-Impfstoffe scheinen Pharmafirmen jetzt massiv auf RNA-Krebsvakzine umzuschwenken. Stimmt dieser Eindruck?
Es ist eher andersherum: Die Covid-mRNA-Impfstoffe sind aus krebsmedizinischen Entwicklungsarbeiten hervorgegangen. Unternehmen wie Biontech, Moderna oder CureVac arbeiten seit vielen Jahren an personalisierten mRNA-Krebsimpfstoffen; sie haben das schon lange vor der Covid-19-Pandemie getan. Dadurch konnten sie die mRNA-Technologie dann relativ rasch auf Covid-Impfstoffe anwenden. Es zeigte sich, dass der mRNA-Ansatz auch jenseits der Krebsmedizin funktioniert, was das Interesse daran stark gefördert hat. Aber die Kernunternehmen, die sich jetzt aktiv auf dem Feld der mRNA-Impfstoffe einbringen, sind nur wenige und im Wesentlichen die, die schon vorher daran gearbeitet haben.
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