Schlafprobleme bei Babys: In den Schlaf weinen und die Spätfolgen
Ein Buch spaltet die Eltern in Deutschland. »Jedes Kind kann schlafen lernen« verspricht mittels eines verhaltensbiologischen Programms ruhigere Nächte für Babys und Eltern. Seit seinem Erscheinen im Jahr 1998 ist das Buch über eine Million Mal über den Ladentisch gegangen. Wie dieser Bestseller bis heute polarisiert, kann man bei Amazon nachlesen: »Das Beste, was mir passieren konnte«, schreiben die einen in ihrer Buchrezension, als »grausam, gefährlich, überholt« betiteln es andere. 2013 gab es sogar eine Online-Petition gegen das Buch: Die in seinem Sinn behandelten Babys könnten im späteren Leben unter Schlaf- oder Bindungsstörungen, gemindertem Selbstbewusstsein bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen leiden, meinte die aufgebrachte Mutter, die die Petition gestartet hatte.
Kernpunkt des Programms ist es, Babys ab einem Alter von sechs Monaten beizubringen, allein ein- und damit durchzuschlafen. Das ginge, weil sie ab diesem Zeitpunkt einen gewissen Tag-Nacht-Rhythmus verinnerlicht hätten und darum nachts auch keine Nahrung mehr brauchten. Flasche, Schnuller, Streicheln, Singen oder Herumtragen sind tabu. Das Kind wird also abends – nach einem Ritual – wach ins Bett gelegt; Licht aus, die Eltern gehen aus dem Zimmer. Protestiert das Kind weinend, dürfen die Eltern zwar immer wieder nach einem Minutenschema ins Kinderzimmer gehen und ihr Kleines beruhigen, um es aber kurz darauf wieder zu verlassen.
Bis das Kind auf diese Weise von allein in den Schlaf gefunden hat, können Stunden vergehen. Wacht das Kind nachts wieder auf, beginnt der Terz von vorn. Geistiger Vater der Methode – dem »kontrollierten Weinen« – ist Richard Ferber, Wissenschaftler an der Bostoner Harvard University. Entwickelt im universitätseigenen Schlaflabor, machte er sie 1985 in seinem Buch »Solve Your Child's Sleep Problems« auch für den Hausgebrauch zugänglich. Damals assistierte der angehende Kinderarzt Hartmut Morgenroth, der später mit der Psychologin Annette Kast-Zahn das Buch »Jedes Kind kann schlafen lernen« verfasste.
Dass die Ferber-Methode keine seelischen Schäden hinterlasse, besagt eine australische Studie unter Federführung von Michael Gradisar, Psychologe an der Flinders University in Adelaide. Der Wissenschaftler teilte 43 Babys mit Schlafstörungen in drei Gruppen auf. In der einen Gruppe erhielten die Kinder eine dreimonatige Schlafkur à la Ferber, in der zweiten eine in Down Under beliebte Therapie, bei der die Schlafzeiten immer weiter in die Nacht verschoben werden (bedtime fading). Die Eltern der dritten Gruppe erhielten lediglich Informationen über den Babyschlaf.
Im Behandlungszeitraum wurden verschiedene Messungen zu Schlafverhalten und emotionaler Verfassung durchgeführt. So sollten die Eltern etwa ein Tagebuch über die Schlaf- und Wachzeiten des Kindes führen. Zudem wurden diese Phasen anhand der so genannten Aktimetrie aufgezeichnet; Stimmung und Stresslevel der Mütter wurden über einen Fragebogen analysiert; obendrein hat Gradisar die Cortisolwerte im Speichel der Kinder erfasst. Letztlich wurde neun Monate nach Beendigung der Kur im Fremde-Situations-Test untersucht, wie es um das Bindungsverhalten des Kindes bestellt ist.
Das Ergebnis: Das Ferber-Training verbesserte das Schlafverhalten der Babys. Heißt: Sie schliefen nach dem Verhaltenstraining schneller allein ein und wachten nachts seltener auf. Es wurden keine erhöhten Cortisollevel bei den Kindern vorgefunden und auch sonst keine Auffälligkeiten in ihrer emotionalen Entwicklung. Die Mütter der Ferber-Kinder waren jedoch nicht entspannter als die Mütter, die lediglich Informationen erhalten hatten. Am besten stand es um die Stimmung der Mütter in der Bedtime-Fading-Gruppe. Keine Unterschiede gab es hinsichtlich der Schlafdauer. Bislang gab es keine Studie, die Vor- oder Nachteile für die kindliche Psyche belegen konnte.
Solide Daten oder ein Desaster?
Ist das nun also ein Freibrief für die kursierenden Schlafprogramme? Nein, meint etwa Herbert Renz-Polster, Kinderarzt und Autor des Buchs »Schlaf gut, Baby«, der die Studie methodisch für ein Desaster hält. Erstens sei die Studie zu klein, um statistisch valide Aussagen zu treffen. Zweitens hätte Gradisar ignoriert, dass Tagebucheinträge und Aktivitätsmessungen nicht zusammenpassten. Drittens habe sich auch bei den Kindern in der Kontrollgruppe die nächtliche Wachzeit reduziert – diesen Vorteil könne man also nicht dem Schlafprogramm zurechnen.
Da in der Studie ausschließlich Kinder mit Schlafproblemen untersucht wurden, könne man auch keine Rückschlüsse aus den Cortisolspiegeln ziehen: Diese Kinder haben ja eventuell schon vorher bestehende, chronische Stresserfahrungen durch Schlaftrainings. »Das wurde aber nicht abgefragt«, so Renz-Polster. Auch wird diskutiert, wie aussagekräftig Cortisolmessungen überhaupt seien, schließlich waren die Cortisolwerte nach Schlaftrainings mal erhöht, mal nicht. Sarah Blunden, Wissenschaftlerin an der Central Queensland University meint: »Es gibt einfach zu wenige Studien, die die Wirkung der Schlafprogramme auf die kindliche Psyche untersuchen.« Auch Gradisar selbst mahnt mehr Studien an, um die Sicherheit der so genannten Extinktionsprogramme weiter zu erforschen.
Renz-Polster hält die Schlafprogramme dagegen für schädlich: »Wäre ein Kind in der langen Menschheitsgeschichte allein und ohne Protest unter einem Baum eingeschlafen, hätte es den nächsten Morgen nicht erlebt. Die direkte Nähe der Bezugspersonen war absolut lebenserhaltend«, so der Kinderarzt. »Durch kontrolliertes Weinen lernt das Kind aber, dass es sich in der Not nicht auf den Schutz der Eltern verlassen kann.« Auch Michael Abou-Dakn, Gynäkologe am St. Joseph Krankenhaus Berlin, hält die Nähe der Eltern gerade in der Einschlafsituation für einen wesentlichen Bestandteil der späteren Bindungssicherheit.
Unbestritten ist hingegen, dass die Ferber-Methode nach wenigen Tagen wirkt. Das bestätigten mehrere Erhebungen, darunter eine aus dem Jahr 2006 der American Academy of Sleep Medicine, bei der 52 Studien und über 2500 Kinder untersucht wurden. Das Ergebnis: In 94 Prozent der Fälle war Verhaltenstherapie bei Einschlaf- und Durchschlafproblemen hilfreich, auch langfristig bis zu sechs Monaten. »Allerdings gibt es andere Möglichkeiten, die nicht auf Extinktion basieren und erfolgreich sind«, schreibt Blunden. Auch Renz-Polster informiert in seinem Buch darüber, wie man Schlafprobleme ohne das Ferbern in den Griff bekommen könne, etwa durch Cosleeping im Anhängebett. Selbst Ferber hat in einer Neuauflage des Buchs im Jahr 2006 betont, dass Eltern seine Methode nur anwenden sollten, wenn sie sich damit wohl fühlten. In seiner ersten Ausgabe hielt er sein Schlafprogramm für das einzig Richtige.
Dass Eltern Hilfe brauchen, wenn sie an ihre Grenzen kommen, steht hingegen außer Frage. Denn wenn sie über Wochen ein Schlafdefizit haben, kommt es vermehrt zu Stress, Angst, Depressionen – nicht umsonst wird Schlafentzug als Foltermethode angewandt. Und auch die Gefahr steigt, dass das Kind misshandelt wird, dass anstatt einer sicheren Bindung eine ambivalente entsteht.
Hochgradig gestresste Eltern, vor allem Mütter, profitieren deshalb entgegen der Gradisar-Studie sehr wahrscheinlich von der Ferber-Methode: Die Schlafkur lindert laut einer australischen Studie von Anna Price, Kinderärztin am Royal Children’s Hospital in Victoria, aus dem Jahr 2012 Depressionen der Mutter – zumindest kurz- und mittelfristig. Auch Wohlbefinden und Stimmung in der Familie steigen nach den Extinktionsprogrammen. Price sieht darum den Einsatz der Schlafprogramme als gerechtfertigt an.
Vorsichtiger ist man da bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). »Die Ferber-Methode ist nicht auf jedes Kind und jede Situation anwendbar. Bei manchen Kindern bewirkt man genau das Gegenteil damit«, sagt Barbara Schneider, Schlafmedizinerin am Kinderkrankenhaus Sankt Marien in Landshut. Sie rät Eltern, die mit ihrem Kind in einer schwierigen »Nichtschlafsituation« stecken, sich professionelle Unterstützung etwa in Schlafambulanzen oder Erziehungsberatungsstellen zu suchen.
Auch Ferber hat seine Methode nur als Notfallmaßnahme und nur für Kinder ab dem ersten Geburtstag angesehen, nicht als Erziehungsmethode für Eltern, die Angst haben, ihre Kinder zu verwöhnen und darum schon im vierten oder sechsten Monat zum Durchschlafen bringen wollen. Doch offenbar gibt es viele Eltern, die mit dieser Motivation die Schlafkur beginnen. Renz-Polster berichtet etwa aus seiner Beratungstätigkeit: »Beim Thema Schlaf schwingt immer die Frage mit: Muss ich meinem Baby nicht dieses oder jenes beibringen oder abverlangen, damit es sich richtig entwickelt? Das ist ein falsches Bild, das wir von unseren Kindern haben.« Vielmehr führe das Reagieren auf die kindlichen Bedürfnisse zu Selbstständigkeit.
Grund für die falschen Vorstellungen sind auch die in vielen Büchern zu lesenden Normen, in welchem Alter ein Kind wie viel schlafe. Unrealistische Erwartungen werden außerdem von anderen Eltern geschürt, die mit den guten Schlafmanieren ihrer Kinder prahlen. Dabei sind Kinder ebenso wie beim Laufen, Essen oder Sauberwerden auch in ihrer Schlafentwicklung extrem unterschiedlich. »Viele Schlafprobleme wachsen sich daher wieder aus«, sagt Schneider. Auch bei den unbehandelten Kindern der Gradisar-Studie hatte sich die Schlafsituation zumindest in Teilen nach einem Jahr gebessert. Doch diese Tatsache hilft Eltern mit echtem Leidensdruck natürlich wenig.
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