Evolutionsgeschichte: In der Wurmgrube
Ein obskures Grüppchen winziger Würmer spielt eine Hauptrolle in der Stammbaum-Saga des Lebens. Und dann sind die "Acoelomorpha", um die es geht, auch noch überraschend eng mit uns verwandt! Oder vielleicht auch nicht.
Schon Generationen von Meeresbiologen stachen im Morgengrauen in See und wühlten nach ihnen im Schlamm des Meeresgrunds: pfefferkorngroßen Würmchen aus der Gruppe der Acoelomorpha. Unter dem Mikroskop sehen die recht unspektakulär aus – eher nach Farbklecks. Und doch sind die Tierchen Überbleibsel einer entscheidenden Phase in der Entwicklung des irdischen Lebens, dem vor rund 560 Millionen Jahren eingeleiteten Übergang von der simplen Korallentierchenverwandschaft hin zur vielgestaltigen Rest-Menagerie unser heutigen Welt.
Rund 370 Spezies gehören zu den Acoelomorpha. Ihre namensgebende Eigenheit ist das Fehlen eines "Coeloms" – einer flüssigkeitsgefüllten Körperhöhle, in der bei komplexeren Lebensformen die inneren Organe eingeschlossen sind. Zudem haben die Acoelomorpha immer nur eine Körperöffnung, durch die Nahrung hinein und Auscheidungsprodukte heraus gelangen. Hierin ähneln sie den Nesseltieren, einer sehr alten Tiergruppe, zu denen etwa die Quallen und Blumentiere zählen. Anders als die noch einfacher gestrickten Nesseltiere mit ihren nur zwei Körpergewebeschichten – einer inneren und einer äußeren – haben die Acoelomorpha eine dritte, zwischen den beiden liegende Schicht entwickelt. Und eben diese Schicht findet sich auch bei allen modernen komplexen Tieren von Skorpionen über die Schnecke bis zum Seelöwen. Die Acoelomorpha könnten also, auf den ersten Blick, gut eine Übergangsform zwischen beiden sein.
Diese Hypothese hat in den letzten Jahren immer mehr Befürworter in der Wissenschaftsgemeinde gefunden. Jetzt muss sie allerdings wohl noch einmal überdacht werden, weil ein internationales Forscherteam mit neuen Methoden ganz neue Daten und Einsichten gewonnen hat. Sie könnten die Acoelomorpha von ihrer Stellung nahe der Wurzel des tierischen Evolutionsstammbaums weit nach oben spülen; womöglich gehören sie sogar in die nähere Verwandtschaft der Wirbeltiere [1].
Einige Evolutionsbiologen lehnen ein solches Rearrangement allerdings ab – und fürchten, ihr wertvolles Paradeexemplar eines Bindeglieds einzubüßen. Die gewonnenen Erkenntnisse seien nicht aussagekräftig genug, um den gesamten Stammbaum umzuschreiben; zudem würde die neue Studie wesentliche Daten gar nicht nennen.
Der Tonfall, in dem solche Kritik geäußert wird, stellt klar, wie wichtig die Würmchen für die Evolutionsbiologen geworden sind: "Ich will es einmal diplomatisch ausdrücken: Unsere Veröffentlichung ist die wissenschaftspolitisch skandalträchtigste, die ich je geschrieben habe", meint denn auch der Zoologe Max Telford vom University College London, Seniorautor des Papers.
Dafür spricht allein schon, dass die Würmer zur Einordnung nötige Merkmale gar nicht besitzen, etwa einen Mund und After, ein zentrales Nervensystem oder Filterorgane um Exkrete auszusondern. Zwar hatte sich die Stellung der Acoelomorpha im System dann in den zurückliegenden Jahrzehnten noch ein wenig verschoben, schließlich aber landeten sie 1999 nach einer DNA-Analyse wieder an ihrem alten Platz [2]. Und eine vergleichende Genalyse von 94 Organismen bestätigte zuletzt 2009 noch einmal die basale Position der Acoelomorpha in der Gruppe der Bilateria. Diese Studie – durchgeführt vom Entwicklungsbiologen Andreas Hejnol vom Sars International Centre for Marine Molecular Biology im norwegischen Bergen – ordnete die Acoelomorpha und ihre nähere Verwandtschaft zwischen den Nesseltieren und den komplizierter gebauten Vertretern der Bilateria ein [3]. "Plötzlich hatte ich das Gefühl", erinnert sich Claus Nielsen, "das endlich alles zueinander passt". Der Evolutionsbiologe verfolgt die Klettereien der Acoelomorpha im Stammbaum seit immerhin 40 Jahren.
Rütteln am Stamm: Meinung ...
Jetzt rütteln Telford und Kollegen mit ihrer Studie wieder heftig am Stamm und verschieben die Acoelomorpha zu den Neumündern, gleich neben Eichelwürmern und Stachelhäutern wie den Seeigel. Nach der neuen genetische Analyse dürften sich die Acoelomorpha – mitsamt einem weiteren marinen Wurm namens Xenoturbella – aus zuvor komplexeren Vorgängern zurück entwickelt haben, wobei ihnen viele charakteristische Merkmale der Neumundtiere abhanden kamen.
Die Forscher kommen zu ihrem Schluss mit verschiedenen methodischen Ansätzen, die sie auf drei unterschiedliche Datensätze anwanden. Begonnen haben sie dabei mit Hejnols Studie aus dem Jahr 2009, wobei sie nun Daten von 66 statt der ursprünglich 94 Spezies erneut analysierten. Der Bioinformatiker Hervé Phillipe von der University of Montreal in Quebec, Erstautor des Papers, begründet die Beschränkung damit, dass nur Arten ausgeschlossen worden seien, deren genetischer Datensatz unvollständig war oder die zu einer "schnell evolvierenden" Spezies gehören. Die Gene solcher Organismen sammeln im Vergleich zu anderen, gleichzeitig entstandenen Tieren rasch sehr viele Erbgutveränderungen an. Genau das stellt die gängigen Phylogenie-Computerprogramme vor ein seit längerem bekanntes Problem: Sie neigen dazu, solche Gruppen in eine gemeinsame Verwandtschaftsschublade zu stecken, in die sie gar nicht gehören.
Phillipe und seine Kollegen haben daher ein weiterentwickeltes mathematisches Modell zur Analyse der Sequenzevolution eingesetzt, um das Problem in den Griff zu bekommen. Ohne dieses Modell und eine sorgfältige Auswahl der analysierten Spezies könnten die Acoelomorpha tatsächlich leicht fälschlich an der Basis des Stammbaums eingestuft werden, warnt Phillipe.
Nachdem sie die Sequenzen der Kern-DNA analysiert hatten ging das Team daran, einen separaten Verwandtschaftsbaum anhand der Gene der Mitochondrien aufzustellen. Zudem untersuchten sie microRNAs, die eine Genexpression zwar regulieren, selbst aber nicht für Proteine kodieren. Nach Koautor Kevin Peterson, der als Paläontologe am Darthmouth College in Hanover, US-Bundestaat New Hampshire arbeitet, eignen sich gerade microRNAs für eine gründliche Analyse von alten evolutionären Verwandtschaftsbeziehungen. In diesem Fall führte die Typähnlichkeit der microRNA das Team zu dem Schluss, dass Acoelomorpha in die Verwandtschaft der Neumundtiere gehören.
Dabei gestehen die Autoren durchaus zu, dass keiner der Datensätze für sich genommen beweist, dass die Acoelomorpha tatsächlich Deuterostomier sind. Insgesamt aber, so Telford, "deuten alle Erkenntnisse in dieselbe Richtung. Und ich meine: Sie stimmt".
... und Gegenmeinung
Andere Forscher möchten die althergebrachte Stellung der Acoelomorpha indes noch nicht zu den Akten legen. "Die Studie stimmt mich zwar traurig, regt mich aber nicht auf", meint etwa Hejnol. "Wütend wäre ich, wenn die Untersuchung wirklich exzellent gewesen wäre. Dann hätten wir ein repräsentatives Bindeglied wichtiger Übergangsphasen des tierischen Lebens eingebüßt." Hejnol und seine Kollegen zweifeln die Verlässlichkeit des allein auf Kern-DNA-Analysen erstellten Stammbaums an – das Hauptindiz der Studie. Die Hauptäste des Baums seien statistisch nicht so überzeugend abgesichert, wie sie es sein sollten, monieren Kritiker zudem.
Damit nicht genug: Längst nicht jeder glaubt überhaupt an die Aussagekraft von microRNA-Analysen, die ja erst seit kurzem als Werkzeug bei Evolutionsstudien eingesetzt werden. Tatsächlich ist die neue Studie der bis dato ambitionierteste Versuch, die neue Methode als Werkzeug zur Verwandtschaftsanalyse einzusetzen. Nun können microRNAs im Laufe der Evolution in manchen Linien allerdings auch verschwinden – und also ist auch nicht auszuschließen, dass die "Neumundtier-microRNA" in den Acoelomorpha eigentlich ein uraltes Relikt aller Bilateria ist, welches nur bei allen Urmundtieren später verloren ging.
Ein derart grundsätzliches Rätsel möchte die Forscherwelt natürlich gerne lösen. Ganz explizit hat daher die National Science Foundation der USA um Vorschläge gebeten, wie die weit in die Vergangenheit zurückreichenden evolutionären Abzweigungen besser untersucht werden können – eine Initiative namens "Assembling the Tree of Live", erklärt der programmatische Leiter der Foundation, Tim Collins. "Innerhalb einzelner Gruppen arbeiten wir ziemlich verlässlich, die ältesten Abzweigungen im Evolutionsstammbaum zu rekonstruieren bleibt aber ein ziemlich mühsames Unterfangen", fasst er zusammen. Und: "Im Vergleich zu der Zeit, die seitdem vergangen ist, spielte sich das Ganze damals in einem sehr kurzem Zeitfenster ab – das macht die Sache nicht gerade leichter."
Im vergangenen Sommer hatten sich Hejnol und Telford noch ein Hotelzimmer geteilt – im schwedischen Kristineberg, als Dozenten eines Fortbildungskurses – und haben sich über ihre unterschiedlichen Meinungen ausgetauscht. Zur Sprache kam auch ein Ansatz, mit dem die Differenzen vielleicht ausgeräumt werden können: Man müsste das gesamte Genom eines Acoelomorphen, eines Vertreters der Xenoturbella-Gattung und die kontroverse Spezies M. stichopi sequenzieren. Die damit gewonnenen genetischen Informationen dürften dann den Streit beilegen, hoffen alle Beteiligten – und ein für allemal klären, wo die Acoelomorpha denn nun hingehören. "Ein knappes Rennen, dessen Ausgang enorme Konsequenzen haben dürfte", meint Hejnol über die Arbeit am neuen Stammbaum. "Gut, dass wir genau wissen, wie wir die Streitfrage klären können".
Rund 370 Spezies gehören zu den Acoelomorpha. Ihre namensgebende Eigenheit ist das Fehlen eines "Coeloms" – einer flüssigkeitsgefüllten Körperhöhle, in der bei komplexeren Lebensformen die inneren Organe eingeschlossen sind. Zudem haben die Acoelomorpha immer nur eine Körperöffnung, durch die Nahrung hinein und Auscheidungsprodukte heraus gelangen. Hierin ähneln sie den Nesseltieren, einer sehr alten Tiergruppe, zu denen etwa die Quallen und Blumentiere zählen. Anders als die noch einfacher gestrickten Nesseltiere mit ihren nur zwei Körpergewebeschichten – einer inneren und einer äußeren – haben die Acoelomorpha eine dritte, zwischen den beiden liegende Schicht entwickelt. Und eben diese Schicht findet sich auch bei allen modernen komplexen Tieren von Skorpionen über die Schnecke bis zum Seelöwen. Die Acoelomorpha könnten also, auf den ersten Blick, gut eine Übergangsform zwischen beiden sein.
Diese Hypothese hat in den letzten Jahren immer mehr Befürworter in der Wissenschaftsgemeinde gefunden. Jetzt muss sie allerdings wohl noch einmal überdacht werden, weil ein internationales Forscherteam mit neuen Methoden ganz neue Daten und Einsichten gewonnen hat. Sie könnten die Acoelomorpha von ihrer Stellung nahe der Wurzel des tierischen Evolutionsstammbaums weit nach oben spülen; womöglich gehören sie sogar in die nähere Verwandtschaft der Wirbeltiere [1].
Einige Evolutionsbiologen lehnen ein solches Rearrangement allerdings ab – und fürchten, ihr wertvolles Paradeexemplar eines Bindeglieds einzubüßen. Die gewonnenen Erkenntnisse seien nicht aussagekräftig genug, um den gesamten Stammbaum umzuschreiben; zudem würde die neue Studie wesentliche Daten gar nicht nennen.
Der Tonfall, in dem solche Kritik geäußert wird, stellt klar, wie wichtig die Würmchen für die Evolutionsbiologen geworden sind: "Ich will es einmal diplomatisch ausdrücken: Unsere Veröffentlichung ist die wissenschaftspolitisch skandalträchtigste, die ich je geschrieben habe", meint denn auch der Zoologe Max Telford vom University College London, Seniorautor des Papers.
Der zentrale Streit dreht sich um die Stellung der Acoelomorpha im Familienstammbaum der "Bilaterier", also jenen Organismen, die sich aus drei Gewebeschichten bilateralsymmetrisch, also entlang ihrer der Längsachse gespiegelt organisieren. Biologen teilen sie in zwei Gruppen: eine größere, die der Urmundtiere oder Protostomier, zu der Wirbellose wie die Regenwürmer, Schnecken, Tintenfische oder Insekten zählen; sowie in die kleinere Gruppe der Neumundtiere (Deuterostomier) mit Wirbeltieren von Mensch bis Fisch und einigen Wirbellosen wie den Seeigeln. Traditionell platzierten Zoologen die Acoelomorpha recht nahe an der Wurzel des tierischen Stammbaums; die Gruppe wäre demnach schon entstanden, bevor sich die Urmund- und Neumundtiere auseinanderzuentwickeln begannen.
Dafür spricht allein schon, dass die Würmer zur Einordnung nötige Merkmale gar nicht besitzen, etwa einen Mund und After, ein zentrales Nervensystem oder Filterorgane um Exkrete auszusondern. Zwar hatte sich die Stellung der Acoelomorpha im System dann in den zurückliegenden Jahrzehnten noch ein wenig verschoben, schließlich aber landeten sie 1999 nach einer DNA-Analyse wieder an ihrem alten Platz [2]. Und eine vergleichende Genalyse von 94 Organismen bestätigte zuletzt 2009 noch einmal die basale Position der Acoelomorpha in der Gruppe der Bilateria. Diese Studie – durchgeführt vom Entwicklungsbiologen Andreas Hejnol vom Sars International Centre for Marine Molecular Biology im norwegischen Bergen – ordnete die Acoelomorpha und ihre nähere Verwandtschaft zwischen den Nesseltieren und den komplizierter gebauten Vertretern der Bilateria ein [3]. "Plötzlich hatte ich das Gefühl", erinnert sich Claus Nielsen, "das endlich alles zueinander passt". Der Evolutionsbiologe verfolgt die Klettereien der Acoelomorpha im Stammbaum seit immerhin 40 Jahren.
Rütteln am Stamm: Meinung ...
Jetzt rütteln Telford und Kollegen mit ihrer Studie wieder heftig am Stamm und verschieben die Acoelomorpha zu den Neumündern, gleich neben Eichelwürmern und Stachelhäutern wie den Seeigel. Nach der neuen genetische Analyse dürften sich die Acoelomorpha – mitsamt einem weiteren marinen Wurm namens Xenoturbella – aus zuvor komplexeren Vorgängern zurück entwickelt haben, wobei ihnen viele charakteristische Merkmale der Neumundtiere abhanden kamen.
Die Forscher kommen zu ihrem Schluss mit verschiedenen methodischen Ansätzen, die sie auf drei unterschiedliche Datensätze anwanden. Begonnen haben sie dabei mit Hejnols Studie aus dem Jahr 2009, wobei sie nun Daten von 66 statt der ursprünglich 94 Spezies erneut analysierten. Der Bioinformatiker Hervé Phillipe von der University of Montreal in Quebec, Erstautor des Papers, begründet die Beschränkung damit, dass nur Arten ausgeschlossen worden seien, deren genetischer Datensatz unvollständig war oder die zu einer "schnell evolvierenden" Spezies gehören. Die Gene solcher Organismen sammeln im Vergleich zu anderen, gleichzeitig entstandenen Tieren rasch sehr viele Erbgutveränderungen an. Genau das stellt die gängigen Phylogenie-Computerprogramme vor ein seit längerem bekanntes Problem: Sie neigen dazu, solche Gruppen in eine gemeinsame Verwandtschaftsschublade zu stecken, in die sie gar nicht gehören.
Phillipe und seine Kollegen haben daher ein weiterentwickeltes mathematisches Modell zur Analyse der Sequenzevolution eingesetzt, um das Problem in den Griff zu bekommen. Ohne dieses Modell und eine sorgfältige Auswahl der analysierten Spezies könnten die Acoelomorpha tatsächlich leicht fälschlich an der Basis des Stammbaums eingestuft werden, warnt Phillipe.
Nachdem sie die Sequenzen der Kern-DNA analysiert hatten ging das Team daran, einen separaten Verwandtschaftsbaum anhand der Gene der Mitochondrien aufzustellen. Zudem untersuchten sie microRNAs, die eine Genexpression zwar regulieren, selbst aber nicht für Proteine kodieren. Nach Koautor Kevin Peterson, der als Paläontologe am Darthmouth College in Hanover, US-Bundestaat New Hampshire arbeitet, eignen sich gerade microRNAs für eine gründliche Analyse von alten evolutionären Verwandtschaftsbeziehungen. In diesem Fall führte die Typähnlichkeit der microRNA das Team zu dem Schluss, dass Acoelomorpha in die Verwandtschaft der Neumundtiere gehören.
Dabei gestehen die Autoren durchaus zu, dass keiner der Datensätze für sich genommen beweist, dass die Acoelomorpha tatsächlich Deuterostomier sind. Insgesamt aber, so Telford, "deuten alle Erkenntnisse in dieselbe Richtung. Und ich meine: Sie stimmt".
Wenn Acoelomorpha tatsächlich unter den Deuterostomiern Platz finden, müssen die Würmer aus einem Vorfahren entstanden sein, der ein Zentralnervensystem, eine Körperhöhle und einen verbindenden Eingeweidegang zwischen Mund und After besessen hatte – eben all das, was heute lebende Neumünder auch zeigen. Die Wissenschaftler müssen also eine gute Begründung dafür finden, warum die Acoelomorpha und Xenoturbella diese Eigenheiten verloren haben.
... und Gegenmeinung
Andere Forscher möchten die althergebrachte Stellung der Acoelomorpha indes noch nicht zu den Akten legen. "Die Studie stimmt mich zwar traurig, regt mich aber nicht auf", meint etwa Hejnol. "Wütend wäre ich, wenn die Untersuchung wirklich exzellent gewesen wäre. Dann hätten wir ein repräsentatives Bindeglied wichtiger Übergangsphasen des tierischen Lebens eingebüßt." Hejnol und seine Kollegen zweifeln die Verlässlichkeit des allein auf Kern-DNA-Analysen erstellten Stammbaums an – das Hauptindiz der Studie. Die Hauptäste des Baums seien statistisch nicht so überzeugend abgesichert, wie sie es sein sollten, monieren Kritiker zudem.
"Ich bin traurig – aber nicht sauer!"
(Andreas Hejnol)
Der Phylogenetiker Brian O'Meara von der University of Tennessee in Knoxville nennt den neuen Stammbaum denn auch "einleuchtend – aber nicht endgültig belegt". Unter Beschuss steht die Studie aber auch, weil sie Datensätze ausspart, die die Schlussfolgerung der Forscher nicht gestützt hätten. Einer der teilnehmenden Forscher hatte zum Beispiel früher noch einen nahen Verwandten der Acoelomorpha, den Wurm Meara stichopi analysiert, ohne darin neumundtiertypische microRNA zu entdecken. Und jetzt müssen die Autoren natürlich ihre Entscheidung verteidigen, die microRNA-Daten von M. stichopi in der Arbeit nicht berücksichtigt zu haben: angeblich wegen besorgniserregender Mängel in der Qualität der Daten. (Andreas Hejnol)
Damit nicht genug: Längst nicht jeder glaubt überhaupt an die Aussagekraft von microRNA-Analysen, die ja erst seit kurzem als Werkzeug bei Evolutionsstudien eingesetzt werden. Tatsächlich ist die neue Studie der bis dato ambitionierteste Versuch, die neue Methode als Werkzeug zur Verwandtschaftsanalyse einzusetzen. Nun können microRNAs im Laufe der Evolution in manchen Linien allerdings auch verschwinden – und also ist auch nicht auszuschließen, dass die "Neumundtier-microRNA" in den Acoelomorpha eigentlich ein uraltes Relikt aller Bilateria ist, welches nur bei allen Urmundtieren später verloren ging.
Ein derart grundsätzliches Rätsel möchte die Forscherwelt natürlich gerne lösen. Ganz explizit hat daher die National Science Foundation der USA um Vorschläge gebeten, wie die weit in die Vergangenheit zurückreichenden evolutionären Abzweigungen besser untersucht werden können – eine Initiative namens "Assembling the Tree of Live", erklärt der programmatische Leiter der Foundation, Tim Collins. "Innerhalb einzelner Gruppen arbeiten wir ziemlich verlässlich, die ältesten Abzweigungen im Evolutionsstammbaum zu rekonstruieren bleibt aber ein ziemlich mühsames Unterfangen", fasst er zusammen. Und: "Im Vergleich zu der Zeit, die seitdem vergangen ist, spielte sich das Ganze damals in einem sehr kurzem Zeitfenster ab – das macht die Sache nicht gerade leichter."
Im vergangenen Sommer hatten sich Hejnol und Telford noch ein Hotelzimmer geteilt – im schwedischen Kristineberg, als Dozenten eines Fortbildungskurses – und haben sich über ihre unterschiedlichen Meinungen ausgetauscht. Zur Sprache kam auch ein Ansatz, mit dem die Differenzen vielleicht ausgeräumt werden können: Man müsste das gesamte Genom eines Acoelomorphen, eines Vertreters der Xenoturbella-Gattung und die kontroverse Spezies M. stichopi sequenzieren. Die damit gewonnenen genetischen Informationen dürften dann den Streit beilegen, hoffen alle Beteiligten – und ein für allemal klären, wo die Acoelomorpha denn nun hingehören. "Ein knappes Rennen, dessen Ausgang enorme Konsequenzen haben dürfte", meint Hejnol über die Arbeit am neuen Stammbaum. "Gut, dass wir genau wissen, wie wir die Streitfrage klären können".
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