Indonesien: Die älteste Kunst der Welt bröckelt
Als hätten Riesen unzählige Felsbrocken in die Landschaft gewuchtet, so ragen die großen Karstberge im Südwesten der indonesischen Insel Sulawesi aus der Flussebene. Dicht von tropischem Wald überwuchert, bergen die felsigen Erhebungen hunderte Höhlen, Felsspalten und -überhänge. Sickerwasser schälte die Öffnungen über Jahrmillionen aus dem porösen Kalkstein. Die Menschen, die in den Höhlengebilden im Lauf von zehntausenden Jahren Zuflucht suchten, hinterließen an den Felswänden zahlreiche Malereien. Archäologen haben bisher Handumrisse, Strichmännchen und ockerfarbene Darstellungen von Pustelschweinen, Hirschebern und Zwergbüffeln entdeckt.
Seit 2016 klettert Rustan Lebe dort in den Regierungsbezirken Maros und Pangkep von Höhle zu Höhle. Der Archäologe von der indonesischen Regierungsbehörde für die Bewahrung des Kulturerbes in Makassar dokumentiert die Höhlenkunst systematisch. Einige Stätten liegen tief im Regenwald, andere wiederum unweit von Wohnhäusern. Die Dorfbewohner nutzen sie bisweilen sogar als Getreidespeicher oder Tempelräume. Viele Malereien befinden sich jedoch auf dem Privatgelände von Unternehmen, die Marmor abbauen und Kalkstein für Zement brechen. In Rustan Lebes Datenbank sind derzeit 654 Höhlen verzeichnet. Der Forscher schätzt, dass er und sein Team bisher weniger als die Hälfte der Karstberge in Maros-Pangkep erfasst haben.
In zirka 65 Prozent der Höhlen und Felsüberhänge zieren Bilder die Wände. Einige der Darstellungen entstanden vor mehr als 51 000 Jahren, sie sind die vermutlich ältesten Kunstwerke der Welt. Doch so rasch, wie Lebe noch unbekannte Höhlenmalereien aufspürt, so rasch verschwinden andere vor seinen Augen. »Unser großes Problem ist, dass die Felsoberflächen abblättern«, sagt der Archäologe. Bilder, die seit der Mitte der letzten Eiszeit überdauert haben, bröckeln plötzlich von den Wänden – in einem Besorgnis erregenden Ausmaß. Die harte Felskruste, die den Menschen als Maloberfläche diente, platzt ab. Geologen bezeichnen den Prozess als Exfoliation. Auf Sulawesi löst sich dabei eine Gesteinslage von dem darunterliegenden hellen Kalkstein.
Wer ist schuld am Verfall?
Welche Ursachen dahinterstecken, darüber können Archäologen bisher nur spekulieren. Womöglich liegt es an den vielen Autos und Lastwagen, die unweit der Fundstätten vorbeibrettern und die Luft verschmutzen. Oder es sind die schwitzenden und schnaufenden Touristen, die in die Höhlen kraxeln und deren Mikroklima belasten. Ebenfalls denkbar: Durch den Klimawandel ändern sich Wetterregime, deren Walten dem Kalkstein an die Substanz geht. Die Fachleute erwägen allerdings auch, dass die örtlichen Bergbauunternehmen schuld sind. Diese wirbeln Unmengen Staub beim Sprengen der Karstberge auf, die zudem dabei stark erschüttert werden.
Welche jener Faktoren tatsächlich die Felskunst bröckeln lassen, gilt es nun herauszufinden. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, der eine außergewöhnliche Allianz geformt hat. Staatliche Archäologen, einheimische Forscher sowie Wissenschaftler aus anderen Ländern, die Führungsebene der Bergbauunternehmen und Investoren, die teils weit entfernt in Norwegen sitzen, ziehen an einem Strang: Wie lässt sich verhindern, dass die Steinzeitkunst weiteren Schaden nimmt – und zwar bevor sie für immer verloren geht?
Der jetzige Wissensstand sei nur »die Spitze eines fürchterlichen Eisbergs«. So formuliert es die Archäologin Jillian Huntley von der Griffith University im australischen Southport. Ihres Erachtens ist große Eile angebracht, mehr in die Erforschung jenes Phänomens zu investieren.
Die Höhlenbilder, ein Zufallsfund
Eher zufällig stellte sich überhaupt heraus, dass die Malereien in Maros-Pangkep derart alt sind, teils mehr als 51 000 Jahre. 2011 forschte der Archäologe Adam Brumm, der damals an der University of Wollongong in Australien lehrte, auf Sulawesi. Er ließ graben – mit dem Ziel, Überreste von Menschen zu entdecken, die während der letzten Eiszeit nach Sulawesi gewandert waren. Damals lag der Meeresspiegel niedriger, Landmassen dürften daher leichter zu erreichen gewesen sein als heute. In den Grabungspausen kletterte Brumm in nahe gelegene Höhlen. Die dortigen Malereien, so vermuteten es Fachleute bis dahin, hätten neolithische Bauern vor weniger als 10 000 Jahren hinterlassen. Auf Forschungsarbeiten beruhte die Annahme jedoch nicht.
In Leang Jarie, der Höhle der Finger, fielen Brumm lustige, kleine Wucherungen auf. Diese hatten sich über ockerfarbene Handumrisse gelegt. Brumm berichtete seinem Universitätskollegen Maxime Aubert von den kalkigen Wucherungen. Aubert ist Geochemiker und Spezialist für die Datierung von Gesteinsablagerungen. Er erkannte, dass es sich bei den Knötchen um so genannte korallenförmige Speläotheme handelte – auch »cave popcorn« (Höhlenpopcorn) genannt. Und die Mineralablagerungen lieferten ihm letztlich die Daten, um das Alter der Malereien genauer zu bestimmen.
Aubert reiste auf eigene Kosten nach Sulawesi, um vom Höhlenpopcorn Proben für eine Datierung zu nehmen. Zurück in Wollongong ergaben seine Analysen, dass die Handumrisse vor ungefähr 40 000 Jahren entstanden waren. Damit war klar: Es handelte sich um die ältesten Exemplare solcher Handbilder weltweit. Zudem schienen die Malereien von Schweinen in der Höhle zu den ältesten Beispielen für figürliche Kunst zu zählen – vielleicht waren es sogar die ältesten überhaupt.
Statt Deutschland nun Indonesien
»Als ich sah, wie alt sie sind, entkam mir ein ›oh shit‹«, erzählt Aubert, der inzwischen an der Griffith University in Southport arbeitet. »Mir war sofort klar, dass dieses Ergebnis sehr, sehr wichtig ist«, erinnert er sich. Es stellte nämlich die vorherrschende Forschungsmeinung in Frage, dass die früheste Kunst der Welt in Europa beheimatet ist. Bis dahin galten bis zu 40 000 Jahre alte Elfenbeinfigürchen aus den Höhlen der Schwäbischen Alb als die ältesten Kunstwerke der Welt.
Als Malgrund nutzten die Steinzeitkünstler von Maros-Pangkep die harte Außenschicht der Höhlenwände, die sich geochemisch vom darunterliegenden kreideartigen Gestein unterscheidet. Diese äußere Kruste bildet sich aus Kalziumkarbonat und anderen Mineralen, die mit dem Sickerwasser an die Felsoberfläche transportiert werden und sich dort ablagern. Nachdem die Malereien in der Steinzeit aufgebracht wurden, setzte sich der Prozess fort: Dadurch legte sich über die Farbpigmente eine harte Kalksteinkruste und versiegelte die Bilder.
»Bei der Felskunst dreht sich eigentlich alles um diese Kruste«, sagt der Archäologe Benjamin Smith von der University of Western Australia in Perth. »Wenn die Kruste verloren geht, ist auch die Felskunst weg«, fasst es der Experte für Höhlenbilder zusammen. Und genau das beobachten Lebe und andere Archäologen auf Sulawesi: Die Malereien verschwinden, weil die Kruste abblättert.
Wie ein Zementfabrikant zum Hüter des Kulturerbes wird
Anderthalb Autostunden nördlich der Provinzhauptstadt Makassar befindet sich der Hauptsitz des Zementunternehmens Semen Tonasa. Die Firma ist eine Tochtergesellschaft der SIG, des größten, vor allem in Staatsbesitz befindlichen Zementherstellers in Indonesien. Für sie sind die Karstberge von Maros-Pangkep eine wertvolle Rohstoffquelle. Ganze Kalksteinberge werden auseinandergebrochen und zur Herstellung von Zement fortgeschafft. Als man 2019 in der Nähe des Firmengeländes von Semen Tonasa Höhlenmalereien entdeckte, die mehr als 43 000 Jahre alt sind, schwang sich das Unternehmen unerwartet zum Kulturhüter auf.
Weniger als einen Kilometer vom Firmensitz entfernt, erhebt sich der kuppelförmige Berg Bulu’ Sipong. Mit Schutzhelm und Stahlkappenstiefeln stapfen Lebe und einige Mitarbeiter des Unternehmens in eine der acht Höhlen des Bergs, in Leang Bulu’ Sipong 4 (auf Sulawesi bedeutet »leang« Höhle). Eine steile Metalltreppe führt zum Höhleneingang hinauf. Im Inneren deutet Lebe auf verblasste Handumrisse. Die schablonenartigen Bilder hatten die Menschen vor einigen zehntausenden Jahren mit Erdpigmenten gefertigt – vermutlich indem sie die färbenden Stoffe im Mund auflösten und dann über ihre auf den Fels gepresste Hand spuckten.
Lebe besteigt anschließend über eine acht Meter hohe Leiter die obere Kammer von Leang Bulu’ Sipong 4. Für einen Moment verharrt er an einer natürlichen Felsöffnung. Lebe will sich abkühlen und Luft holen. Es gilt die Atemfrequenz zu senken, bevor sich die Gruppe den Kunstwerken an den Steinwänden nähert, um sie nicht durch den körpereigenen Dunst zu beschädigen. Den Höhlenmalern von einst fiel es wahrscheinlich nicht viel leichter, an diesen Ort zu gelangen, als den Menschen heute, sagt Lebe. Damals seien sie aber nicht hierher gekommen, um sich ums Feuer zu scharen oder vor den Unbilden der Natur zu schützen. Vielmehr sei es laut Lebe darum gegangen, in den Höhlen zu malen. Es sei ein Ort für das Sakrale gewesen, kein häuslicher Bereich.
Mischwesen jagen Zwergbüffel
In die Höhlenkammer fällt von außen ein schwacher Lichtschein, der gerade hell genug ist und einen zirka viereinhalb Meter langen Bildstreifen sichtbar macht. Rötliche Tiere preschen über die Wand, sie ähneln Wildschweinen und den so genannten Anoas (Bubalus sp.), das sind auf Sulawesi heimische Zwergbüffel. Auf der einen Seite der Darstellung ist eine Jagdszene zu erkennen: Sechs Strichmännchen führen lange, schmale Objekte in Händen, vielleicht sollen es Speere oder Seile sein. Die Linien richten sich auf ein Anoa. Doch das Tier ist übergroß dargestellt, die Figuren im Vergleich dazu winzig – die zudem nicht gänzlich menschlich wirken. Statt Gesichtern ragen Schnäbel und Schnauzen aus den Köpfen, am Steiß hängen womöglich Tierschwänze herab. Wie es scheint, stellen die Figuren Mischwesen dar, sie sind teils Mensch, teils Tier.
Die Jagdszene dürfte daher weniger als Bericht vergangener Ereignisse zu verstehen sein, sondern vielleicht von einem Mythos handeln. Welche Geschichte genau dahintersteckt, wird sich wohl nie klären lassen. Was aber auffällt: Die Darstellungen sind übersät mit weißen Löchern. An diesen Stellen ist die Felskruste abgeplatzt. Nahe am Höhleneingang ist der harte Überzug bereits vollständig von der Wand gefallen – und mit ihm möglicherweise auch einstige Malereien. Zurückgeblieben sind einzig kreideweiße Flächen.
Auberts Datierungen ergaben für die Darstellungen in der Leang Bulu’ Sipong 4 ein Alter von mindestens 48 000 Jahren. Die Jagdszene zählt damit zu weltweit frühesten Beispielen einer bildlichen Erzählung. Älter ist momentan nur ein ähnliches Bild aus der Leang Karampuang, das drei menschenähnliche Figuren und ein großes Schwein zeigt – es stammt aus einer Zeit von vor mindestens 51 200 Jahren. Es seien die ersten Zeugnisse dafür, »dass Menschen sich etwas vorstellten, was es eigentlich nicht gibt«, sagt Brumm, der inzwischen an der Griffith University in Brisbane arbeitet. Die großen Tiere und kleinen Mischwesen an den Höhlenwänden sind damit mehr als doppelt so alt wie die berühmte »Schachtszene« in der Höhle von Lascaux in Frankreich. Letztere dürfte in eine Zeit von vor ungefähr 17 000 Jahren zurückgehen. Dort, an den Wänden eines Felsschachts, ist ein Mann mit einem vogelähnlichen Kopf abgebildet. Ihm gegenüber ist ein womöglich verwundetes Wisent zu sehen. Jedenfalls überlagert ein Speer das Tier, aus dessen Bauch die Eingeweide quellen. Die Bilder von Bulu’ Sipong 4 und Karampuang sind sogar noch älter als der Löwenmensch – die rund 40 000 Jahre alte Elfenbeinfigur eines löwenköpfigen Menschen aus der Höhle Hohlenstein-Stadel auf der Schwäbischen Alb.
Schaden durch die Zementproduktion
Als Brumm, Aubert und ihre Kollegen die Jagdszene von Bulu' Sipong 4 im Dezember 2019 erstmals publizierten, war das öffentliche Interesse plötzlich auch auf die Frage gerichtet, warum sich das Kunstwerk Stück für Stück von der Wand schält. In einigen Medienberichten war der Übeltäter schnell ausgemacht: Es musste mit Semen Tonasa zusammenhängen, da sich die Höhle unweit des Firmengeländes befindet.
Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Höhlenmalereien auf Südsulawesi schon seit Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden abblättern. In einer Höhle haben niederländische Besucher auf eine steinzeitliche Darstellung ein Graffiti gekritzelt. Just auf einer abgeplatzten Stelle hinterließen sie das Datum ihres Aufenthalts: »AD 1769«. Ebenso gibt es Höhlenbilder, die Austronesier vor einigen Jahrtausenden mit Holzkohle aufgemalt hatten. Ihre Zeichnungen überlagern ältere Handkonturen und aufgesprengte Flecken in der Felskruste.
Dennoch hat sich der Grad der Exfoliation merklich geändert. Viel schneller als zuvor wird die Gesteinsrinde von den Wänden gesprengt, wie Anwohner berichten, die sich um einige der Höhlen kümmern. Lebe konnte den rasanten Verfall dokumentieren. Auf Fotos, die er im Abstand von nur wenigen Monaten aufgenommen hat, lässt sich deutlich nachvollziehen, dass sich abgeplatzte Stellen vergrößern.
Wer ist der Übeltäter?
Der Karstberg Bulu’ Sipong 4 liegt zwei Kilometer von der Zementfabrik von Semen Tonasa entfernt. Und nicht einmal drei Kilometer trennen den Berg von einem Steinbruch, in dem das Unternehmen den Kalkstein mittels Sprengladungen gewinnt. In der Zeit, als die Höhlenmalereien entdeckt wurden, fuhr täglich eine lange Kolonne Lastwagen auf unbefestigten Straßen rund 100 Meter am Fundort vorbei und wirbelte Unmengen Staub auf. Das blieb nicht unbemerkt. Im Februar 2020 berichtete der britische »The Guardian«, die Bergbauaktivitäten von Semen Tonasa würden die »ältesten Kunstwerke der Welt« gefährden. Der Artikel landete im Posteingang von Hilde Jervan – sie ist leitendes Mitglied im Ethikrat des Staatlichen Pensionsfonds von Norwegen. 1990 gegründet, nimmt der Fonds die Einnahmen aus der Erdölförderung des Landes auf und investiert sie in Aktienmärkte weltweit. Sein Vermögen beläuft sich auf 1,5 Billionen US-Dollar. Der Ethikrat soll dabei sicherstellen, dass der Fonds sein Geld ethisch vertretbar anlegt.
Am indonesischen Zementfabrikanten SIG, dem Semen Tonasa gehört, hat der Pensionsfonds einen Anteil von weniger als zwei Prozent. Und damit genug, dass Jervan bei Semen Tonasa nachhakt, was die Firma gegen die mögliche Bedrohung von Kulturstätten wie Bulu’ Sipong 4 unternimmt. Der Fonds »hat einen gewissen Einfluss auf dem Markt, weil er so groß ist«, sagt Jervan. Und Investoren würden den Beurteilungen des Ethikrats sehr wohl Beachtung schenken.
Um der Sache auf den Grund zu gehen, beauftragte Jervan die Archäologen Matthew Whincop aus Australien und Noel Hidalgo Tan aus Singapur. Die beiden sind auch für ICOMOS tätig, einer Beraterorganisation der UNESCO, die sich wiederum für den Erhalt des weltweiten Kulturerbes einsetzt. Whincop und Tan sollten ein Gutachten über die Höhlenbilder von Bulu’ Sipong 4 erstellen und besuchten die Stätte im Jahr 2022. Ihre Frage lautete, ob Semen Tonasa tatsächlich die steinzeitlichen Kunstwerke gefährdet. Doch das Einzige, was sie vor Ort vorfanden, war die Vermutung: Angeblich habe sich die Exfoliation der Felswände beschleunigt – und verantwortlich müsse die nahe gelegene Industrie sein. Das größte Problem war aber, so Whincop, dass es an Daten mangelte. Es lagen kaum Informationen darüber vor, wie stark der Verfall zugenommen hatte, wie viel Staub und Feuchtigkeit tatsächlich in der Luft lagen, wie sehr die Sprengungen und Minenfahrzeuge den Boden erschütterten und wie das Ausmaß der Umweltverschmutzung einzuschätzen sei. Und die Daten, die es gab, deckten lediglich einen kurzen Zeitraum ab. Sie verrieten demnach nicht, welche dieser Faktoren wirklich für die Exfoliation verantwortlich war.
Zu wenig Monitoring
Überraschend sei die dürftige Datenlage allerdings nicht, findet der Felskunstexperte Paul Taçon von der Griffith University in Southport. »Es wird einfach zu wenig Monitoring betrieben.« Lebe versucht das zu ändern. Gemeinsam mit dem Hydrometeorologen Halmar Halide von der hiesigen Hasanuddin University in Makassar dokumentiert er alle drei Monate verschiedene Werte in den Höhlen. Sie messen die Staubkonzentration in der Luft, die Temperatur, die Feuchtigkeit und den Grad der Exfoliation. Die beiden Forscher suchen zusammen mit Semen Tonasa zudem nach geeigneteren Gerätschaften, um das Monitoring zu verbessern.
»Wir sind ein Zementunternehmen und daher nicht wirklich auf den Erhalt von Kulturerbe spezialisiert«, sagt Johanna Daunan, die den Bereich Nachhaltigkeit bei SIG in Jakarta leitet. Sie versichert aber, dass das Unternehmen alles tue, um die Stätten zu schützen. Man habe bereits Maßnahmen ergriffen, um die Staubbelastung zu verringern. In welchem Umfang das nötig ist, sei jedoch fraglich. Es gebe kaum staatliche Vorschriften, so Daunan. Keiner weiß, wie viel Staub, Verschmutzung oder Erschütterungen die Felskunst schädigen und wie viel nicht.
Lebe und andere Höhlenexperten sind hingegen davon überzeugt, dass die Staubbelastung eines der Hauptprobleme darstellt. Nicht nur der Abbau von Semen Tonasa füge den Malereien Schaden zu; andere Unternehmen in der Region tragen ebenfalls ihren Teil bei. »Der Staub gelangt auf jeden Fall bis in die Höhlen«, sagt Lebe. »Vor allem in jene Höhlen, die sich unweit der Abbau- und Industriegebiete befinden.« Ein anderer Bergbaubetrieb auf Südsulawesi ist Bosowa Semen in Maros. Ein Sprecher des Zementfabrikanten erklärt auf Nachfrage, dass auf ihrem Gelände keine Fundstätten bekannt seien, Lebe aber informiert werde, falls Mitarbeiter Höhlen finden sollten. Lebe selbst darf deren Gebiet allerdings nicht archäologisch begehen.
Weshalb alte Kunst verloren geht
Felsbilder sind nicht nur auf Sulawesi gefährdet. Auch anderswo auf der Welt verblassen Darstellungen und gehen verloren. Weshalb? Die Ursachen sind unterschiedlich und teils schlicht natürlich. Pilze, Bakterien und Pflanzenwurzeln können über die Darstellungen wuchern, die alten Farben zersetzen oder in das Gestein eindringen und es aufbrechen. Ebenso werden Felsflächen auf Grund extremer Temperaturschwankungen abgesprengt. Wasser, Kohlendioxid und Sauerstoff tragen je nach Klimazone und Gesteinsart ebenfalls zur Verwitterung bei. Und dann ist da der Faktor Mensch: In Indien, so berichten Fachleute, bekritzeln Besucher die alten Malereien oder meißeln sie aus ihrem Untergrund, um ein Souvenir mit nach Hause zu nehmen. In Tansania spritzen die Reiseleiter Wasser über die Bilder, damit sie kontrastreicher erscheinen und die Reisegäste sie besser erkennen können – ohne zu merken, dass sie dabei jedes Mal Pigmente aus den Darstellungen schwemmen. Selbst die bloße Anwesenheit von Menschen kann Felszeichnungen zerstören, weil sie das Mikroklima einer Höhle beeinflussen. Mit jedem Atemzug verändern sich die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit und der Kohlendioxidgehalt. In der Höhle von Lascaux wuchsen deshalb Algen, Pilze, Bakterien und Salzkristalle auf den Malereien. 1963 wurde die Höhle für Besucher geschlossen; Restauratoren retteten die Bilder. Heute können Touristen sie jedoch in teils aufwändigen Rekonstruktionen bewundern wie in der vollständigen Nachbildung in Montignac.
Es ist bekannt, dass auch Abgase aus dem Straßenverkehr und der Landwirtschaft für Höhlenbilder schädlich sind. Beim Düngen gerät Ammoniak in die Luft, im Verkehr Schwefeldioxid. Ammoniak lagert sich an Feinstaubpartikel in der Luft an und bildet Ammoniumsalze, die mit der Feuchtigkeit und dem Sauerstoff der Luft zu Salpetersäure reagieren. Schwefeldioxid wiederum verbindet sich mit dem Sauerstoff und der Feuchtigkeit der Atmosphäre zu Schwefelsäure. Wenn diese Säuren an einer Felswand haften, können sie die Gesteinsoberflächen angreifen und dabei die darauf befindliche Felskunst zerfressen, erklärt der freischaffende Archäologe und Felsbildspezialist Johannes Loubser aus New York City.
Ein weiterer Faktor könnte der aktuelle Klimawandel sein. Jillian Huntley von der Griffith University untersuchte Proben von abgeplatzter Steinkruste im Rasterelektronenmikroskop. Dabei entdeckte sie winzige Salzsäulen, die sich an der Rückseite der Kruste gebildet hatten. Je nach Luftfeuchtigkeit vergrößern sich diese Salzkristalle oder ziehen sich zusammen, berichtet Huntley. Wenn sie feucht sind, »dehnen sie sich bis zum Dreifachen ihrer Größe aus«, so die Archäologin. Die Folge: Das Salz sprengt die Kruste von der Wand ab.
Doch es liegt nicht nur am Klimawandel, dass die Salze expandieren, sondern auch an der Landnutzung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert hat. In den Tropen steigen die Temperaturen, weshalb Dürreperioden häufiger und länger auftreten. Parallel halten Bauern den Regen aus der Monsunzeit in ihren Reisfeldern und Aquakulturen zurück. Damit ergeben sich ideale Bedingungen für die Bildung von Salzen, die sich dann ausdehnen oder schrumpfen und so die Felskruste aufhebeln.
Die bisherigen Ergebnisse: Frustrierend
Obgleich die chemischen Prozesse längst bekannt sind, untersuchen internationale Organisationen wie ICOMOS erst seit Kurzem, wie sich der Klimawandel indirekt auf die Kulturerbestätten auswirkt, weiß Huntley. Archäologe Whincop schlägt in dieselbe Kerbe. Zudem würden Feuchtigkeit und Staub die Situation verschlimmern. Nehmen die Staubpartikel Wasser aus der Luft auf, bleiben sie besser an den Höhlenwänden haften. Dadurch legt sich allmählich ein Grauschleier über die Bilder. Mehr noch: Ihr Gewicht beschwert die Kruste, die sich dadurch leichter ablösen kann. In den Kammern von Bulu’ Sipong 4 »ist alles mit Staub bedeckt«, weiß Whincop. Das begünstigt die Exfoliation. Aber um diesen Prozess nachzuweisen, »fehlen uns schlicht die Daten«. Die Lage ist laut Whincop frustrierend. In seinem Bericht an den Ethikrat des norwegischen Pensionsfonds kann er lediglich resümieren, dass weder Semen Tonasa noch der Klimawandel gesichert die Felskunst in Maros-Pangkep schädigt.
In seinem Bericht steht jedoch außerdem, dass das Unternehmen mehr dafür tun muss, etwaige Schäden durch Staub, Erschütterungen oder Feuchtigkeit zu verhindern. Die norwegische Zentralbank – sie verwaltet den Fonds – stellte im Mai 2023 Semen Tonasa für drei Jahre unter Beobachtung. Sie will genau mitverfolgen, ob sich die Firma um den Erhalt der Höhlenbilder kümmert, und sicherstellen, dass sie ihre Pläne wirklich umsetzt. Aus genau jenem Grund kam Whincop im Oktober 2023 noch einmal nach Südsulawesi. Sein Fazit: »Sie machen Fortschritte, wenn auch ein bisschen langsam.«
Die Firma hat beispielsweise den unabhängigen Archäologen John Peterson aus Cebu City auf den Philippinen beauftragt, einen Managementplan auszuarbeiten. Zurzeit werde der Entwurf überarbeitet, berichtet die Nachhaltigkeitsspezialistin Johanna Daunan vom Dachunternehmen SIG. Das Team um Peterson stellte das Vorhaben im Juni 2024 auch auf der Konferenz für Südostasiatische Archäologie in Bangkok vor. Demnach habe man erste Messgeräte rund um Bulu' Sipong installiert, um die Staubentwicklung und Erschütterungen aufzuzeichnen. Zudem ließ Semen Tonasa einen Schutzzaun errichten.
Wichtig sei das Monitoring, betont Whincop. »Sie werden wahrscheinlich ein oder zwei Jahre lang Daten sammeln müssen, bevor sie aussagekräftige Ergebnisse vorlegen können.« Adäquate Maßnahmen werden wohl erst danach umgesetzt. Doch im Großen und Ganzen bemüht sich Semen Tonasa laut Whincop, dem Ursprung der Schäden auf die Spur zu kommen. Seit er 2022 vor Ort war, habe das Unternehmen die unbefestigte Straße, die am Bulu’ Sipong-Hügel vorbeiführt, versiegelt. Außerdem bringen mehr Lkws als zuvor Wasser auf der Straße aus, damit die schweren Minenfahrzeuge weniger Staub aufwirbeln. »Wirklich gut ist, dass Semen Tonasa jetzt eine eigene Abteilung für Nachhaltigkeit eingerichtet hat, die sich mit dem Thema beschäftigt«, sagt Whincop.
Kaum jemand kennt die uralte Höhlenkunst
Lebe und sein Team von der Behörde für Kulturerbe haben in der Hinsicht eher das Nachsehen. Ihnen fehlt es an finanziellen Mitteln, um selbst in den Höhlen aussagekräftige Analysen anzustoßen. Deshalb, davon ist Peterson überzeugt, könnte es sich als Glücksfall erweisen, dass Bulu' Sipong 4 innerhalb der Bergbaukonzession von Semen Tonasa liegt. Das Unternehmen könne sich ein umfassendes Monitoring leisten und am Ende vielleicht die entscheidenden Hinweise für den Verfall der Felskunst aufdecken.
Als problematisch erweisen sich aber nicht nur die geringen öffentlichen Gelder, sondern auch die Tatsache, dass kaum jemand in Indonesien das steinzeitliche Kulturerbe auf Sulawesi kennt. »Ich bin Indonesierin und habe eigentlich erst jetzt von den mehr als 500 Höhlen in Maros-Pangkep erfahren«, gesteht Daunan. Sie sei sich sicher, dass »nicht viele Menschen in Indonesien davon wissen«.
Das könnte sich allmählich ändern. Im Mai 2023 hat die UNESCO die Karstlandschaft auf Südsulawesi als »Global Geopark« ausgezeichnet. Dieser Status könnte zusätzliche Mittel bei der indonesischen Regierung lockermachen. Archäologin Huntley ist hingegen davon überzeugt, dass das UNESCO-Etikett nicht ausreicht, um den Verfall der Höhlenbilder aufzuhalten. Es brauche mehr Forschung. Und zwar bald. Ihr Kollege Arthur Brumm scannt deshalb die Malereien und erstellt daraus digitale Aufnahmen. Man könne die Darstellungen dann betrachten, ohne ihnen tatsächlich zu nahe zu kommen. »Wir müssen jetzt ein visuelles 3-D-Archiv der gesamten Felskunst der Region anlegen, bevor sie verschwindet«, so Brumm.
Wer in einer der Höhlen neben den abblätternden Malereien steht, begreift vielleicht nicht gleich, wie alt sie wirklich sind: mehr als 51 000 Jahre! Ebenso ist es schwer vorstellbar, wie viele Handumrisse, Pustelschweine oder Jagdszenen noch unentdeckt in den Karstbergen von Maros-Pangkep schlummern könnten – und vielleicht nie dokumentiert werden, weil sie zuvor abgeblättert sind.
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