Infektiöse Dosis: Warum nicht jeder ansteckende Kontakt krank macht
Damit ein Krankheitserreger uns krank macht, muss er eine Reihe von Hindernissen überwinden. Zunächst muss er natürliche Barrieren wie Haut, Schleim, Flimmerhärchen und Magensäure überstehen, um in den Körper einzudringen. Dann muss er sich vermehren. Einige Bakterien und Parasiten können dies praktisch überall im Körper, doch andere brauchen spezielle Bedingungen. Viren und einige andere Krankheitserreger müssen dazu sogar in einer Zelle sein. Und die ganze Zeit über müssen sie Angriffe des körpereigenen Immunsystems abwehren.
Während wir also ständig mit Mikroorganismen in Kontakt kommen, dringen in der Regel zu wenig Krankheitserreger in unseren Körper ein, um unsere Abwehrkräfte zu überwinden. Eine ausreichend kleine Dosis kann womöglich sogar unser Immunsystem an die Existenz eines Erregers quasi erinnern und unsere Antikörperreaktion verstärken. Wenn es dagegen genügend Erreger schaffen, unsere Abwehr zu überwinden und sich zu vermehren, werden wir krank. Oft ist das vor allem eine Frage der Anzahl. Je mehr Eindringlinge der Körper abwehren muss, desto wahrscheinlicher ist es, dass man sich krank fühlt.
Lediglich 18 einzelne Viruspartikel können für eine Infektion mit Noro ausreichen
Wie viele Mikroben müssen in den Körper eindringen, bevor wir uns krank fühlen?
Die für eine Infektion nötige Anzahl ist je nach Erreger unterschiedlich und wird als »infektiöse Dosis« bezeichnet. Normalerweise sind dafür recht viele Viren oder Bakterien nötig, aber bei manchen Krankheitserregern reicht eine unglaublich geringe Anzahl von Organismen aus, um sich im Körper festzusetzen. Ein Beispiel dafür ist das Norovirus. Dieses Magen-Darm-Virus breitet sich besonders gut aus, wenn viele Menschen in engem Kontakt stehen und dieselben Oberflächen berühren, wie zum Beispiel auf einem Kreuzfahrtschiff.
Lediglich 18 einzelne Viruspartikel können für eine Infektion mit Noro ausreichen, so dass man sich extrem leicht ansteckt. Sie sind außerdem außerhalb des Körpers sehr widerstandsfähig. Eine infizierte Person kann eine große Menge Viren ausscheiden und in der Umgebung zurücklassen – genug, um auch noch mehrere Tage später andere leicht anzustecken.
In welcher Beziehung steht die infektiöse Dosis zum »viral load«?
Viral load und infektiöse Dosis sind ähnliche Begriffe. Doch während sich letzterer darauf bezieht, wie viele Organismen zu einer Infektion führen, ist die Viruslast ein aktives Maß für die Infektion: die Anzahl der Organismen, die sich im Wirt replizieren. Diese beiden Begriffe erlangten erstmals eine weite Öffentlichkeit als Teil der Aufklärung über Aids. Nach dem Ausbruch der Covid-Pandemie verbreiteten sich die beiden Fachbegriffe noch einmal deutlich.
Wie ermitteln die Forscher die infektiöse Dosis?
Das ist nach wie vor schwierig und nur sehr ungenau zu ermitteln. Der Goldstandard, um diese Zahl zu ermitteln, sind so genannte Human-Challenge-Studien. Dabei verabreicht man Freiwilligen verschiedene Mengen des Krankheitserregers und beobachtet, ab welcher Dosis sie krank werden. Dieser Ansatz ist jedoch ethisch schwierig, da er immer das Risiko einer schweren Erkrankung und möglichen Langzeitkomplikationen birgt. Stattdessen nutzen Fachleute je nach Erreger Meerschweinchen, Ratten, Mäuse oder Frettchen für solche Versuche. Es kann jedoch kompliziert sein, aus der beim Tier ermittelten Dosis direkt das Äquivalent beim Menschen zu bestimmen.
Außerdem spielt der Ansteckungsweg eine Rolle. Ein Erreger, der direkt in den Blutkreislauf gelangt, umgeht viele Abwehrmechanismen des Wirts und benötigt deswegen eine wesentlich geringere Dosis als ein Erreger, der beispielsweise durch den Mund oder die Lunge eindringt. Aus diesem Grund ist beispielsweise das Risiko einer HIV-Infektion durch eine Bluttransfusion oder einen Nadelstich viel höher als auf sexuellem Weg.
Eine dritte Möglichkeit, die Infektionsdosis zu ermitteln, sind Beobachtungsstudien. Dabei leiten Fachleute die Zahl daraus ab, wie lange es dauert, bis eine Person beim Kontakt mit Infizierten – vor allem in der Familie – krank wird. Dieses Verfahren ist jedoch sehr ungenau, besonders im Vergleich zu den beiden anderen Methoden, denn man weiß nichts darüber, wie viele Erreger man dabei wirklich aufnimmt.
Warum ist die Infektiöse Dosis bei Krankheitserregern unterschiedlich?
Das ist noch nicht abschließend geklärt. Die Unterschiede könnten damit zusammenhängen, wie der Erreger vorgeht. Forschende vermuten, dass Krankheitserreger, die einen direkten Kontakt mit den Wirtszellen erfordern, tendenziell effektiver anstecken, so dass ihre Infektiösen Dosen relativ niedrig sind. Wenn die Bakterien die Wirtszellen jedoch indirekt angreifen – indem sie beispielsweise Proteine absondern, die die Wirtszellen schädigen –, ist eine höhere Bakteriendosis erforderlich, um den Wirt krank zu machen, da die Ausscheidungen verdünnt oder abgebaut werden könnten. Eine Studie aus dem Jahr 2012, bei der neben Bakterien auch Viren, Pilze und Parasiten untersucht wurden, stützt diese Vorstellung. Allerdings sind weitere Untersuchungen bei einer größeren Vielfalt von Krankheitserregern nötig, um die Frage zu klären.
Was wissen wir über die infektiöse Dosis von Sars-CoV-2?
In den fast fünf Jahren seit dem ersten Auftreten des Virus haben wir eine Menge gelernt. Das meiste davon stammt jedoch aus Tiermodellen für die Infektion und aus Beobachtungsstudien am Menschen. Die meisten Tiermodelle erfordern eine hohe Dosis des Virus – 10 000 bis eine Million »plaque-forming units« (PFUs), wobei jede Einheit ausreicht, um eine Zelle in einer Gewebekultur zu infizieren und abzutöten. Beobachtungsstudien am Menschen deuten jedoch darauf hin, dass Menschen sich sehr viel leichter anstecken. Die infektiöse Dosis könnte im Durchschnitt bei 100 bis 400 PFU liegen. Aus solchen Beobachtungsstudien erhält man jedoch nur einen sehr groben Richtwert.
Diese Zahl legt nahe, dass das Virus so leicht übertragbar ist, weil es eine relativ niedrige Infektionsdosis hat. Darin ähnelt es eher anderen leicht übertragbaren Atemwegsviren wie RSV und »Erkältungs«-Coronaviren als der Grippe. Die meisten Subtypen des Influenzavirus haben eine deutlich höhere infektiöse Dosis und sind damit weniger ansteckend.
Wenn man die infektiöse Dosis mit der Menge des von einer infizierten Person ausgeatmeten Virus vergleicht, ist es nicht überraschend, dass sich das Virus so schnell ausbreitet. Eine Vorabveröffentlichung zeigt, dass infizierte Patienten etwa acht Tage lang nach Beginn ihrer Symptome bis zu 800 virale RNA-Kopien pro Minute ausatmen können. Man kann die RNA-Kopien nicht direkt in die Menge lebender Viruspartikel umrechnen. Theoretisch ist aber möglich, dass selbst die Hälfte dieser RNA-Kopien von einem derzeit infektiösen Virus stammt. Damit erreicht man eine Dosis, die groß genug ist, um eine Infektion in nur einer Minute bei engem Kontakt auszulösen.
Erhöhen Impfstoffe die Infektiöse Dosis?
Wenn jemand zum zweiten Mal mit einem Krankheitserreger in Berührung kommt – sei es auf Grund einer früheren Krankheit oder einer Impfung –, treten die vorbereiteten Abwehrmechanismen der erlernten Immunität in Aktion. Antikörper, die nach einer Impfung oder einer früheren Infektion gebildet wurden, binden an den eindringenden Krankheitserreger. Sie verhindern, dass er sich an eine Wirtszelle heftet, oder sie veranlassen, dass er von Immunzellen verschlungen wird. Gelingt es einem Virus dennoch, in eine Wirtszelle einzudringen, wird diese samt Eindringlingen von T-Gedächtniszellen gezielt zerstört. Wegen dieser schnellen Reaktion überlebt ein kleinerer Anteil der eingedrungenen Krankheitserreger als bei einem Individuum, das dem Erreger zum ersten Mal begegnet. Das lässt die infektiöse Dosis effektiv steigen.
Wie kann uns dieses Wissen helfen, Krankheiten zu vermeiden?
Die infektiöse Dosis ist vor allem für Erreger relevant, die über in der Luft schwebende Aerosole übertragen werden und sich beim Einatmen anreichern, zum Beispiel Sars-CoV-2. Wie viele Viruspartikel man aufnimmt, ist eine Funktion der Erregerkonzentration in der Luft und der Zeit, die man ihnen ausgesetzt ist. Wenn man also beides reduzieren kann, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die infektiöse Dosis erreicht wird.
Deswegen empfehlen Fachleute seit Beginn der Covid-Pandemie ein »Schweizer-Käse-Modell« des mehrschichtigen Schutzes, bei dem die Distanz zu anderen Personen eine Schlüsselrolle spielt. Je weiter man von einer infektiösen Person entfernt ist, desto weniger Viruspartikel werden auf einen übertragen. Durch das Tragen einer Maske, insbesondere einer hochwertigen Atemschutzmaske wie einer N95 mit engem Sitz, wird die Anzahl der Viren, die man einatmet, weiter reduziert. Auch die Belüftung verdünnt die Anzahl der Viruspartikel in der Luft, weshalb der Aufenthalt im Freien oder die Verwendung eines Luftfilters in geschlossenen Räumen das Infektionsrisiko herabsetzt.
Bei Infektionserregern, die durch Berührung kontaminierter Oberflächen übertragen werden (zum Beispiel das Norovirus), oder bei sexuell übertragbaren Infektionen kann die Infektionsdosis auf andere Weise klein gehalten werden. In diesen Fällen kann die Dosis durch Maßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen, Vermeiden von Berührungen im Gesicht – um möglichst wenig Kontakt mit Schleimhäuten wie den Augen zu haben – oder die Verwendung von Kondomen minimiert werden.
Impfungen sind eine weitere Möglichkeit, das Infektionsrisiko zu senken. Auch wenn die Impfstoffe in vielen Fällen nicht perfekt sind – wie bei Covid-19 –, verringert die Impfung zumindest das Risiko, sich überhaupt zu infizieren. Impfstoffe erhöhen die infektiöse Dosis, die notwendig ist, um eine Infektion auszulösen. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, sich bei Kontakt mit einer Mikrobe zu infizieren. Mehreren Studien zufolge erkranken geimpfte Personen seltener schwer , scheiden weniger Viruspartikel aus und die Impfung setzt die Viruslast herab.
Masken, verstärkte Belüftung und Abstand verringern die Anzahl der ansteckenden Partikel, denen man ausgesetzt ist. Die Impfung erhöht die infektiöse Dosis. Händewaschen verhindert, dass man versehentlich Bakterien oder Viren aufnimmt. Dies sind die Säulen des Schutzes vor einer Infektion mit so gut wie allen Erregern. Die Übertragungsdynamik ist zwar komplex, aber die Maßnahmen, die wir ergreifen können, um uns zu schützen, sind dennoch vergleichsweise einfach.
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