Verhaltensforschung: Die innere Welt der Insekten
Während meiner Doktorandenzeit Anfang der 1990er Jahre an der Freien Universität Berlin, in der ich die Evolution der Farbwahrnehmung bei Bienen modellierte, bat ich einmal einen Botanikprofessor wegen einiger Fragen zu Blütenfarbstoffen um Rat. Ich wollte wissen, wie viel Gestaltungsspielraum bei Blumen existieren, um Insekten anzulocken. Ziemlich erregt entgegnete er mir, er würde sich auf keinerlei Diskussionen mit mir einlassen, weil ich in einem neurobiologischen Labor arbeitete, wo man invasive Eingriffe an lebenden Honigbienen vornahm. Der Professor war überzeugt, dass Insekten Schmerzen empfinden können. Ich weiß noch, wie ich kopfschüttelnd sein Büro verließ und dachte, der Mann hätte den Verstand verloren.
Damals standen meine Ansichten im Einklang mit dem wissenschaftlichen Mainstream: Schmerz stelle eine bewusste Erfahrung dar, und Bewusstsein – wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seinerzeit annahmen – sei ausschließlich uns Menschen vorbehalten. Heute allerdings, nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Wahrnehmung und Intelligenz von Bienen, frage ich mich, ob der Berliner Botanikprofessor nicht vielleicht doch Recht hatte.
Inzwischen ist nachgewiesen, dass Bienen und einige andere Insekten zu intelligenten Verhaltensweisen fähig sind, die zu meiner Studienzeit niemand für möglich gehalten hätte. So können Bienen zählen, Konzepte von Gleichartigkeit und Verschiedenheit erfassen oder komplexe Tätigkeiten durch das Beobachten von Artgenossinnen erlernen; und sie kennen sogar ihre eigenen, individuellen Körpermaße – eine Fähigkeit, die normalerweise mit menschlichem Bewusstsein in Verbindung gebracht wird. Darüber hinaus scheinen sie sowohl Freude als auch Schmerz zu verspüren. Mit anderen Worten: Es sieht mittlerweile so aus, als ob zumindest einige Insektenarten – wenn nicht sogar alle – ein Empfindungsvermögen besäßen.
Diese Entdeckungen werfen faszinierende Fragen über die Ursprünge komplexer Kognition auf. Darüber hinaus ergeben sich aus ihnen weit reichende ethische Implikationen dazu, wie wir mit Insekten im Labor und in der freien Natur umgehen sollten.
Keine Automaten
Lange Zeit herrschte die gängige Lehrmeinung, Insekten agierten als reine Reflexmaschinen: als Geschöpfe, die weder denken noch fühlen können und deren Verhalten ausschließlich fest verdrahteten Mustern folgt. Ab den 1990er Jahren machten Wissenschaftler jedoch erstaunliche Entdeckungen über den Verstand von Insekten – nicht nur bei Bienen. So erkennen die Individuen einiger Wespenarten die Gesichter ihrer Nestgenossinnen wieder und verfügen über beeindruckende soziale Fähigkeiten (siehe »Spektrum« Oktober 2014, S. 32). Durch bloßes Beobachten miteinander kämpfender Wespen sind sie in der Lage, die Kampfkraft jener Tiere im Vergleich zu ihrer eigenen einzuschätzen. Ameisen retten verschüttete Stockgenossinnen, indem sie ausschließlich nach verborgenen Körperteilen graben; offenbar leiten sie deren Körperumfang lediglich anhand der oberflächlich sichtbaren Teile ab. In virtueller Realität versunkene Fliegen registrieren das Verstreichen von Zeit. Auf einer Leiter emporkletternde Heuschrecken können die Sprossenabstände abschätzen und ihre Schrittweite entsprechend anpassen – selbst wenn das Zielobjekt danach vor ihnen verborgen wird.
Angesichts der Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten über die Geistesgaben von Insekten mutet es geradezu erstaunlich an, dass es so lange dauerte, bis Forscher sich fragten: Wenn manche Sechsbeiner schon so clever sind, besitzen sie vielleicht auch die Fähigkeit, etwas zu empfinden? Tatsächlich kreiste diese Frage bereits seit Jahrzehnten in meinem Hinterkopf. Anfang der 2000er Jahre begann ich damit, sie in den Gruppentutorien meiner Studentinnen und Studenten zur Diskussion zu stellen. Ich sah es als eine zum Nachdenken anregende intellektuelle Übung an, doch die Debatten endeten jedes Mal unweigerlich mit der Schlussfolgerung, dass die Frage formal nicht zu beantworten sei. Wir haben keinen unmittelbaren Einblick in die innere Welt eines Tiers, das seine Gedanken und Gefühle nicht verbal kommunizieren kann – was ja praktisch auf alle nichtmenschlichen Tiere zutrifft. Die Frage nach der Empfindungsfähigkeit von Insekten blieb somit rein akademisch.
Gestresste Hummeln
Der Praxisbezug dieser Frage wurde mir erst klar, als ich vor mehr als 15 Jahren zusammen mit Thomas Ings, der heute an der britischen Anglia Ruskin University lehrt, ein Experiment durchführte. Dabei testeten wir, ob die zu den Bienen gehörenden Hummeln etwas über die Bedrohung durch Fressfeinde lernen können. Krabbenspinnen lauern auf Blüten, um bestäubende Insekten wie etwa Bienen zu fangen. Wir konstruierten ein Plastikspinnenmodell mit einem Mechanismus, der eine Erdhummel (Bombus terrestris) kurzzeitig zwischen zwei Schaumstoffbacken einklemmte und dann wieder frei ließ. Nach dem Angriff einer solchen Roboterspinne änderten die Hummeln ihr Verhalten grundlegend. Es überrascht womöglich wenig, dass sie lernten, von Spinnen belagerte Blüten zu meiden, und jede Blume vor einer Landung akribisch abscannten. Eigenartigerweise flohen sie manchmal sogar vor imaginären Bedrohungen: Sie suchten eine völlig sichere, spinnenfreie Blüte zunächst ab und verließen sie dann sofort wieder. Eine derartige Fehlalarmreaktion ähnelt den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung beim Menschen. Obwohl diese Zufallsbeobachtung keinen formellen Beweis für einen emotionsähnlichen Zustand darstellt, rückte sie die Wahrscheinlichkeit solcher Phänomene bei Insekten durchaus in den Bereich des Möglichen.
Laut anderen Forschungsarbeiten können Insekten außerdem positive Gemütszustände haben. Viele Pflanzen enthalten bittere Substanzen wie Nikotin oder Koffein, was sie vor herbivoren Tieren schützt; in geringen Konzentrationen sind derartige Stoffe auch im Nektar mancher Blüten zu finden. Das wirft die Frage auf, ob bestäubende Insekten womöglich von solchen Blütensäften abgeschreckt werden. Untersuchungen dazu brachten allerdings das Gegenteil an den Tag: Vor die Wahl gestellt, entscheiden sich Bienen bevorzugt für nikotin- oder koffeinreichen Nektar und führen bei Krankheit eine Art Selbstmedikation mit Nikotin durch. Wegen mangelnder Fortpflanzungsgelegenheiten gestresste Taufliegenmännchen favorisieren alkoholhaltiges Futter wie natürlicherweise vergärendes Obst, und Bienen zeigen sogar Entzugserscheinungen, wenn sie von Alkohol entwöhnt werden.
Warum sollten Insekten bewusstseinsverändernde Substanzen zu sich nehmen, wenn sie kein Bewusstsein besitzen?
Warum sollten Insekten bewusstseinsverändernde Substanzen zu sich nehmen, wenn sie kein Bewusstsein besitzen, das sie verändern können? Doch all diese Hinweise auf negative oder positive Gemütszustände reichten noch immer nicht aus, um zu beweisen, dass Insekten fühlende Wesen sind.
Freud und Leid
Wie könnte man emotionsähnliche Zustände bei Insekten nachweisen? Zur Beurteilung des seelischen Wohlbefindens von Labortieren wie Ratten sind Tests zur so genannten kognitiven Verzerrung (»cognitive bias«) entwickelt worden. Sie stützen sich im Wesentlichen auf das sprichwörtliche zur Hälfte gefüllte Wasserglas: Optimistische Menschen betrachten es als fast voll, während Pessimisten es als fast leer ansehen. Meine Mitarbeiter und ich beschlossen, einen ähnlichen Test für unsere Versuchstiere zu kreieren.
Wir trainierten Hummeln darauf, beim Anblick der Farbe Blau eine Belohnung in Form einer Zuckerlösung zu erwarten, während sie bei Grün leer ausgingen; bei einer anderen Hummelgruppe war es umgekehrt. Anschließend präsentierten wir den Tieren die Farbe Türkis – eine Mischung aus Blau und Grün. Unmittelbar davor erhielt eine Teilgruppe eine unerwartete Zuckerration, eine andere nichts. Die Reaktion der Tiere auf den zweideutigen Farbreiz hing von der dem Experiment vorangegangenen Belohnung ab: Jene Hummeln, die zuvor einen süßen Leckerbissen genossen hatten, näherten sich der Mischfarbe Türkis schneller als ihre Artgenossinnen, die keine angenehme Überraschung bekommen hatten.
Diesen Ergebnissen zufolge waren die Hummeln durch die überraschende Belohnung vermutlich in eine optimistische Gemütslage versetzt worden, woran der Neurotransmitter Dopamin beteiligt ist. Ihr Zustand machte sie gewissermaßen aufgeschlossener gegenüber einem zweideutigen Reiz: Auf die Mischfarbe reagierten sie wie auf die Farbe, auf die sie zuvor trainiert worden waren. Darüber hinaus erwiesen sich die Hummeln durch die optimistische Gemütslage – ähnlich wie wir Menschen – als widerstandsfähiger gegenüber aversiven Reizen: Nach einer unerwarteten Zuckergabe erholten sie sich rascher von einem Überfall durch einen künstlichen Fressfeind und begannen schneller wieder mit der Nahrungsaufnahme als ihre Artgenossinnen, die vor dem simulierten Angriff keine Zuckerlösung erhalten hatten.
Ballspiele unter Sechsbeinern
Weitere Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass Bienen nicht nur Optimismus, sondern auch Freude empfinden können. 2017 hatten wir Hummeln darauf trainiert, kleine Kugeln ins Zentrum einer Versuchsarena zu rollen, um eine Nektarbelohnung zu erhalten – eine Art der Objektmanipulation wie bei einer Münze, die wir in einen Warenautomaten einwerfen. Bei den Experimenten fiel uns etwas Unerwartetes auf: Einige Tiere rollten die Bälle auch ohne Belohnung herum. Konnte es sein, dass die Hummeln spielten?
Tatsächlich konnten wir 2022 diese Vermutung experimentell bestätigen. Wir steckten eine Hummelkolonie in einen Holzkasten mit bunten Kugeln. Dazwischen führte ein unversperrter Pfad zu einer Station mit frei verfügbarem Zucker und Pollen. Auf ihrem Weg zur Futterstelle machten einige Hummeln extra einen Umweg und flogen immer wieder zur »Spielecke«, wo sie die beweglichen Kugeln oft für längere Zeit in alle Richtungen hin und her rollten, obwohl ganz in der Nähe reichlich Futter für sie bereitstand (siehe »Tierischer Spaß«). Das Ballspiel schien den Tieren offenbar großes Vergnügen zu bereiten. Übereinstimmend mit Befunden von spielenden Wirbeltieren beschäftigten sich junge Hummeln öfter mit den Bällen als ältere. Außerdem spielten die Männchen, die ja nicht für die Kolonie arbeiten und deshalb mehr Zeit haben, häufiger als die Weibchen. Diese amüsant anmutende Beobachtung liefert einen weiteren Beleg dafür, dass es positive emotionsähnliche Zustände bei Bienen gibt.
Schmerzhafte Erfahrungen
Die gesammelten Forschungsergebnisse werfen nun aber die unbequemere Frage auf, ob Insekten vielleicht auch in der Lage sind, Schmerzen zu spüren. Eine experimentelle Untersuchung dieser Angelegenheit bringt Wissenschaftler in ein moralisches Dilemma: Fällt das Ergebnis positiv aus, könnten solche Forschungsarbeiten zwar das Wohlergehen von Billionen frei lebender oder als Nutztiere gehaltener Insekten verbessern, doch für den Beweis müssten die dabei getesteten Individuen leiden. Wir entschlossen uns daher zu einem Experiment mit nur mäßig unangenehmen, ungefährlichen Reizen und überließen den Tieren die Entscheidung, ob sie sich ihnen aussetzen wollten oder nicht.
Das Ballspiel schien den Hummeln großes Vergnügen zu bereiten
Wir boten Hummeln zwei Typen künstlicher Blüten zur Auswahl: Die einen waren auf 55 Grad Celsius erwärmt worden (etwas weniger heiß als eine Tasse Kaffee), die anderen nicht. Zudem variierten wir die Belohnungen, mit denen wir die Tiere zu den Blüten lockten. Bei gleicher Futterration für beide Blütensorten mieden sie eindeutig die erhitzten Exemplare. Für sich genommen könnte eine solche Reaktion als ein einfacher Reflex interpretiert werden, ohne eine schmerzhafte »Autsch«-Erfahrung. Ein wesentliches Kennzeichen des Schmerzes beim Menschen besteht allerdings darin, dass es sich nicht nur um eine automatische, reflexartige Reaktion handelt. Man könnte ja auch die Zähne zusammenbeißen und das unangenehme Gefühl aushalten, wenn im Anschluss eine Belohnung wartet. Wie sich herausstellte, verfügen Hummeln über genau diese Art von Flexibilität: Wartete an den erwärmten Blüten eine üppigere Mahlzeit, landeten die Hummeln bevorzugt dort – offensichtlich fanden sie es der Mühe wert, das Unbehagen zu ertragen. Für ein solches Abwägen war ein zeitgleiches Einwirken der Reize nicht nötig. Selbst als Hitze und Belohnung aus dem Versuchsansatz entfernt wurden, beurteilten die Insekten die Vor- und Nachteile jeder Blütensorte aus dem Gedächtnis und waren folglich in der Lage, gedankliche Vergleiche zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu ziehen.
Dieses Resultat allein stellt zwar noch keinen maßgeblichen Beweis für Schmerzempfinden bei Hummeln dar, passt jedoch zu solch einer Vorstellung und liefert immerhin einen Anhaltspunkt. Bienen und andere Insekten behalten auch die Umstände, unter denen sie verletzt wurden, im Gedächtnis. Außerdem verfügen sie über spezialisierte Sinneszellen, die Gewebsverletzungen detektieren und mit Hirnregionen verknüpft sind, wo noch andere sensorische Stimuli verarbeitet und gespeichert werden. Diese Lebewesen verfügen somit über die erforderliche neuronale Ausstattung, um Schmerzerfahrungen mit Hilfe einer Top-down-Verarbeitung zu modulieren. Das heißt, sie werden in ihrer Antwort auf schädliche Reize nicht durch einfache Reflexbögen eingeschränkt, sondern agieren flexibel genug, um ihre Reaktionen den aktuellen Gegebenheiten anzupassen – so wie wir uns dafür entscheiden können, einen glühend heißen Türgriff herunterzudrücken, um aus einem brennenden Haus zu rennen.
Diese Lebewesen verfügen über die erforderliche neuronale Ausstattung für Schmerzerfahrungen
Kritiker mögen nun einwenden, man könne jede der eben beschriebenen Verhaltensweisen auch einem Roboter ohne jegliches Bewusstsein einprogrammieren. Warum sollte aber die Natur Geschöpfe hervorbringen, die ihre Empfindungsfähigkeit nur vortäuschen? Obwohl noch immer ein allgemein anerkannter experimenteller Beweis fehlt, gebietet uns der gesunde Menschenverstand angesichts der sich häufenden Zahl von Indizien anzunehmen, dass Tiere Schmerz empfinden können. Wenn zum Beispiel ein Hund mit einer verletzten Pfote winselt, sich die Wunde leckt, humpelt, den Ort des Geschehens meidet und ein ihm angebotenes Schmerzmittel annimmt, haben wir berechtigten Grund zu der Annahme, dass der Vierbeiner tatsächlich gerade etwas Unangenehmes erlebt.
Unter Zugrundelegung einer ähnlichen Logik durchforsteten meine Kollegen und ich die Literatur und gingen hunderte diverse Insektenordnungen umfassende Studien nach Hinweisen auf ein Schmerzempfindungsvermögen durch. In einer Reihe von Taxa stießen wir zumindest auf hinreichend starke Belege dafür, etwa bei Schaben und Taufliegen. Bezeichnenderweise entdeckten wir keinerlei Indizien dafür, dass irgendeine Spezies die Kriterien für schmerzähnliche Erlebnisse nicht überzeugend erfüllte. In vielen Fällen hatten die Wissenschaftler wohl nur nicht sorgfältig genug auf Anzeichen von Unbehagen bei ihren Versuchstieren geachtet.
Eine ethische Verpflichtung
Wenn zumindest einige Insekten ein Empfindungsvermögen aufweisen und Schmerz fühlen können, was ja der Fall zu sein scheint, welche Implikationen ergeben sich dann daraus? »Heißt das, ich darf keine Mücke mehr auf meinem Arm totschlagen, selbst wenn sie mich vielleicht mit einer lebensgefährlichen Krankheit infiziert?«, werde ich manchmal gefragt. Nein, das heißt es nicht. Die Erkenntnis, dass viele unserer konventionellen Nutztiere womöglich fühlende Wesen sind, hält uns gleichfalls nicht davon ab, sie zu töten. Doch sie förderte eine Sensibilisierung (und in zahlreichen Ländern eine entsprechende Gesetzgebung) dafür, das Töten in einer Weise zu vollziehen, in der Stress und Schmerzen auf ein Minimum begrenzt werden. Tritt der Tod unmittelbar ein, etwa beim Erschlagen einer Mücke, bleibt dem Tier wenig Gelegenheit zu leiden. Setzt man dagegen Ameisen mit Hilfe einer Lupe in Brand, wie es Kindern mitunter »zum Spaß« gezeigt wird, sieht die Sache ganz anders aus.
Wir entdeckten keine Indizien dafür, dass irgendeine Spezies die Kriterien für schmerzähnliche Erlebnisse nicht überzeugend erfüllte
Die Arbeit in Forschungslaboren muss hierbei ebenfalls überdacht werden. Insekten übertragen einige der für den Menschen gefährlichsten Krankheiten; wissenschaftliche Studien zu deren Eindämmung und Bekämpfung bleiben daher zweifellos wichtig. Gleichfalls werden Arzneien zur Behandlung zahlreicher Gesundheitsstörungen des Menschen entwickelt, indem man die molekulargenetischen und neurobiologischen Grundlagen dieser Leiden an Kerbtieren wie Taufliegen erforscht. Forschungsförderer ermuntern Wissenschaftler oft, mit Insekten an Stelle von Wirbeltieren zu arbeiten – unter anderem auch, weil das ethisch problemlos möglich sei. Einige der eingesetzten Untersuchungsmethoden dürften jedoch extremen Stress bei den Versuchstieren auslösen. So werden sie mitunter, nachdem man ihre Extremitäten entfernt hat, in heißes Wachs eingebettet, danach öffnet man ihre Kopfkapseln und führt Elektroden in verschiedene Hirnteile ein – alles ohne Betäubung.
Wissenschaftler, mit denen ich über dieses Thema diskutierte, entgegneten mir manchmal, wir hätten noch immer keinen unwiderlegbaren Beweis dafür erbracht, dass Insekten tatsächlich leiden. Das ist zwar sachlich richtig, aber wäre es nicht besser, wenn wir angesichts der uns vorliegenden plausiblen Hinweise auf Schmerzerfahrungen sicher sein könnten, dass bestimmte invasive Verfahren tatsächlich kein Leid verursachen? An dieser Frage muss dringend weiter geforscht werden, ebenso wie an der Identifizierung und Entwicklung adäquater Betäubungsmittel.
Insektenforscher sollten mit gutem Beispiel vorangehen und sich Methoden überlegen, die das Leid ihrer Versuchstiere minimieren
Einige meiner Kollegen befürchten, ihre Arbeit mit Insekten könnte durch neue Vorschriften und Formalitäten, wie sie auch für Wirbeltiere gelten, behindert werden. Ich kann ihre Sorgen durchaus nachvollziehen. In der Politik neigt man dazu, gut gemeinte Empfehlungen von Wissenschaftlern in bürokratische Albträume zu verwandeln, die den wissenschaftlichen Fortschritt blockieren und dem Tierwohl keinen nennenswerten Vorteil bringen. Vermutlich wäre es sinnvoller, wenn die Insektenforscher selbst mit gutem Beispiel vorangingen und sich Methoden überlegten, die das Leid ihrer Versuchstiere minimieren, die Zahl der untersuchten oder getöteten Individuen möglichst verringern und sicherstellen, dass die Schwere eines Eingriffs im Verhältnis zum Erkenntnisgewinn steht – sowohl in der von Neugier getriebenen als auch in der angewandten Forschung.
Insekten auf dem Tisch?
In weitaus größerem Maßstab als in der Forschung werden Insekten allerdings in der Nahrungs- und Futtermittelindustrie verwendet. Über eine Billion Grillen, Fliegen und Mehlwürmer werden dabei jährlich getötet, und die Branche wächst rapide. Die oft als Ersatz für Wirbeltierfleisch in der menschlichen Ernährung gepriesene Insektenzucht gilt als umweltfreundliche Alternative zur konventionellen Nutztierhaltung. Ein weiterer vermeintlicher Vorteil rührt von der Annahme her, bei Insekten bestünden anders als bei Rindern oder Hühnern angeblich keinerlei ethische Bedenken. Tatsächlich werben einige Insektenzuchtbetriebe gezielt mit der Behauptung, ihren Tieren fehle jegliches Schmerzempfindungsvermögen.
Für alle bislang getesteten Insektenarten ist diese Behauptung nachweislich falsch. Die Wissenschaft lehrt uns, dass die Tötungsmethoden in der Insektenzucht – backen, kochen oder in der Mikrowelle erhitzen – enormes Leid für die Tiere bedeuten können. Darüber hinaus werden sie keineswegs einer sinnvollen Sache geopfert: Die Mehrzahl der Insektenzuchtbetriebe trachtet in Wirklichkeit nicht danach, das von uns Menschen konsumierte Wirbeltierfleisch durch Kerbtiere zu ersetzen. Stattdessen werden die meisten der getöteten Insekten an andere für den menschlichen Verzehr gezüchtete Tiere wie Lachse oder Hühner verfüttert. Kurz gesagt: Die Insektenzucht dient nicht als Ersatz, sondern als Turboantrieb für die konventionelle Tierproduktion.
Doch selbst wenn der Ersatz von Wirbeltierfleisch das Ziel wäre, bräuchten wir wissenschaftliche Belege dafür, was humane Tötungsmethoden und ethisch vertretbare Zuchtbedingungen eigentlich bedeuten. Vielleicht gelangt man dabei zu der Erkenntnis, dass die Larvenstadien einiger Insekten weniger stark leiden als die ausgewachsenen Individuen. Aber bis uns derartige Belege vorliegen, sollten wir lieber auf Nummer sicher gehen.
Das Sterben der Bienen
Leider ist auch eine vegetarische oder vegane Ernährung nicht unbedingt frei von ethischen Bedenken hinsichtlich des Wohlergehens der Insekten. Viele von ihnen teilen unsere Vorliebe für die Blätter, Wurzeln, Knollen oder Früchte von Nahrungspflanzen. Um die Produktion von billigen Lebensmitteln bei maximalem Gewinn zu optimieren, werden Jahr für Jahr weltweit mehrere Millionen Tonnen Pestizide ausgebracht. Die Chemikalien vergiften und töten zahllose Insekten (und viele andere Tiere) oftmals in schleichenden, sich über mehrere Tage hinziehenden Prozessen.
Die negativen Auswirkungen der als Neonikotinoide bekannten Insektizide sind bei Bienen inzwischen gut dokumentiert. Obwohl die Konzentrationen in Blütennektar und Pollen normalerweise zu gering sind, um unmittelbar tödlich zu wirken, beeinträchtigen die Stoffe Lernvermögen, Orientierungssinn, Effizienz der Futtersuche und Fortpflanzungserfolg – mit besonders schwer wiegenden Folgen für die Wildbienenpopulationen. Dieser Kollateralschaden ist Besorgnis erregend, weil Bienen als Nützlinge wertvolle Dienste für uns Menschen leisten: Sie bestäuben unsere Garten- und Nahrungspflanzen (siehe »Spektrum« Mai 2019, S. 12). Doch die Pestizide sind auch in der Lage, großes Leid bei Bienen und anderen Insekten hervorzurufen – ein weiterer Grund, deren Verwendung zu verbieten oder zumindest stark einzuschränken.
Insbesondere Bienen werden durch die Praktiken der kommerziellen Bestäubung zusätzlich gestresst: Die Massenproduktion von Himbeeren, Blaubeeren, Äpfeln, Tomaten, Melonen, Avocados und anderem Obst oder Gemüse ist auf Bienen und Hummeln angewiesen, die ihrerseits von kommerziellen Großimkereien aufgezogen, vermehrt, bewirtschaftet und an weit entfernte Orte transportiert werden, um die dortigen Pflanzen zu bestäuben.
Die Herstellung von Mandelmilch, einer beliebten Alternative zur Kuhmilch, hängt in hohem Maß von der kalifornischen Mandelblüte ab, einem der größten kommerziellen Bestäubungsereignisse der Welt: Während der Blütezeit der Mandelbäume laden Wanderimker mehr als die Hälfte der Honigbienen Nordamerikas (etliche Dutzend Milliarden Individuen) auf Lastwagen, um sie zu den über 300 000 Hektar großen Monokulturen in Kalifornien zu transportieren und anschließend wieder an ihren ursprünglichen Standort oder zu anderen gerade blühenden Kulturpflanzen zu verfrachten.
Da die betroffenen Geschöpfe womöglich empfindungsfähig sind, haben wir eine moralische Verpflichtung, ihr Leid zu minimieren
Die in den Vereinigten Staaten als »Colony Collapse Disorder« bezeichnete Form des Bienensterbens resultiert nicht nur aus einem Befall mit bestimmten Pathogenen, sondern auch aus skrupellosen Imkereipraktiken, bei denen die Honigbienen buchstäblich zu Tode gestresst werden. Bereits ein kurzes Schütteln ruft bei den Insekten einen pessimistischen emotionsähnlichen Zustand hervor. Man stelle sich nun den Effekt intensiver und lang anhaltender Vibrationen auf die Tiere vor, wenn sie in verschlossenen Stöcken über den ganzen Kontinent transportiert werden, künstliche Nahrung erhalten, ihren Kot nicht außerhalb des Stocks absetzen können und sich dann in Monokulturen ohne die für sie lebenswichtige Blütenvielfalt wiederfinden. Die schädlichen Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem wurden bei verschiedenen Tierarten, einschließlich Insekten, eingehend untersucht. Bei wirbellosen Lebewesen ging man früher davon aus, Stress wirke ausschließlich physiologisch – so wie eine Pflanze ohne Wasser verwelkt. Die Möglichkeit, dass er bei Insekten zumindest in Teilen psychologischer Natur sein kann, verdient daher weitere Erforschung.
Um zu überleben, töten wir nahezu zwangsläufig andere Lebewesen, auch wenn unsere Arbeitsteilung dazu geführt hat, dass wir das nicht eigenhändig erledigen müssen. In Anbetracht dessen, dass die betroffenen Geschöpfe womöglich empfindungsfähig sind, haben wir allerdings eine moralische Verpflichtung, ihr Leid zu minimieren – in der Forschung, bei der Zucht sowie in der Landwirtschaft.
Die Tatsache, dass es bis heute keinen endgültigen Beweis für das Empfindungsvermögen irgendeines Tiers gibt, besagt nicht, dass wir diesbezüglich aus dem Schneider sind. Ganz im Gegenteil: Die ziemlich eindeutigen psychologischen, pharmakologischen, neurobiologischen und hormonellen Hinweise, die uns hierzu mittlerweile für zahlreiche Tiere einschließlich einiger Insekten vorliegen, signalisieren, dass es angebracht ist, in entgegengesetzter Richtung nach Indizien zu suchen: Wir sollten hinreichend eindeutige Beweise für das Fehlen von Empfindungen bei Tieren verlangen, bevor wir an ihnen Eingriffe vornehmen, die ihnen unter Umständen großes Leid bereiten.
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