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Insekten: Herr Hörren auf der Suche nach dem Feigen-Spreizflügelfalter

Ein neuer Schädling breitet sich in Europa von Süden nach Norden aus: Choreutis nemorana, der Feigenblätter zum Fressen gern hat. Käferforscher Thomas Hörren will ihn verfolgen.
Die Blätter der Echten Feige (»Ficus carica«) sind die Leibspeise der Raupen des Feigen-Spreizflügelfalters (»Choreutis nemorata«).

Thomas Hörren ist auf der Jagd. Eines seiner Reviere: der Botanische Garten Grugapark in Essen. Bei seinem Besuch protzen saftig grüne Bäume mit Stauden in Regenbogenfarben um die Wette. Prachtvoll leuchten Blüten in Rot, Gelb, Violett. Doch für Hörren sind sie nichts weiter als Wegweiser, hin zu seiner Beute: dem Feigen-Spreizflügelfalter, auch Choreutis nemorana genannt.

»Choreutis nemorana ist ein typischer Gewinner des Klimawandels«, erklärt der 31-Jährige. Er sagt nicht Feigen-Spreizflügelfalter. Stets benennt er Insekten mit ihrem wissenschaftlichen Namen, Gattung und Art. Das sei exakter als ein deutscher Trivialname, findet er. So wissen auch Insektenforscher in Südeuropa, Nordafrika oder Asien – der ursprünglichen Heimat des Nachtfalters –, von welchem Tier er spricht.

Hörren ist Käferforscher, also Koleopterologe. Ihn interessiert alles, was mindestens sechs Beine hat, egal ob Wanze oder Pseudoskorpion. Zuletzt aber besonders besagter Schmetterling. Auf Instagram hatte er gelesen, dass Raupen des Feigen-Spreizflügelfalters in Nordrhein-Westfalen gesichtet wurden. Das wäre eine Premiere für das Bundesland und damit etwas, was Forscher wie Hörren mit eigenen Augen sehen und überprüfen wollen.

Denn sollte Choreutis nemorana deutschlandweit heimisch werden, sind Feigenbäume in Gefahr. Ihre Blätter sind die Leibspeise der Schmetterlinge.

Die Feigen-Spreizflügel-Raupe ist nimmersatt

»In ein paar Jahren werden die Feigenbäume in Deutschland aussehen wie Buchsbaumhecken nach dem Buchsbaumzünsler«, sagt Hörren überzeugt. Ursache dafür ist nicht der ausgewachsene Schmetterling, sondern seine Raupe – walzenförmig, gelb-grün mit schwarzen und weißen Punkten – mit ihrem unstillbaren Appetit auf Feigenblätter.

Zunächst vorsichtig, nur an der Oberfläche, schabt die Raupe Blattzelle für Blattzelle ab, bis ein trübes Fensterchen den Blick durch das Feigenblatt frei gibt. Wie dicke Schmeißfliegen am Küchenfenster wirken die schwarzen Köttel, die an den Fraßstellen zurückbleiben. Manchmal zerbrechen die fragilen Fensterchen auch, wenn große und kleine Schmetterlingslarven gleichzeitig nagen. Um sich zu schützen, weben diese ein zartes Gespinst aus Seidenfäden, unter dessen Zug sich die Blätter bisweilen krümmen.

Choreutis nemorana | Die Raupen des Feigen-Spreizflügelfalters haben großen Appetit auf Blätter von Feigenbäumen.

Vom Haupteingang des Parks bis zu den Gewächshäusern ist es knapp ein Kilometer, aber Hörren nimmt nicht den direkten Weg. Vielmehr biegt er mal hier, mal dort ab, durchstreift das Waldtal und üppige Staudenbeete. Wenn er schon einmal hier ist, kann er direkt nach weiterer Beute Ausschau halten, Käfern oder Wildbienen zum Beispiel. Suchend wandern seine Augen von Blatt zu Blüte und wieder zurück, scannen Pflanze für Pflanze ab, wie die Kamera am Glasflaschen-Fließband beim Aufspüren feinster Risse. Währenddessen referiert er weiter über Choreutis nemorana.

Nach jetziger Kenntnis erreichte der unscheinbare Feigen-Spreizflügelfalter die Bundesrepublik erstmals vor etwa 15 Jahren. Von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg aus wandert er seitdem Jahr für Jahr weiter Richtung Norden, der Wärme und den Feigenbäumen hinterher. Bislang setzen die Raupen vor allem in milden Weinbauregionen den Blättern – gelegentlich auch den Früchten – zu.

Steckbrief: der Feigen-Spreizflügelfalter (Choreutis nemorana)

Der Feigen-Spreizflügelfalter ist 16 bis 20 Millimeter groß, braun mit geschwungenen Bändern aus weißen und schwarzen Punkten auf den Vorderflügeln. Am pelzig-grauen Kopf entspringen zwei schwarz-weiß gestreifte Fühler; die Beine sind weiß mit dunklen Markierungen.

Im zeitigen Frühjahr legen die Falter auf der Blattoberseite der Echten Feige (Ficus carica) ihre Eier ab, aus denen wenig später Raupen schlüpfen.

Ausgewachsene Raupen verpuppen sich in einem weißen, seidenen Kokon. Etwa im Juli schlüpft die erste Faltergeneration, eine zweite zwischen September und Oktober. Letztere überwintert.

Choreutis nemorana ist hauptsächlich im Mittelmeerraum verbreitet. Seit mehr als 15 Jahren mehren sich aber Beobachtungen in Österreich, Schweiz, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland. Gründe dafür sind vermutlich die Klimaerwärmung sowie die Kultur von Feigenbäumen in diesen Ländern.

Der Schaden an den Bäumen ist bislang gering. Anders als der durch den Buchsbaumzünsler, der eingeschleppte Kleinschmetterling aus Ostasien, der selbst jahrhundertealte Buchsbaumwälder in braune, tote Pflanzengerippe verwandelt. Dennoch wird der Feigen-Spreizflügelfalter so manchen Feigenbaum seine Blätter kosten. Die Zeit ist auf der Seite des Neuankömmlings, und mit jedem Jahr gibt es Sichtungen weiter nördlich im Land, was künftige Feigenernten gefährdet.

Die natürlichen Feinde hat Choreutis nemorana in seiner Heimat zurückgelassen. Heimische Vögel und Raubinsekten müssen erst lernen, dass ein neuer Falter den Speiseplan bereichert. Eine entscheidende Frage: Tun sie es schnell genug?

Thomas Hörren | Der Koleopterologe ist Mitglied der Krefelder Insektenforscher. Aufsehen erregte der Verein 2017 mit einer Langzeitstudie zum Insektenschwund. Im September 2021 bekam Hörren die Auszeichnung »Volunteer for Future« und ist damit für den Deutschen Engagement-Preis 2022 nominiert.

Mit Choreutis nemorana haben es Forscher nicht leicht

Die Suche nach Choreutis nemorana ist aufwändig. Die meisten der mehr als 33 000 in Deutschland bekannten Insektenarten lassen sich nur nach ausgiebiger Untersuchung eindeutig bestimmen. Hier ein verstecktes Zähnchen am dritten Beinglied, dort ein zusätzlicher Farbklecks – Artenbestimmer brauchen Ausdauer sowie gute Augen. Und jede Menge Fachliteratur. Mehr als 2400 Bücher habe er in seiner Wohnung, erzählt Hörren, außerdem etwa 16 000 Kopien und Sonderdrucke. 70 000 Insekten habe er so schon präpariert und bestimmt. Die meisten lagern in der Sammlung des Entomologischen Vereins Krefeld in durchsichtigen Kunststoffboxen, auf Nadeln gesteckt oder auf kleine Papierstreifen geklebt und beschriftet. So warten sie darauf, dass hin und wieder ein Forscher sie betrachtet und mit neuen Funden vergleicht. Einige sind aber auch stumme Zeugen vergangener Tage, denn in freier Wildbahn sind sie ausgestorben.

Gleichzeitig drängen Neozoen, also tierische Neubürger, als anpassungsfähige Generalisten nach Deutschland. Sie zu beobachten, ist auch eine Aufgabe des Käferforschers.

Wie steht es um die Insekten in Deutschland?

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Biomasse an Insekten in den Fallen von Ökologinnen und Ökologen drastisch zurückgegangen. Einzelne Ausreißer nach oben in den Daten können dabei über den allgemeinen Trend nicht hinwegtäuschen: Deutschlands Insekten schwinden.

Einen Beleg für das gesamtdeutsche Artensterben, für den Verlust von Biodiversität, hatte im Jahr 2017 eine Veröffentlichung im Magazin »PLOS ONE« geliefert, an der auch Käferforscher Thomas Hörren beteiligt war. Das Ergebnis der vom Entomologischen Verein Krefeld zuerst vorgestellten Zahlen: Innerhalb von 30 Jahren hat die Masse an Fluginsekten in Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg um etwa 75 Prozent abgenommen.

Die Roten Listen bedrohter Arten weisen einen zunehmenden Anteil an Insektenspezies aus allen untersuchten Ordnungen auf. Etwa die Hälfte aller erfassten Arten gelten als bedroht, bei Wildbienen und Hummeln sind es sogar rund zwei Drittel.

Schließlich erblickt Hörren in der Nähe der Tropenhäuser einen der gesuchten Feigenbäume. Blatt für Blatt schaut er sich den unteren Teil des fast vier Meter hohen Gewächses an. Nichts. Ein Stück weiter findet er einen zweiten, sucht weiter nach der Schmetterlingsraupe. Aber die Feigen im Grugapark strotzen vor Kraft. Nicht mal kleinste Fraßspuren deuten auf die Anwesenheit des Feigen-Spreizflügelfalters hin. »Da muss ich wohl noch mal woanders schauen«, resümiert Hörren knapp. Enttäuscht ist er nicht. So ist eben das Forscherleben.

Zweieinhalb Monate später, im September 2021, dann die Nachricht: »Schaut mal auf eure Feigen! Es gibt gerade einen neu einwandernden kleinen Schmetterling, den Feigen-Spreizflügelfalter Choreutis nemorana, wie der Käferforscher auf Twitter verkündet. In Krefeld war er zufällig an einem befallenen Baum vorbeigelaufen. Damit ist der Falter offiziell auch in Nordrhein-Westfalen angekommen.

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