Insekten: Vogelgroße Ameise stellt Forscher vor Rätsel
Die größte bekannte Ameisenart der Erde stammt aus Deutschland – zumindest wurde sie hier 2003 in der hessischen Grube Messel als Fossil gefunden: Die Königinnen der Titanomyrma gigantea wurden mehr als sechs Zentimeter lang und erreichten Flügelspannweiten von rund 15 Zentimetern. Eine ähnlich große Verwandtschaft entdeckten Paläontologen 2011 in Wyoming, was Fragen aufwarf, wie es die Vorfahren vor 50 Millionen Jahren geschafft hatten, auf beiden Seiten des Atlantiks heimisch zu werden. Der Weg von Europa – hier wird der Ursprung vermutet – konnte nur über arktische Landbrücken erfolgen, wo es für die großen Insekten eigentlich zu kalt sein sollte.
Bruce Archibald von der Simon Fraser University in Burnaby und seine Kollegen beschreiben in »The Canadian Entomologist« nun ein weiteres Fossil einer Titanomyrma-Ameise aus British Columbia (B.C.), das die Wissenschaftler vor noch mehr Rätsel stellt. »Diese Ameise und das neue Fossil aus British Columbia haben ein ähnliches Alter wie andere Titanomyrma-Fossilien, die schon lange in Deutschland und England bekannt sind«, sagt Archibald. »Das wirft die Frage auf, wie diese uralten Insekten zwischen den Kontinenten reisen konnten, um auf beiden Seiten des Atlantiks fast zur gleichen Zeit aufzutauchen.« Und mehr noch: Während es in Europa und Wyoming damals während des Eozäns ausreichend warm für große Ameisen war, galt dies nicht für die Hochländer weiter nördlich in Kanada.
Wie heutige Ameisen war die fossile Riesenverwandtschaft sehr wahrscheinlich ektotherm: Sie benötigte also Wärmeenergie aus der Umgebung, um zu überleben. In kalten Klimaten bedeutet das mehr Körperoberfläche im Vergleich zum Körpervolumen. Deshalb sind tropische Ameisen in der Regel deutlich größer als ihre Verwandten in höheren Breitengraden. Die kanadische Titanomyrma könnte diesen Zusammenhang auf die Probe stellen, wenn sie sich tatsächlich als Riese entpuppen sollte. Doch der Versteinerungsprozess ist dem Insekt nicht bekommen. Der geologische Druck hat den Sechsbeiner verformt, so dass seine wahre Größe nicht wirklich bestimmt werden kann. Er könnte gigantisch gewesen sein wie einige der größten Titanomyrma-Königinnen. Er könnte aber unter Umständen bis zu zwei Drittel kleiner ausfallen als das Exemplar aus Wyoming.
»Wenn es sich um eine kleinere Art handelte: Passte sie sich an diese Region mit kühlerem Klima an, indem sie sich verkleinerte? Dann konnten riesige Arten hier nicht existieren, wie wir 2011 vorausgesagt hatten«, überlegt Archibald. »Oder waren sie groß und unsere Vorstellung ihrer Klimatoleranz und damit von der Art und Weise, wie sie die Arktis durchquert haben, war falsch?«
Auch wenn der Atlantik vor 50 Millionen Jahren schmäler war als heute, gehen die Paläontologen davon aus, dass die Ameisen eine Landbrücke nutzen mussten. Sie vermuten bislang, dass ihnen dies während kurzer Phasen gelang, in denen die Durchschnittstemperaturen nochmals höher waren als im ohnehin warmen Eozän. Verschiedene Daten deuten an, dass Treibhausgaspulse in geologisch kurzen Zeiträumen Temperatursprünge von bis zu zehn Grad Celsius auslösten. Sie erwärmten selbst die Arktis so stark, dass große Insekten sie durchqueren konnten.
Sollte sich allerdings herausstellen, dass Titanomyrma tatsächlich ein Gigant war, hätten diese Ameisen eine größere Kältetoleranz als heutige Arten besessen. Ihre Reise durch die Arktis wäre dann auch zu anderen Bedingungen möglich gewesen. Klären könnten dies nur weitere Fossilfunde, schreiben die Wissenschaftler.
Rein ökologisch ist der Fund ohnehin spannend: Denn die großen Ameisen benötigten auch große Mengen an Nahrung. Wahrscheinlich zogen sie ähnlich wie heutige tropische Treiberameisen durch die Regenwälder des Eozäns auf der Suche nach anderen Insekten und kleineren Wirbeltieren.
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