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Institut für Sexualwissenschaft: Die vergessene Geschichte der ersten Trans-Klinik der Welt

Vor mehr als 100 Jahren gründete ein jüdischer Arzt ein Institut für Sexualforschung in Berlin. Er schuf damit einen sicheren Ort für Menschen, die nicht in heterosexuelle oder binäre Kategorien passten. Doch schon 1933 fiel die Klinik in die Hände der Nazis.
Studenten marschieren 1933 vor dem Institut für Sexualwissenschaft in Berlin auf
Studenten marschierten im Jahr 1933 vor dem Institut für Sexualwissenschaft in Berlin auf.

Eines Nachts im Jahr 1899 fand der junge Arzt Magnus Hirschfeld einen Soldaten vor seiner Praxis in Berlin. Der Mann war verstört und aufgeregt. Und dann machte er ein gefährliches Geständnis: Er sei schwul. Der damalige berüchtigte Paragraf 175 im deutschen Strafgesetzbuch hatte Homosexualität für illegal erklärt. Der junge Mann hätte im Gefängnis landen können für sein Bekenntnis. Hirschfeld verstand die Notlage des Soldaten – er war selbst homosexuell und jüdisch. Er tat sein Bestes, um seinen Patienten zu trösten. Aber der Soldat hatte sich bereits entschieden. Es war der Abend vor seiner Hochzeit, ein Ereignis, das er nicht ertragen konnte. Er erschoss sich.

Der Soldat vermachte Hirschfeld seine Aufzeichnungen, zusammen mit einem Brief, in dem er die Hoffnung äußerte, Hirschfeld könne zu einer Zukunft beitragen, »in der das deutsche Vaterland gerechter an uns denkt«. Der Tod des Soldaten verfolgte Hirschfeld sein ganzes Leben. Der Soldat sah sich selbst als »Unglück«, dem Tod geweiht, weil die heterosexuellen Normen für seinesgleichen keinen Platz ließen. Die herzzerreißende Geschichte war für Hirschfeld eine Tragödie, wie er in seinem Buch »Sexualgeschichte der Menschheit« schrieb. Für welches Vaterland sollten homosexuelle Soldaten kämpfen? Hirschfeld gab seine Arztpraxis auf und begann einen Kreuzzug für Gerechtigkeit, der den Lauf der queeren Geschichte verändern sollte.

Hirschfeld wollte sich dem Thema sexuelle Gesundheit widmen. Viele seiner Vorgänger und Kollegen hielten Homosexualität für pathologisch und beriefen sich auf Theorien aus der Psychologie, um zu belegen, dass sie ein Anzeichen für psychische Krankheiten war. Dagegen argumentierte Hirschfeld, eine Person könne mit Eigenschaften geboren werden, die nicht in heterosexuelle oder überhaupt in binäre Kategorien passten. Er unterstützte die Idee, dass ein »drittes Geschlecht« existierte.

Hirschfeld akzeptierte Transgender- und nicht binäre Identitäten

Dazu zählte er Menschen, die er zu jener Zeit als »Transvestiten« bezeichnete: diejenigen, die die Kleidung des anderen Geschlechts tragen wollten oder sich charakterlich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlten. Ein Soldat, mit dem Hirschfeld zusammengearbeitet hatte, beschrieb das Tragen von Frauenkleidung als Chance, »zumindest für einen Moment Mensch zu sein«. Hirschfeld erkannte auch, dass diese Menschen entweder homosexuell oder heterosexuell sein können.

Magnus Hirschfeld | Der jüdische Arzt und Sexualforscher gründete 1919 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin und bot damit Menschen, die nicht in die binären Geschlechterkategorien passten, einen sicheren Ort.

Vielleicht noch überraschender: Hirschfeld ging auch davon aus, dass es Menschen ohne festes Geschlecht gibt – ähnlich dem heutigen Konzept der nicht binären Identität (er zählte zum Beispiel die französische Schriftstellerin George Sand dazu). Am wichtigsten war ihm, dass diese Menschen gemäß und nicht entgegen ihrer Natur handelten. Das war nicht nur zukunftsweisend, sondern womöglich fortschrittlicher als so manch verbreitete Denkweise mehr als 100 Jahre später.

Denn noch heute empfinden einige Menschen Transsexualität als etwas Unnatürliches. Nach einer britischen Gerichtsentscheidung im Jahr 2020, die die Rechte von Transsexuellen einschränkte, forderte ein Leitartikel im »Economist«, andere Länder sollten nachziehen. Ein Artikel im »Observer« lobte das Gericht dafür, dass es sich einem »beunruhigenden Trend« widersetze.

Doch die Geschichte zeugt von jeher von der Pluralität von Geschlecht und Sexualität. Hirschfeld betrachtete Sokrates, Michelangelo und Shakespeare als Vertreter sexueller Zwischenstufen; ebenso seinen Partner Karl Giese und sich selbst. Bereits Hirschfelds Vorgänger in der Sexualwissenschaft, Richard von Krafft-Ebing, hatte im 19. Jahrhundert behauptet, Homosexualität sei eine natürliche sexuelle Variation und angeboren.

Themenwoche »Transgender«

Die Menschheit ist vielfältig. LGBTQIA* versammelt diverse Begriffe für sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten: Lesbisch, schwul, bi, trans, queer, inter, asexuell – das * lässt Raum für Weiteres. Jedes Jahr im Juni feiert sich die Community auf verschiedene Weise. Zum Auftakt des »Pride Month« widmet sich »Spektrum.de« dem Thema »Transgender« in der Woche vom 30. Mai bis 3. Juni 2022 mit folgenden Inhalten:

Die wesentlichen Texte zum Thema »Sex und Gender – Es gibt mehr als zwei Geschlechter« finden Sie hier auf unserer Sammelseite.

Hirschfelds Forschung über sexuelle Zwischenstufen war mehr als nur eine Modeerscheinung. Sie folgte vielmehr der Erkenntnis, dass Menschen mit einer Natur geboren werden können, die ihrem zugewiesenen Geschlecht widerspricht. Und sollte der Wunsch, als das andere Geschlecht zu leben, sehr stark sein, dann sollte die Wissenschaft das ermöglichen, fand Hirschfeld. Anfang 1919 < https://mh-stiftung.de/news/ a href="https://mh-stiftung.de/biografien/magnus-hirschfeld/" target="_blank">kaufte er eine Berliner Villa und eröffnete dort am 6. Juli das Institut für Sexualwissenschaft. Bereits 1930 sollten die ersten Geschlechtsumwandlungen durchgeführt werden.

Die Trans-Klinik: Ein Ort der Sicherheit

Als Eckgebäude mit Flügeln zu beiden Seiten war das Institut für Sexualforschung in Berlin ein architektonisches Juwel, das ebenso professionelle wie heimelige Räume beherbergte. Ein Journalist berichtete damals, es könne kein wissenschaftliches Institut sein, denn es sei plüschig und »überall voller Leben«. Hirschbergs erklärtes Ziel war es, einen Ort der »Forschung, Lehre, Heilung und Zuflucht« zu schaffen, der »von körperlichen Leiden, psychischen Beschwerden und sozialer Entbehrung befreien kann«.

Das Institut wurde zu einem Ort der Bildung. Während seines Medizinstudiums musste Hirschfeld zusehen, wie ein schwuler Mann nackt vor der Klasse vorgeführt und als degeneriert beschimpft wurde. Später bot er stattdessen Sexualaufklärung an, Beratung zur Empfängnisverhütung und anthropologische sowie psychologische Forschung zu Geschlecht und Sexualität.

»Die Liebe ist so vielfältig wie die Menschen«Magnus Hirschfeld, Arzt

Er arbeitete unermüdlich daran, den Paragrafen 175 zu kippen. Und weil das nicht klappte, erstritt er für seine Patienten und Patientinnen staatlich akzeptierte »Transvestiten«-Personalausweise, die einer Festnahme vorbeugen sollten. Auf dem Gelände befanden sich auch Büroräume für feministische Aktivistinnen sowie eine Druckerei für Zeitschriften zur Sexualreform, die über Mythen zur Sexualität aufklärten. »Die Liebe«, sagte Hirschfeld, »ist so vielfältig wie die Menschen.«

Das Institut beherbergte überdies eine große Bibliothek zum Thema Sexualität, die seltene Bücher und Protokolle für den chirurgischen Übergang von Mann zu Frau (MTF) enthielt. Neben Psychiatern hatte Hirschfeld den Gynäkologen Ludwig Levy-Lenz engagiert. Zusammen mit dem Chirurgen Erwin Gohrbandt führte dieser eine Operation von Mann zu Frau durch, eine so genannte Genitalumwandlung. Den Patienten wurde auch eine Hormontherapie verschrieben, die für natürliche Brüste und weichere Gesichtszüge sorgen sollte.

Nazis zerstörten die Klinik und verbrannten Bücher

Die Studien des Zentrums erregten internationale Aufmerksamkeit. Trotzdem hatten die Betroffenen Probleme, anerkannt zu werden. Nach der Operation hatten beispielsweise einige Transfrauen Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Deshalb wurden schließlich fünf von ihnen am Institut selbst beschäftigt. Auf diese Weise versuchte Hirschfeld ihnen einen sicheren Raum zu geben – und sie manchmal auch vor dem Gesetz zu schützen.

Heute sind viele überrascht, dass es bereits 1919 ein Institut gab, das die Vielfalt der Geschlechteridentität anerkannte und Betroffene unterstützte. Es hätte das Fundament für eine mutigere Zukunft sein können. Doch als das Institut sein zehnjähriges Bestehen feierte, war die NSDAP bereits auf dem Vormarsch. Adolf Hitler wurde am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt und verkündete, Deutschland von lebensunwertem Leben befreien zu wollen. Das führte zur Ermordung von Millionen Menschen, darunter auch Homosexuelle und Transgender-Personen.

Verlorene Schätze der Sexualforschung | Eine der ersten und größten Bücherverbrennungen der Nazis zerstörte die Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin.

Als die Nazis am 6. Mai 1933 das Institut überfielen, war Hirschfeld außer Landes. Sein Partner Karl Giese floh und nahm einige wenige Kostbarkeiten mit. Soldaten verbrannten mehr als 20 000 Bücher, darunter einige seltene Exemplare von Hirschfeld und seinen Kollegen. Es war eine der ersten und größten Bücherverbrennungen der Nazis. Jugendliche, Studenten und Soldaten beteiligten sich an der Zerstörung. Die Medien erklärten, der deutsche Staat habe »den intellektuellen Müll der Vergangenheit« verbrannt. Die Sammlung war unersetzlich.

Hirschfeld galt als Feind der arischen Rasse

Der Gynäkologe Levy-Lenz, der wie Hirschfeld Jude war, floh aus Deutschland. Sein Mitarbeiter Gohrbandt, der ihm bei Operationen geholfen hatte, ließ sich aus unerklärlichen Gründen als Chefarzt der Luftwaffe vereidigen und trug später zu schrecklichen Experimenten an Menschen im KZ Dachau bei. Hirschfeld galt in der Nazi-Propaganda als Inbegriff des Feindes der perfekten heteronormativen arischen Rasse.

Unmittelbar nach dem Nazi-Überfall schloss sich Karl Giese in Paris Hirschfeld und dessen Schützling Li Shiu Tong an, einem Medizinstudenten. Die drei lebten als Partner und Kollegen zusammen, in der Hoffnung, das Institut eines Tages wieder aufzubauen. Bis die drohende Nazi-Besatzung in Paris sie 1935 zur Flucht zwang: Hirschfeld starb dabei an einem plötzlichen Schlaganfall, Giese nahm sich 1938 das Leben. Tong gab schließlich seine Hoffnung auf, ein Institut in Hongkong zu eröffnen, und tauchte im Ausland unter.

Aber sie sind nicht vergessen – jedenfalls nicht ganz. Hier und da taucht die Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft in der Populärkultur auf, beispielsweise 2015 in der Fernsehsendung »Transparent«. 2015 widmete sich ein Film, »The Danish Girl«, der Biografie von Lili Elbe, einer von Hirschfelds Patientinnen. Allzu viel hört man heute aber nicht mehr über ihn und seine Kollegen – die Nazis haben die fortschrittliche Forschung nachhaltig aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht.

Die Geschichte gibt Hoffnung und Warnung

Die Geschichte des Instituts für Sexualforschung sollte uns eine Warnung sein. Die aktuelle Gesetzgebung  – insbesondere in den USA – und die Forderung, Transkinder von ihren Eltern zu trennen, haben eine auffallende Ähnlichkeit mit den Nazi-Kampagnen gegen abweichende Lebensentwürfe.

Studien haben gezeigt, dass eine unterstützende Hormontherapie, die in einem frühen Alter beginnt, die Suizidrate bei Transjugendlichen senkt. Gleichzeitig gibt es noch immer die Ansicht, Transidentität sei nichts, womit man »geboren« werde. Dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins wurde kürzlich seine Auszeichnung als »Humanist des Jahres« entzogen, weil er Transmenschen mit Rachel Dolezal verglichen hatte. Die weiße Bürgerrechtlerin hatte sich fälschlich als schwarze Frau bezeichnet, was einen Skandal verursachte. Als sie aufflog, wurde sie als »Race-Faker« beschimpft. Dawkins drückte mit seinem Tweet die Vermutung aus, dass sich Transpersonen aus freien Stücken für das andere Geschlecht entscheiden.

Seine Kommentare fallen in eine Zeit, in der Florida Transpersonen die Teilnahme am Sport verbieten will und in der ein Gesetz in Arkansas Transkindern und -jugendlichen eine Betreuung verweigert.

Wenn man auf die Geschichte von Hirschfelds Institut zurückblickt, fragt man sich: Was hätte sich aus einer solchen Institution, die für sexuelle Vielfalt steht, entwickeln können? Aus der Arbeit dieser Pioniere können wir heute noch Hoffnung schöpfen. Ihre Geschichte sollten wir als Warnung begreifen.

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