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Intelligenz: Denken Sie eher geradeaus oder verzweigt?

Hochbegabten wird zuweilen nachgesagt, sich mit Aufgaben schwerzutun, die einfaches, geradliniges Denken erfordern. Doch haben weit gefächerte Assoziationen tatsächlich etwas mit Intelligenz zu tun?
Ein Mann ragt aus einem Labyrinth heraus und blickt in Richtung eines Baums am Horizont

Denken Sie wie ein Baum? Die Frage ist nicht beleidigend gemeint. Es geht auch nicht um Rückbesinnung auf die Natur oder darum, das Denken mit den physiologischen Prozessen im Inneren einer Pflanze zu vergleichen. Die Metapher drängt sich vielmehr auf, wenn man die populäre Literatur zum Thema Hochbegabung oder »hohes intellektuelles Potenzial« (high intellectual potential, HPI) durchstöbert. Dort trifft man immer wieder auf die Idee, dass sich Hochbegabte durch eine besondere Art zu denken von der »neurotypischen« Norm unterscheiden. Aber stimmt das wirklich?

Ein kleiner Exkurs: Vor mehr als 100 Jahren sollte der Psychologe Alfred Binet einen Test entwickeln, der erkennt, welche Kinder in der Schule Probleme bekommen werden und spezielle Förderung brauchen. Zu diesem Zweck schuf er eine metrische Skala, die sich auf das Intelligenzalter eines Kindes bezog – ein Vorläufer des Intelligenzquotienten (IQ), mit dem sich noch heute der Schulerfolg vorhersagen lässt. In der Bevölkerung ist der IQ glockenförmig verteilt: Die meisten Menschen verfügen über eine mittlere Intelligenz. Der Durchschnittswert jeder Bezugsgruppe – zum Beispiel einer Altersgruppe – ist auf 100 festgelegt, und je weiter sich der IQ davon entfernt, desto seltener kommt er vor. Per Definition liegt der IQ von etwa 95 Prozent der Bevölkerung zwischen 70 und 130. Rund 2,5 Prozent erreichen mehr als 130 – selbst dann, wenn die Menschen verglichen mit früheren Generationen dümmer oder klüger wären. Damit diese Quote stabil bleibt, werden die Skalen regelmäßig angepasst.

Menschen mit einem IQ von mindestens 130 gelten einer traditionellen Definition zufolge als hochbegabt oder als Personen mit hohem intellektuellem Potenzial. Derzeit sprechen Fachleute eher von »High-potential-Bereichen«, da eine Person in verschiedenen Bereichen unterschiedlich abschneiden kann, zum Beispiel im sprachlichen Bereich sehr gut, in der Verarbeitungsgeschwindigkeit bescheiden. So viel zu den wissenschaftlichen Voraussetzungen.

Aufmerksamkeit kann sich nicht teilen, sie leuchtet wie eine Taschenlampe immer nur in eine Richtung

Eine Hochbegabung kann allerdings Herausforderungen mit sich bringen, vor allem bei jungen Menschen in der Schule. Denn eine höhere Intelligenz bedeutet nicht unbedingt, dass die Person keine Schwierigkeiten in der Schule haben wird – auch wenn das statistisch gesehen zu erwarten wäre, weil der IQ positiv mit den Schulnoten korreliert. Da das aber nicht zwingend der Fall ist, gibt es auch Hilfsangebote für hochbegabte Kinder.

Ein möglicher Grund für die schulischen Probleme von Hochbegabten, so die Theorie, könnte in ihrer besonderen Art zu denken liegen. Die Kinder hätten womöglich Probleme, geradlinig zu denken, also streng logisch von einem Punkt zum nächsten zu kommen: Gedanke A führt zu Gedanke B, der wiederum zu C, und so weiter. Stattdessen springen sie von einem Thema zum nächsten, wobei sich die Gedanken verzweigen wie die Äste eines Baums. Assoziationen führen zu neuen Assoziationen und entfernen sich immer weiter von dem ursprünglichen Gedanken. Zum Beispiel könnte das Bild eines Boots an eine Kreuzfahrt oder ein Frachtschiff denken lassen, dann an einen Sturm und an die globale Erwärmung. Oder es weckt eine Assoziation mit der Modemarke »Petit Bateau« (kleines Boot), die Erinnerungen an die Kindheit und ihre Unbeschwertheit heraufbeschwört.

Es ist natürlich schwierig, solche Assoziationen mit Worten zu beschreiben. Der Vergleich mit den sich gabelartig verzweigenden Ästen eines Baums eignet sich dazu jedoch eher nicht. Denn Aufmerksamkeit kann sich nicht teilen; sie leuchtet wie eine Taschenlampe immer nur in eine Richtung, und so können sich auch die Gedanken nicht gabeln und gleichzeitig in verschiedene Richtungen bewegen. Sie können aber mit einem weiten Sprung auf einem benachbarten Ast landen, anstatt in kleinen Schritten geradeaus zu gehen.

Divergentes Denken, konvergentes Denken

Der wissenschaftliche Begriff für solche weiten Gedankensprünge lautet »Divergenz«. Assoziationen mit einer geringen semantischen Distanz sind dagegen »konvergent«. So sind die semantischen Distanzen in der Gedankenkette »Hund – Ball – Hundehütte – Knochen – Halsband – Biss« kleiner und die Denkweise ist somit konvergenter als in der Assoziationskette »Hund – Katze – Milch – Schokolade – Karies – Zahnarzt«. Sofern Hochbegabte schneller denken, könnte es tatsächlich sein, dass sie mehr verschiedene Assoziationen herstellen und womöglich auch leichter abschweifen.

Allerdings scheint die Divergenz weniger das Merkmal eines Individuums oder seiner Intelligenz zu sein, sondern vor allem von seiner Stimmung abzuhängen. Forschung von Professor Moshe Bar an der Bar-Ilan-Universität in Israel hat gezeigt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Gefühlslage und divergentem Denken gibt. Versetzt man Versuchspersonen in gute Stimmung, indem man ihnen beispielsweise Cartoons oder lustige Filme zeigt, denken sie divergenter als andere, die man zuvor mit traurigen Nachrichten konfrontiert hat. Da divergentes Denken ein Merkmal von Kreativität ist, ist es also ratsam, guter Stimmung zu sein, wenn man sich kreativ betätigen will.

Was haben ein Pinguin und ein Staubsauger gemeinsam?

Moshe Bar machte aber noch eine weitere überraschende Entdeckung: Der kausale Zusammenhang zwischen Stimmung und Divergenz wirkt in beide Richtungen. Das bedeutet: Wenn man sich zwingt, divergent zu denken, bessert sich die Stimmung ein wenig. Divergentes Denken lässt sich durchaus trainieren. Dazu genügt es, sich regelmäßig zu fragen, was unterschiedliche Dinge miteinander verbindet. Was haben zum Beispiel ein Pinguin und ein Staubsauger gemeinsam? Was verbindet ein Café mit dem Matterhorn? Welche Analogie gibt es zwischen der Mona Lisa und einer Schraube?

Wenn solche Assoziationen die Stimmung heben, werden sie verstärkt und somit gefördert. Die Gedanken schweifen zu lassen, kann sogar zu einer Gewohnheit werden, der man nur schwer widerstehen kann. Eine Linearisierung des Denkens dagegen wirkt eher einschränkend, ist mühsam und anstrengend. Für die Verständigung mit anderen ist sie allerdings von entscheidender Bedeutung.

Wir alle denken assoziativ. Aber manche Menschen entwickeln mehr unterschiedliche Assoziationen. Diese Fähigkeit lässt sich jedoch nicht bestimmten – hochbegabten – Menschen fest zuordnen. Eine höhere Intelligenz hat mehr damit zu tun, je nach Kontext und Anforderungen flexibel zu denken: mal divergent und mal konvergent.

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  • Quellen

Bar, M.: A cognitive neuroscience hypothesis of mood and depression. Trends in Cognitive Sciences 13, 2009

Herz, N. et al.: Overarching states of mind. Trends in Cognitive Sciences 24, 2020

Ivancovsky, T. et al.: A shared novelty-seeking basis for creativity and curiosity. Behavioral and Brain Sciences 47, 2024

Mason, M.F., Bar, M.: The effect of mental progression on mood. Journal of Experimental Psychology: General 141, 2012

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