Intelligenz: Werden wir immer klüger?
Vor 28 Jahren entdeckte der amerikanische Politologe James R. Flynn von der University of Otago (Neuseeland) ein Phänomen, das Soziologen noch immer Rätsel aufgibt: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts steigt der durch Tests ermittelte Intelligenzquotient (IQ) stetig an. Flynn überprüfte die Ergebnisse aus mehr als zwei Dutzend Ländern und stellte fest, dass die IQ-Werte um durchschnittlich drei Punkte pro Jahrzehnt zunahmen. Seither haben zahlreiche Studien den globalen Aufwärtstrend bestätigt, den man heute Flynn-Effekt nennt.
Und die Werte steigen weiter. "Zu meinem Erstaunen setzt sich der Anstieg im 21. Jahrhundert fort", sagt Flynn. "Wie die neuesten Daten zeigen, klettern die Werte in Amerika weiter um 0,3 Punkte pro Jahr." Der seltsame Effekt treibt den IQ anscheinend unaufhaltsam nach oben. Joseph Rodgers, ein Psychologe an der University of Oklahoma in Norman, überprüfte beispielsweise die Testergebnisse von fast 13 000 amerikanischen Schülern, um den Flynn-Effekt auch über vergleichsweise kurze Zeitspannen aufzuspüren: "Sie steigen systematisch Jahr für Jahr", resümiert Rodgers. "Jugendliche, die 1989 geboren wurden, schneiden etwas besser ab als 1988 geborene."
Der Flynn-Effekt bedeutet, dass Kinder ihre Eltern bei Intelligenztests im Durchschnitt um zehn Punkte übertreffen. Falls sich die Entwicklung fortsetzt, werden unsere Nachkommen uns am Ende dieses Jahrhunderts um fast 30 Punkte übertreffen. Das entspricht dem Abstand zwischen durchschnittlicher Intelligenz und den schlauesten zwei Prozent der Bevölkerung. Aber kann sich der Trend ewig fortsetzen? Werden die Menschen künftig nach heutigen Maßstäben Genies sein? Oder gibt es eine naturgegebene Grenze für den Flynn-Effekt und ganz allgemein für die menschliche Intelligenz?
Der moderne Intellekt
Bald nachdem der Flynn-Effekt entdeckt worden war, erkannten Forscher, dass die ansteigenden IQ-Werte fast ausschließlich von bestimmten Teilen der gebräuchlichsten Intelligenztests herrühren. Zum Beispiel besteht der so genannte Wechsler-Intelligenztest für Kinder und Jugendliche aus mehreren Bausteinen, die jeweils unterschiedliche Fähigkeiten prüfen. Man könnte nun erwarten, dass sich mit der Zeit vor allem vermehrtes Schulwissen in besseren Testresultaten niederschlägt. Doch das ist nicht der Fall: Die Überprüfung von Rechnen und Wortschatz liefert mehr oder weniger konstante Ergebnisse.
Die meisten IQ-Zuwächse stammen aus nur zwei Untertests, die auf abstraktes Denken zielen (siehe Kasten). Der eine behandelt "Gemeinsamkeiten" und fragt beispielsweise: "Was haben Äpfel und Orangen gemeinsam?" Die Antwort "Beide sind essbar" bekommt eine schlechtere Note als "Beide sind Früchte", denn die zweite Aussage geht über die Angabe einer simplen physischen Eigenschaft hinaus. Der andere Untertest besteht aus einer Reihe von geometrischen Mustern, die auf abstrakte Weise verwandt sind, und der Prüfling muss diesen Zusammenhang richtig angeben.
Solche Tests wurden eigentlich entworfen, um den nonverbalen und nicht von Kultur abhängigen Anteil der Intelligenz zu messen – die angeborene Fähigkeit, neuartige Probleme zu lösen. Doch wie der Flynn-Effekt deutlich zeigt, übt irgendetwas in der Umwelt einen merklichen Einfluss auf die vermeintlich kulturunabhängigen Komponenten der Intelligenz aus, und zwar weltweit. Die Psychologen Ainsley Mitchum und Mark Fox von der Florida State University in Tallahassee haben detailliert untersucht, wie unterschiedliche Generationen bei Intelligenztests abschneiden. Sie vermuten, dass unser gestiegenes Abstraktionsvermögen mit einer flexibleren Objektwahrnehmung zusammenhängt.
"Jeder Windows-Nutzer kennt den Startknopf auf dem Bildschirm, aber das ist natürlich kein wirklicher Knopf", erklärt Mitchum. "Ich wollte meiner Großmutter erklären, wie sie ihren Computer herunterfahren kann, und sagte: Du drückst auf den Startknopf und wählst Herunterfahren. Daraufhin knallte sie die Maus gegen den Bildschirm."
Mitchums Großmutter ist nicht schwer von Begriff, aber sie wuchs in einer Welt auf, in der Knöpfe noch Knöpfe waren und Telefone gewiss keine Kameras. Flynn und viele andere Forscher sind davon überzeugt, dass ansteigende IQ-Werte keinen Zuwachs an reiner Gehirnleistung widerspiegeln. Vielmehr zeigt der Flynn-Effekt, wie modern unser Verstand geworden ist. Die beschriebenen Tests erfordern die Fähigkeit, abstrakte Kategorien zu erkennen und Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Und diese Fähigkeit ist nach Flynns Überzeugung im letzten Jahrhundert nützlicher geworden als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.
"Wer nicht abstrahieren kann, wer nicht gewohnt ist, logisch zu denken, der kann die moderne Welt nicht meistern", sagt Flynn. "Alexander Luria, ein sowjetischer Psychologe, machte in den 1920er Jahren einige wundervolle Interviews mit russischen Bauern. Er fragte sie: Wo permanent Schnee liegt, sind Bären immer weiß; am Nordpol liegt immer Schnee; welche Farbe haben Bären dort? Die Bauern antworteten, sie hätten immer nur braune Bären gesehen. Sie hielten eine hypothetische Frage nicht für sinnvoll."
Die Bauern waren nicht dumm; ihre Welt erforderte bloß andere Fähigkeiten. "Mich fasziniert weniger, dass wir heute bei Intelligenztests so viel besser abschneiden", sagt Flynn, "sondern, was wir daraus über die Geschichte des Verstands im 20. Jahrhundert lernen."
Eine naive Deutung des Flynn-Effekts führt schnell zu seltsamen Schlussfolgerungen. Extrapoliert man den Trend einfach zurück in die Vergangenheit, so müsste ein durchschnittlicher Brite um 1900 – gemessen am Standard von 1990 – einen IQ von rund 70 gehabt haben. "Das würde bedeuten, dass die meisten Briten damals geistig zurückgeblieben waren und niemals die Kricketregeln begriffen hätten", sagt David Hambrick, Kognitionspsychologe an der Michigan State University in East Lansing. "Natürlich ist das absurd."
Vielleicht sind wir daher gar nicht intelligenter als unsere Vorfahren, aber zweifellos hat sich unser Verstand verändert. Flynn glaubt, dass die Veränderung von der industriellen Revolution ausging. Damals entstanden staatliche Schulsysteme, kleinere Familien und eine Gesellschaft, in der mehr Menschen in technischen Berufen oder in Büros arbeiteten als in der Landwirtschaft. Neue Berufsbilder entstanden – Ingenieur, Elektriker, Industriearchitekt –, die Abstraktionsvermögen verlangten. Die bessere Bildung trieb wiederum Innovationen und sozialen Wandel voran. So entstand eine positive Rückkopplung zwischen unserem Verstand und einer dynamischen, auf Technik beruhenden Kultur.
Es ist allerdings nicht leicht, die Ursachen des Flynn-Effekts präzise zu bestimmen – sonst ließe er sich durch Bildungsund Sozialmaßnahmen gezielt verstärken. Bessere Bildung ist gewiss ein wichtiger Faktor. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbrachten die meisten Amerikaner nur sieben Jahre in der Schule. Heute verfügt die Hälfte aller Erwachsenen in den USA zumindest über eine gewisse Hochschulbildung.
Das reicht aber als Erklärung nicht aus. Einige Forscher haben vermutet, der Großteil des IQ-Anstiegs während des 20. Jahrhunderts stamme von der linken Seite der glockenförmigen Intelligenzverteilung, also von Menschen mit besonders niedrigen Werten – und das wäre wahrscheinlich eine Konsequenz besserer Bildungschancen. Doch kürzlich analysierten Jonathan Wai und Martha Putallaz von der Duke University in Durham (North Carolina) Testergebnisse aus einer Zeitspanne von 20 Jahren, die von 1,7 Millionen Schülern der fünften, sechsten und siebten Klasse stammten. Wie sich herausstellte, zeigen auch die besten fünf Prozent der Schüler den Flynn-Effekt. "Zum ersten Mal können wir beweisen, dass die gesamte Intelligenzkurve ansteigt", sagt Wai. Demnach beeinflussen die kulturellen Faktoren, die hinter dem Anstieg stecken, alle Menschen gleichermaßen. Wai und Putallaz vermuten, dass die heutzutage allgegenwärtigen Videospiele – und sogar manche Fernsehshows – genau jene Fähigkeiten trainieren, die bei IQ-Tests besonders gefragt sind.
Für Rodgers spricht die universelle Geltung des Flynn-Effekts gegen eine einzelne Ursache: "Es muss vier oder fünf Hauptfaktoren geben, deren Schwankungen sich gegenseitig aufheben." Als Ursache vermutet er bessere Kindernahrung, allgemeine Schulpflicht, kleinere Familien und den Einfluss gebildeter Mütter auf ihre Kinder. "Solange zwei dieser Faktoren wirkten, trieben sie den Flynn-Effekt voran", meint Rodgers, "selbst wenn beispielsweise der Zweite Weltkrieg die anderen beiden zum Verschwinden brachte."
Flottere Autos erfordern bessere Straßen
Was wird die Zukunft bringen? Werden die IQ-Werte weiterhin ansteigen? Jedenfalls hört die Welt nicht auf, sich zu verändern. Flynn zieht einen Vergleich mit technischen Entwicklungen, um die langfristige Wechselwirkung zwischen Verstand und Kultur zu beschreiben: "Im Jahr 1900 fuhren die Autos im Schneckentempo, weil die Straßen so schlecht waren." Mit besseren Straßen kamen dann flottere Autos, und diese erforderten wiederum bessere Straßen.
Eine ähnliche Feedback-Schleife verbindet Intellekt und Kultur. Vor wenigen Jahrzehnten hätte sich niemand träumen lassen, über welche Medien und in welchem Tempo wir heute Informationen austauschen. Jeder technische Fortschritt erfordert Köpfe, die mit dem Wandel Schritt halten können, und der veränderte Geist gestaltet erneut die Welt um. Der Flynn-Effekt wird in diesem Jahrhundert kaum zum Erliegen kommen.
Gewiss verändert sich unser Verstand nicht nur in einer mit Intelligenztests messbaren Weise. "Die Menschen werden schneller", behauptet Psychologe Hambrick. "Üblicherweise vernachlässigt man bei Untersuchungen der Reaktionszeit alle Werte unter 200 Millisekunden, denn das gilt als die für Menschen schnellstmögliche Reaktion. Doch neuerdings müssen die Forscher gemäß dieser Regel mehr Testwerte verwerfen; offenbar reagieren die Leute flinker. Wir kommunizieren per SMS, wir konzentrieren uns auf Computerspiele, wir beschäftigen uns mit vielem, das schnellste Reaktionen erfordert. Sobald genug Daten vorliegen, werden wir vermutlich auch bei Messungen der Wahrnehmungsgeschwindigkeit eine Art Flynn-Effekt finden."
Vielleicht sollte uns die Existenz solcher Phänomene nicht allzu sehr überraschen. Ihr Fehlen wäre verwunderlicher: Es würde bedeuten, dass wir nicht mehr auf die Welt reagieren, die wir hervorbringen.
Der Heidelberger Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Betreiber dieses Portals. Seine Online- und Print-Magazine, darunter »Spektrum der Wissenschaft«, »Gehirn&Geist« und »Spektrum – Die Woche«, berichten über aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.