Kosmologie: »Wir versuchen, uns an den Kern der Schwerkraft heranzutasten«
Lavinia Heisenberg hat Physik im Blut. Eine Verwandtschaft mit Werner Heisenberg? Womöglich. Unumstößlich ist jedenfalls ihre Leidenschaft, die Geheimnisse des Universums und der Gravitation zu ergründen. Im Gespräch mit »Sterne und Weltraum« erklärt die Forscherin von der Universität Heidelberg, wie sie die wichtigen Rätsel der Astrophysik und Kosmologie lösen will – und warum sie sich dafür als ESA-Astronautin beworben hat.
»Sterne und Weltraum«: Träumten Sie als Kind schon vom Weltall?
Lavinia Heisenberg: Der Himmel war schon immer ein faszinierender Ort für mich. Als junges Mädchen habe ich mich gefragt, was es dort oben bloß so alles geben mag. Doch diese Welt wollte ich nicht nur von der Erde aus sehen. Astronautin werden – das war mein großer Traum, so weit ich zurückdenken kann. Auslöser waren zum Teil Filme wie »Apollo 13«. Der Mond selbst war immer eine Konstante für mich, und ich spürte eine tiefe, fast romantische Verbindung zu ihm.
Neue Orte erobern, Schwerelosigkeit erleben ..., das hat meinen Entdeckergeist geweckt. Ich war von klein auf von Neugier und Wissbegierde getrieben. Gerade im Weltall wollte ich verborgene Ursachen erforschen. Ich saß auch ganz gebannt vor Dokumentationen. Dinge wie Schwarze Löcher hörten sich einfach magisch an! Ich konnte sie mir nicht erklären, diese Rätsel wollte ich genauer verstehen.
Nun sind Sie theoretische Physikerin, Ihre Forschung dreht sich um Gravitation. Woran arbeiten Sie genau?
Einsteins allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Gravitation als Krümmung von Raum und Zeit. Durch diese geometrische Vorstellung hat er die Theorie der Schwerkraft revolutioniert. Zusammen mit meiner Forschungsgruppe denke ich diesen Ansatz weiter. Wir haben zum Beispiel zwei weitere geometrische Perspektiven entwickelt, aus denen sich diese Kraft ableiten lässt. Mit unserer »Geometric Trinity of Gravity« lassen sich verschiedene Facetten des Phänomens beleuchten. So versuchen wir, uns an den Kern der Schwerkraft heranzutasten, um herauszufinden, was genau sie so besonders macht.
Zur allgemeinen Relativitätstheorie kommt noch ein weiterer zentraler Baustein hinzu: das kosmologische Prinzip. Es besagt, dass das Universum gleichförmig (homogen) und in allen Richtungen gleich (isotrop) ist. Diese Prinzipien führen zum Standardmodell der Kosmologie. Wir sind allerdings gezwungen, drei unbekannte Bestandteile einzuführen, um astronomische Beobachtungen korrekt zu beschreiben: die Dunkle Energie, die Dunkle Materie und das Inflationfeld. Auch weiß man heute noch nicht, wie man die allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantentheorie vereinbaren soll. Diese Aspekte versuchen wir, genauer zu verstehen.
Noch ein weiteres Beispiel unserer Forschung sind Schwarze Löcher: Die Raumzeit ist nämlich elastisch, kann reißen und solche Löcher bekommen, wenn sie zu stark gedehnt wird. Was genau in diesen Objekten passiert, ist noch lange nicht geklärt und motiviert zur Suche nach neuer Physik. Da gibt es beispielsweise Wurmlöcher, wie im berühmten Vorschlag der Einstein-Rosen-Brücke aus den 1960er Jahren. Diese Brücke könnte zwei Universen miteinander verbinden. Mit Kolleginnen und Kollegen habe ich nun ein neues Modell vorgestellt, in dem der Übergang zwischen einem Schwarzen Loch und einem neuen Universum möglich ist. Das könnte wiederum Hinweise auf die Geburt unseres eigenen Universums geben.
Neue Universen? Damit meinen Sie wohl nicht die Fantasiewelten der Kinoleinwände …
In der Tat haben diese Kosmologien für mich weniger mit Fantasie zu tun – zumindest stelle ich sie mir kaum visuell vor. Mein Zugang zu den Welten, die wir kreieren, liegt in der Mathematik. Wir führen mathematische Objekte ein, die physikalische Objekte oder Prozesse darstellen und eine konsistente Beschreibung des Phänomens liefern. In das gerade erwähnte kosmologische Modell haben wir beispielsweise eine S-Brane eingebaut, um den Übergang zwischen Schwarzem Loch und neuem Universum zu generieren. Die S-Branen kommen aus den Stringtheorien. Es handelt sich um eine hyperdimensionale Oberfläche, auf der gewisse Parameter der Raumzeitkrümmung kritische Werte erreichen. Wie diese Objekte zusammenhängen, kann man tatsächlich gut bildlich vereinfachen – mit Hilfe eines Penrose-Diagramms. Hollywoodtauglich ist solch ein Diagramm aber wohl nicht …
Insgesamt ist für mich durch diese formale Beschreibung die Magie aus der Kindheit, das Rätselhafte der Phänomene ein wenig verloren gegangen. Aber jetzt kann ich sie mir mit Modellen erklären und diese selbst weiterentwickeln. Das ist fantastisch!
Das Penrose-Diagramm
Das Besondere eines Penrose-Diagramms ist die Möglichkeit, unendlich ausgedehnte Raumzeiten in einem endlich großen Bild darzustellen und zwar auf mathematisch konsistente Weise: Längen werden kontrahiert, doch Winkel bleiben erhalten. Im Penrose-Diagramm wird die Weltlinie – so heißt ein Weg durch die Raumzeit – eines Lichtstrahls als diagonale Linie gezeigt. Wenn sich solche Diagonalen schneiden und eine Raute formen, dann bilden sie die beobachtbaren Grenzen eines unendlichen Universums ab.
Genau solche Linien sind bei Schwarzen Löchern relevant: Sobald Licht oder jegliche Materie den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs passiert, werden die Teilchen vom Loch verschluckt. Genau umgekehrt verhält es sich beim Weißen Loch. Diese Linien und Rauten kann man nun zusammenbauen, um mit nichts anderem als Stift und Papier etwas Galaktisches zu skizzieren … eine Brücke zwischen zwei Universen.
Und wie baut man nun eine S-Brane, ein Objekt aus der Stringtheorie, in solch ein Diagramm ein? Seien Sie neugierig und mutig! Werfen Sie einen Blick in Professor Heisenbergs Artikel, welche auf dem Preprint-Server arXiv.org kostenlos erhältlich sind.
Die mathematischen Modelle hören sich sehr abstrakt an. Wie überprüfen Sie diese mit Daten und Beobachtungen?
In der Kosmologie haben wir ein weites Spektrum an Beobachtungen, die immer präziser werden: von den Entfernungsmessungen explodierender Sterne bis hin zu Gravitationswellen. Mit Hilfe des Gravitationswellendetektors LIGO konnte zum Beispiel festgestellt werden, dass sich solche Wellen mit Lichtgeschwindigkeit in der Raumzeit ausbreiten. Manche unserer Modelle hätten Situationen mit Überlichtgeschwindigkeit vorausgesagt. Diese konnten wir dank LIGO direkt ausschließen. Die Daten aus solchen Beobachtungen sind übrigens öffentlich zugänglich. Man kann zum Beispiel auf der Website des Gravitational Wave Open Science Center direkt darauf zugreifen.
Außerdem spielen Simulationen bei uns eine wichtige Rolle. Aufbauend auf unseren analytischen Methoden entwickeln wir numerische Codes, die wir auf Computern laufen lassen. Wenn die Ergebnisse nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen, dann ändern wir unser Modell. Wir drehen an Parametern oder suchen nach neuen Leitideen.
Wie kommen Sie denn auf Ihre Ideen?
Ganz zentral ist eine gute Fragestellung; sie gibt die Inspiration. Um sie zu beantworten, greift man auf sein Repertoire von mathematischen Werkzeugen zurück, das man sich im Lauf des Studiums und der Forschung aneignet. Durch kleine Semesterprojekte und die Masterarbeit bis hin zur Doktorarbeit und der Zeit als Postdoc sammelt man immer mehr Erfahrung, wie man dieses Rüstzeug eigenständig anwendet. In seiner Forschung trifft man dann auf mathematische Objekte, die sich den Standardwerkzeugen widersetzen. Das könnte einfach eine ungewöhnliche Matrix sein, die man mit all seinen bekannten Werkzeugen nicht untersuchen kann. Hier muss man anfangen, neue Methoden zu entwickeln.
Wie sieht Ihr Forschungsalltag als theoretische Physikerin aus?
Meistens arbeitet man mit Papier und Stift. Es geht darum, neue Konzepte zu entwickeln oder vorhandene genauer zu untersuchen. Die physikalischen Gegebenheiten können oft leicht auf einem Blatt Papier berechnet werden. Genauere und ausführliche Herleitungen erfolgen dann am Rechner, zum Beispiel mit Hilfe von Mathematica oder anderen Programmiersprachen. Im Unterschied zu den numerischen Simulationen geht es hier um das Umformen von Gleichungen. Das heißt, das Programm manipuliert Symbole wie E, m oder c2, anstatt mit Zahlen zu rechnen. Wenn man diese Gleichungen schließlich in eine sinnvolle Form gebracht hat, lassen sich fundamentale Strukturen erkennen und Zusammenhänge herauslesen.
Gleichzeitig versuche ich in meiner Gruppe, nicht fixe Fragestellungen vorzugeben, sondern gemeinsame Forschungsinteressen zu entwickeln. Diese spiegeln unsere interdisziplinären Hintergründe wider: Manche unserer Leute sind Theoretiker durch und durch, sie sprechen am liebsten von Superstringtheorie. Andere können besonders gut mit großen Datensätzen und umfangreichem Code umgehen. Gerade so schaffen wir es eben, eine Balance zwischen Theorie und Beobachtung zu finden.
Haben Sie selbst Erfahrung mit Beobachtungen oder Datenanalyse gesammelt?
Ja, ich habe im Rahmen meines Studiums einige Monate an einem Observatorium in Chile verbracht. Wo kann man den Himmel besser beobachten? Dort habe ich die Spektren von Quasaren aufgenommen und diese Daten direkt analysiert. Auch mein Masterstudium in Heidelberg war eher in Richtung Astrophysik fokussiert, und meine Abschlussarbeit bestand darin, einen Code für N-Körper-Berechnungen zu schreiben sowie ihn mit semianalytischen Methoden schneller zu machen. Das heißt vor allem, dass meine Arbeit sehr viel mit Numerik zu tun hatte. Zwar habe ich die Physik, vor allem die theoretische Physik, dabei sehr vermisst, aber meiner Meinung nach sollte jede Theoretikerin und jeder Theoretiker solch eine Erfahrung gemacht haben.
Zurück zu Ihrem Kindheitstraum: Dieses Jahr haben Sie sich als Astronautin bei der Europäischen Weltraumbehörde ESA beworben. Wie sieht der Bewerbungsprozess aus?
Endlich nach 13 Jahren gibt es wieder eine Ausschreibung bei der ESA! Der lang ersehnte Moment ist da. Ja, ich habe mich beworben, so wie auch andere 23 000 Bewerber. So viele waren es bis jetzt noch nie. Am Ende werden dann fünf ausgewählt. Das heißt, die Erfolgschance, genommen zu werden, ist sehr gering. Beim ersten Auswahlverfahren werden mehr als 90 Prozent der Bewerbenden eine Absage bekommen, und weniger als 10 Prozent werden zu kognitiven Tests eingeladen. Ich glaube, dass die Entscheidung im Sommer oder Herbst dieses Jahres feststehen wird. Bis jetzt habe ich auf jeden Fall noch keine Absage von der ESA erhalten.
Vom Schreibtisch in die Schwerelosigkeit – was macht eine theoretische Physikerin im Weltall?
Mit Sicherheit weniger mit Stift und Papier arbeiten! Tatsächlich ist es im Grunde egal, was man im vorherigen Beruf genau gemacht hat. Die Hauptsache ist, dass man zuerst in einem Fach der Naturwissenschaften tätig ist, um Astronautin zu werden. Nach dem Bewerbungsprozess erhalten die Auserwählten dann eine umfangreiche Grundausbildung. Da lernt man so viel verschiedenes Fachwissen, von Physik bis zur Medizin, Biologie, Geografie, Chemie et cetera. Gerade das macht ja diese Tätigkeit so spannend! Ich glaube, es gibt keinen Beruf auf der Erde, der so vielfältig ist.
Könnten Sie dennoch auf dem Mond oder Mars Experimente für Ihre theoretische Forschung durchführen?
Da die theoretische Kosmologie sich mit Fragen der großen Skalen beschäftigt, wäre die lokale Schwerkraft auf dem Mars oder Mond nicht so geeignet dafür. Aber zum Beispiel auf dem Mond ist es geplant, ein Moon Village aufzubauen, mit Forschungseinrichtungen und Teleskopen. Da es auf der abgewandten Seite des Mondes entstehen soll, werden beeinträchtigende Radiosignale von der Erde abgeschirmt sein, und man wird von dort aus das Universum besser beobachten können.
Denken Sie, es wird noch in diesem Jahrhundert eine erste Marskolonie geben? Welche Themen wären in dieser Gesellschaft wichtig?
Eine Marskolonie wird wahrscheinlich erst in 100 bis 200 Jahren möglich sein. In den anfänglichen Phasen dieser neuen Gesellschaft wird es eher darum gehen, Ressourcen zu erschließen, Territorien zu erobern und den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Vor solch einer Entwicklungsphase werden aber bestimmt zuerst Forschungskolonien aufgebaut, damit die nötige Infrastruktur gewährleistet werden kann – zum Beispiel isolierte Kapseln mit Sauerstoff, welche das Züchten von Pflanzen und Tieren ermöglichen. Außerdem denke ich, dass die Anstrengungen überwiegend dem Privattourismus und dem Kampf um die Führungsrolle darin gewidmet sein werden.
Sehen Sie Parallelen zwischen den beiden Berufen – irdische Physikerin und Astronautin?
Als Wissenschaftlerin sehe ich mich in der Pflicht, die Grenzen des menschlichen Wissens voranzutreiben. Ich nehme unsere Welt und die Menschheit sehr wichtig. Meinen Beruf sehe ich als eine privilegierte Möglichkeit, durch wissenschaftliche Erkenntnisse sowie Fortschritte in Forschung und Technik einen wichtigen Beitrag zur Zukunft der Menschheit leisten zu können. Diese Vision könnte ich bei der ESA bestens weiterverfolgen.
Außerdem muss man sowohl als Professorin als auch Astronautin gut kommunizieren können. In Vorlesungen möchte man ja nicht nur bekanntes Wissen weitergeben, sondern auch Neugierde für das Unerforschte wecken. Im Rahmen der ESA-Outreach-Programme hält man ebenfalls viele öffentliche Vorträge, um ein noch größeres Publikum für die Raumfahrt und Wissenschaft zu begeistern. Gerade deshalb wäre es mir eine große Ehre, wenn ich die Möglichkeit bekäme, junge Menschen zu inspirieren und vor allem junge Frauen zu motivieren, eine naturwissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen.
Haben Sie momentan selbst ein Vorbild?
Ich bewundere Sarah Springman, bis Ende 2021 Rektorin hier an der ETH Zürich. Sie ist nicht nur eine unglaublich starke Person, sondern auch so zugänglich und aufgeschlossen. Solche Führungsfiguren braucht es in der akademischen Welt. Der Konkurrenzdruck ist hoch, und es gibt immer noch viele Vorurteile. Ich selbst bin sehr dankbar, dass ich mit einem ERC Starting Grant des Europäischen Wissenschaftsrats (englisch: European Research Council, ERC) nun drei Jahre lang als Assistenzprofessorin an der ETH forschen durfte. Doch selbst mit weiteren Auszeichnungen wie dem ETH-Latsis-Preis gab es immer wieder schwierige Momente, gerade als Frau. In solchen Situationen war Sarah persönlich für mich da und hat mir sehr gute Ratschläge gegeben.
Wie erleben Sie die Frauenbewegung in der Forschung?
Derzeit stehen Frauen in der Forschung sowohl auf persönlicher als auch institutioneller Ebene immer noch mehr Hürden im Weg als Männern. Ich selbst versuche in meiner Position als Professorin, Frauen speziell aus armen Gegenden in meine Forschung einzubinden und ihnen einen Aufenthalt an Orten wie der ETH zu ermöglichen. Doch es kostet immer eine besondere Anstrengung. Und man müsste es diesen Leuten doch eigentlich leichter machen, damit sie eine Chance haben! Gerade deshalb bin ich so froh, dass es Vorbilder wie Sarah Springman gibt. Mit ihrer enormen Energie – sie ist nicht nur Professorin, sondern auch Triathletin – hat sie an der ETH so viele Initiativen ins Leben gerufen, insbesondere das Programm »Women in Space and Science«. In diesem Rahmen durfte ich selbst an einer Zoom-Paneldiskussion im Mai teilnehmen und meine Erfahrungen teilen. Es war rührend, danach E-Mails von vielen jungen Schülerinnen zu bekommen. Doch um Probleme wie den absinkenden Frauenanteil in der Wissenschaft (»leaky pipeline«) zu lösen, das heißt den Weg durch das Studium, Doktorat bis hin zur Professur für alle Geschlechter zu ebnen, muss Chancengleichheit tief im System verankert werden. Dann können auch Frauen ihre Liebe zur Physik langfristig ausleben.
Welche Botschaft möchten Sie an unsere jungen Leserinnen und Leser schicken?
Take the road less travelled and dare to dream! Übersetzt bedeutet das: Schlage deinen eigenen Weg ein und wage es, zu träumen!
Welche Entwicklungen erwarten Sie in diesem Jahrhundert in der Kosmologie?
Der Nachweis oder die Widerlegung der Dunklen Energie oder der Dunklen Materie würde das Forschungsfeld auf ein neues Niveau heben. Eine Beschreibung des nichtlinearen Wachstums kosmischer Strukturen und von Gravitationswellen in der Theorie sind ebenso wichtig.
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