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EU-Renaturierungsgesetz: »Vielfalt macht das System stabiler, auch für Landwirte«

Bei der Abstimmung am Dienstag könnte das epochale EU-Renaturierungsgesetz doch noch scheitern, vor allem am Protest der Bauern. Dabei würden gerade sie von den Maßnahmen profitieren, erklärt der Biodiversitätsforscher Josef Settele im Interview.
Ein Maisfeld wird gepflügt
Wo Bäume die Felder einrahmen, verbessert sich der Wasserhaushalt. Blühstreifen und Hecken geben den Bestäubern ein Zuhause und erhöhen die Artenvielfalt. Auch solche Maßnahmen sollen durch das EU-Renaturierungsgesetz gefördert werden.

Herr Settele, am 27. Februar stimmt das Europaparlament endgültig über das Renaturierungsgesetz ab. Es soll die EU-Staaten dazu verpflichten, Ökosysteme im großen Maßstab wieder in einen »guten Zustand« zu versetzen. Als Biodiversitätsforscher freut Sie das vermutlich. Manch einer wird sich fragen: Haben wir nicht genug andere Probleme?

Die biologische Vielfalt schützen zu wollen, das klingt manchmal wie eine Liebhaberei von Vogel- oder Schmetterlingsenthusiasten. Es geht aber um Dinge, die für unser Überleben als Menschen entscheidend sind. Europaweit gehen Tiere, Pflanzen und Ökosysteme in einem Ausmaß verloren, wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Das trifft auch die Nahrungsmittelproduktion und damit unser Essen. Für den Klimaschutz sind intakte Wälder und andere Ökosysteme zentral.

Beim Renaturierungsgesetz geht es aber nicht nur um Wälder, Seen und Meere. Auch Agrarflächen sollen in Teilen renaturiert werden. Warum?

Die Agrarlandschaft ist wie jedes andere Ökosystem auch davon abhängig, dass eine große Vielfalt von Arten zusammenspielt. Je mehr sie in Richtung Monokultur geht, desto größer ist das Risiko. Etwa dass sich Schädlinge ohne natürliche Gegenspieler massenhaft vermehren. Wohin das führen kann, sehen wir dort, wo Fichtenwälder vom Borkenkäfer zerstört werden – mit immensen wirtschaftlichen Schäden. Vielfalt macht das System stabiler. Auch für Landwirte ist das wichtig. Vielfalt im Agrarland trägt dazu bei, Erträge zu sichern.

Josef Settele | Der Leiter des Departments für Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle war unter anderem Kovorsitzender des Berichts zum weltweiten Zustand der Natur des Weltbiodiversitätsrats IPBES. Außerdem ist er Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung sowie der Fokusgruppe »Biodiversität, Landnutzung und Klima« bei der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina.

Im Ringen um Mehrheiten ist der Gesetzentwurf mehrfach abgeschwächt – viele sagen: verwässert – worden. Welche Zugeständnisse schmerzen Sie besonders?

In den Verhandlungen wurde eine Art Notbremse eingefügt, nach der Ziele für mehr Biodiversität dann nicht eingehalten werden müssen, wenn dadurch Ertragseinbrüche drohen. Das ist ein Damoklesschwert, das nun ständig über dem Gesetz hängt. Die Logik dahinter halte ich für fatal: Wenn es nicht sofort funktioniert, lassen wir es eben. Es ist nicht davon auszugehen, dass Renaturierung langfristig zu Ertragseinbrüchen führt, sondern die Systeme eher stabilisiert. Kurzfristig kann es aber sehr wohl mal Schwankungen geben. Dann darf man nicht sofort die Flinte ins Korn werfen.

Hat das Gesetz überhaupt noch ausreichend Zähne, um die Trendwende in der Biodiversitätskrise zu schaffen?

Es hat ein paar Zähne verloren. Aber auch mit ein paar Zahnlücken kaut es sich immer noch besser als ohne Zähne. In der Politik geht es nicht ohne Kompromisse. Es sind immer noch ausreichend Elemente enthalten, die große Fortschritte bringen können. Die Richtung stimmt. Um den Artenschwund zu stoppen und eine nachhaltigere Nutzung unserer Landschaft zu erreichen, müssen wir uns als allererstes ernsthaft auf den richtigen Weg machen – das geschieht mit dem Gesetz.

Im Fachjournal »Science« haben Sie gemeinsam mit Kollegen analysiert, welche Beiträge das Renaturierungsgesetz zur ökologischen Stabilisierung in Europa leisten könnte. Was sind Ihre Ergebnisse?

Um die Klima- und Biodiversitätskrise bewältigen zu können, braucht es eine Transformation der gesamten Landnutzung. Da sind wir uns als Wissenschaftler weitgehend einig. Das Gesetz hilft uns dabei: weg von den Monokulturen, von zu viel Düngung und Chemikalieneinsatz hin zu einer reicher strukturierten Landschaft und Landwirtschaft. Und zu einer weniger stark fleischbasierten Ernährung.

Können Sie uns einen konkreten Punkt nennen? Von welchen Maßnahmen erwarten Sie sich eine wesentliche Verbesserung für die Natur?

Bestäuber sind eine Schlüsselkomponente. Das Gesetz will ihren weiteren Rückgang stoppen, was deutliche Verbesserungen für die Biodiversität in der gesamten Landschaft bringen würde. Denn gute Lebensbedingungen für Bestäuber sind auch gute Lebensbedingungen für viele weitere Arten. Denken Sie nur an die Vögel, die auf Insekten angewiesen sind. Gleichzeitig hilft man so den Bauern, ihre Erträge zu sichern. Fast alle Kulturpflanzen werden von Wildinsekten bestäubt.

Übrigens, das Ziel, den Niedergang der Insekten zu stoppen, war in den Verhandlungen parteiübergreifend nie umstritten. Das zeigt: Es ist mittlerweile Konsens, dass eine intakte Natur auch für unsere Landwirtschaft unverzichtbar ist.

Wie müssen wir uns eine renaturierte Fläche vorstellen? Wildnis, wo einst Acker war?

Nein. Viele Elemente unserer Kulturlandschaft sind gerade deshalb ökologisch wertvoll, weil sie genutzt werden: Streuobstwiesen, auf denen Äpfel wachsen, Wachholderheiden, auf denen Schafe weiden und noch viele mehr. Die Frage ist stets, wie das Land genutzt wird, und nicht immer, ob es genutzt werden darf. Ähnlich ist es bei der Wiedervernässung naturnaher Flächen, auch sie müssen nicht zwangsläufig aus der Nutzung genommen werden. Aber natürlich muss es ebenfalls Orte geben, in denen der Natur erlaubt wird, sich ungestört nach eigenen Gesetzen zu entwickeln. Wildnis, wenn sie so wollen. Das ist aber nur ein Teil des Konzepts.

»Wir müssen darüber sprechen, was uns Natur in der Landwirtschaft wert ist: gesünderes Essen, sauberes Wasser, Klimaschutz. Das müssen wir angemessen honorieren«

Die Landwirtschaftsminister von unionsgeführten Bundesländern haben an die Europaabgeordneten appelliert, das Gesetz noch zu stoppen, weil es die Lasten einseitig bei Land- und Forstwirten abladen würde. Halten Sie es für ausgewogener?

Natürlich muss Renaturierung dort stattfinden, wo die Vielfalt am stärksten gelitten hat. Das sind nun einmal auch land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen. Das muss aber mitnichten einseitig zu Lasten der Landnutzer gehen. Es geht um einen Wandel mit der Landwirtschaft – nicht gegen sie. Nochmals: Renaturierung ist im Sinn der Landwirtschaft. Man kann Flächen nur dann zur Nahrungsproduktion nutzen, wenn darauf lebensfähige ökologische Strukturen existieren. Naturschutz, Landwirtschaft und die Sicherung von Erträgen sollten wir als Dreiklang begreifen. Das ist aber letztlich eine Aufgabe nicht nur für Naturschützer und Landwirte, sondern für die ganze Gesellschaft.

Wie meinen Sie das?

Die Landwirtschaft ist letztlich ein Dienstleister für die Gesellschaft. Sie stellt bereit, was die Gesellschaft nachfragt. Also müssen wir als Gesellschaft darüber sprechen, was uns mehr Natur in der Landwirtschaft wert ist: gesünderes Essen, sauberes Wasser, Klimaschutz. Das müssen wir angemessen honorieren. Wenn Renaturierung gut gemacht wird, geht sie also nicht zu Lasten der Landwirte, sondern sichert ihnen eine gute Zukunft. Das ist die gute Botschaft dieser Transformation. Wir können es schaffen, die Menschen bei uns und weltweit mit Nahrungsmitteln zu versorgen, Landwirten ein gutes Auskommen zu gewährleisten und gleichzeitig die Umwelt deutlich weniger zu belasten.

Das klingt dann doch sehr optimistisch. Weniger Pestizide, mehr Biolandwirtschaft und dann noch Brachflächen ganz ohne Bewirtschaftung: Viele Landwirte befürchten gerade durch solche Maßnahmen Ertragseinbußen. Wieso sollte das anders sein?

Für die Landwirte bedeutet Renaturierung konkret, dass sie ihre Bewirtschaftung umwelt- und biodiversitätsfreundlicher gestalten müssen. Mehr Vielfalt durch Hecken, Blühflächen oder temporäre Brachflächen und eine umweltschonendere Bewirtschaftung des Bodens wirkt sich in aller Regel sehr positiv aus. Wasser bleibt besser verfügbar, weniger Boden geht durch Erosion verloren, es gibt mehr Bestäuber und die Bodenfruchtbarkeit verbessert sich. All das geht häufig mit gleich bleibenden oder sogar höheren landwirtschaftlichen Erträgen einher als in der herkömmlichen Form der Landwirtschaft – das ist wissenschaftlich belegt.

Wie wollen Sie verhindern, dass die Umweltbelastungen nicht einfach verlagert werden, indem mehr Waren aus dem Ausland eingeführt werden, um eine vielleicht doch geringere Produktion bei uns auszugleichen?

Wie viel wir importieren, hängt vor allem davon ab, wie wir die landwirtschaftlichen Flächen bei uns nutzen. Bauen wir Lebensmittel für den menschlichen Konsum an, oder produzieren wir Futtermittel für die Fleischproduktion? Letzteres nimmt derzeit 60 Prozent der Flächen in Beschlag. Weniger Fleischkonsum, weniger Verschwendung von Lebensmitteln und weniger Flächenverbrauch für den Anbau von Energiepflanzen – das sind die großen Stellschrauben.

Das Renaturierungsgesetz bleibt bis zum Schluss umkämpft. Befürchten Sie, dass es auf den letzten Metern noch am Widerstand liberal-konservativer und rechtspopulistischer Parteien scheitert?

Ich atme erst auf, wenn es endgültig angenommen ist. Der Kompromiss von EU-Kommission, Mitgliedstaaten und Vertretern des Parlaments hat ein tragbares Ergebnis gebracht und der sollte nicht erneut aufgeschnürt werden. Wenn das Gesetz auf den letzten Metern auf der Strecke bliebe, weil einige Politiker trotz vorheriger Zustimmung Front dagegen machen, wäre das aus meiner Sicht fatal.

Aber nicht ohne Vorbild: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in der vergangenen Woche in Reaktion auf die Bauernproteste die Pestizidrichtlinie zurückgezogen und damit wohl beerdigt. Das war einer der zentralen Pfeiler ihres »Green Deal«, genau wie das Renaturierungsgesetz.

Wissenschaft und Politik waren sich einig, dass wir den Pestizideinsatz verringern müssen, wenn wir die ökologische Krise bewältigen wollen. Das Ziel, die von diesen Stoffen ausgehenden Gefahren um die Hälfte zu verringern, ist international längst akzeptiert. Der Rückzieher von der Leyens ist ein großer Rückschritt für den ganzen Green Deal, den sie vor ein paar Jahren als sehr innovatives Konzept begonnen hat, um mit der Natur gemeinsam unser eigenes Überleben zu sichern. Es ist tragisch, das jetzt einfach aufzugeben.

Wenn Sie einen persönlichen Appell an die Abgeordneten des Europaparlaments richten könnten mit Blick auf die Abstimmung. Was sagen Sie Ihnen?

Ich würde an die Adresse konservativer Parlamentarier sagen, dass wir hier über die Zukunft der Menschheit sprechen und damit auch über die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen. Ich würde an sie appellieren darüber nachzudenken, was es eigentlich heißt, konservativ zu sein. Die Bewahrung von Natur, von Ökosystemen – religiöse Menschen würden von der Schöpfung sprechen – ist ein zutiefst konservatives Element, es steckt bereits im englischen Wort für Naturschutz: conservation.

Kriege, Wirtschaftskrise, das Erstarken von Rechtspopulisten und europaweite Proteste der Landwirte. Es sind keine guten Zeiten für den Naturschutz. Gibt es etwas, das Ihnen dennoch Hoffnung macht?

Mir macht Hoffnung, dass der Schutz der Natur in weiten Kreisen der Gesellschaft – anders als in Teilen der Politik – nicht als Verhinderer oder als Bremse für den Fortschritt wahrgenommen wird, sondern als Teil der Lösung für einige unserer größten Probleme. Wir werden in der Biodiversitätskrise genau wie in der Klimapolitik ums Umsteuern nicht herumkommen. Aber wenn wir abwarten, bis alles zusammenbricht, dann wird der Schaden, dann werden die Kosten gesellschaftlich, finanziell, für die Natur und für jeden von uns viel größer sein. Das haben viele Menschen erkannt.

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