Radikalismus: Islamischer Staat: Warum ist der Dschihad so anziehend?
"Egal, was diese Mörder zu erreichen hoffen, indem sie Unschuldige töten – sie sind schon gescheitert", verkündete Barack Obama, nachdem westliche Journalisten und humanitäre Einsatzkräfte von der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hingerichtet wurden. Aber ist das auch richtig? In Wahrheit deuten die Fakten vielmehr auf das Gegenteil hin. Öffentliche Aufmerksamkeit, das weiß der IS, ist das Lebenselixier für den Terrorismus. Und von dieser Aufmerksamkeit hat die Organisation durch die Enthauptung der zwei US-amerikanischen Journalisten James Foley und Steven Sotloff sowie des Franzosen Hervé Gourdel zur Genüge bekommen. So viel, dass diese Bewegung, die vor einigen Monaten kaum jemand kannte, heute für Öffentlichkeit und Politik die Hauptsorge darstellt. Sie verdrängt die atomare Aufrüstung im Iran und in Nordkorea, die Bedrohung durch die Verbreitung von Atomwaffen und selbst die Ambitionen Russlands, das alte Zarenreich zurückzugewinnen. So gelangen jene Machtspiele und anarchische Rivalitäten zurück auf die Tagesordnung, die einst zwei Weltkriege hervorbrachten und die nun dem noch verheerenderen dritten den Weg bahnen könnten.
Die ebenso grausamen wie erschütternden Taten des IS zielen darauf, die Öffentlichkeit zu terrorisieren und zu beeindrucken. Ihr Aufruhr, besonders durch Politiker liberaler westlicher Demokratien, beschleunigt unausweichlich politische Aktionen oder vielmehr Reaktionen. So geschah es, als Großbritannien und die USA undifferenziert und inkonsequent reagierten und aus Al Qaida – einer zunächst begrenzten, wenn auch entschlossenen Gruppe von relativ gut ausgebildeten und gewalttätigen Extremisten – eine soziale Bewegung entstehen ließen. Eine Bewegung, die Tausende von Moslems anzieht, arbeitslose Immigranten im Westen ebenso wie Millionen andere, die als Rückkehrer in ihrem Land politisch und wirtschaftlich frustriert und desillusioniert sind. In Europa sagen mir selbst jene, die Gewalt am meisten ablehnen, "man hätte uns ohne Al Qaida vergessen", und in der gesamten islamischen Welt sei das Vermächtnis des "Cheikh Oussama" oft gleichbedeutend mit Anerkennung und Respekt.
Eine Sache, die es zu verteidigen gilt
Trotzdem: Anders als Al Qaida, die den IS Anfang 2014 ausschloss, akzeptiert dieser keine Kompromisse bei der Deutung der Mittel und Ziele des Islam und noch weniger bei dessen Mission: die Welt zu regieren. Kurz vor seinem Tod erklärte der Gründer des IS, Abu Musab al-Zarqawi, die Schiiten seien das größte Übel der Menschheit und ihre Vernichtung habe oberste Priorität. Nach dieser Sicht, die heute auch sein Nachfolger Abu Bakr al-Baghdadi verkündet, sind die USA und Großbritannien zu schwach in ihrem Glauben an ihre Ideale, um einen ernst zu nehmenden Feind darzustellen. In den Augen der Dschihadisten habe die Sache selbst stets Vorrang vor etwaigen materiellen Vorteilen, sofern ihnen schon ausreichende Mittel für ihre Mission zur Verfügung stehen.
Der Mensch empfindet ein gewisses Vergnügen am Schauspiel des Schreckens
Tatsächlich haben seit dem Zweiten Weltkrieg Gruppen von Rebellen und Revolutionären staatliche Armeen besiegt, die über bis zu zehnmal mächtigere Waffen verfügten, und zwar vielmehr wegen ihres entschlossenen Eintretens für ihre Sache als wegen erhoffter Vorteile wie einer Vergütung oder Beförderung. Dessen ungeachtet und gestützt auf die jüngere Geschichte hofft der IS darauf zählen zu können, dass die USA und Großbritannien eine Spirale aus Völkerkriegen und transnationalen Kriegen auszulösen helfen – bis hin zu einem Armageddon, der Rückkehr in ein imaginäres goldenes Zeitalter der arabischen Herrschaft in allen muslimischen Ländern und ihrer Herrschaft über Eurasien und Afrika. Und das, obwohl die fünf Jahrhunderte von 750 bis 1258, in denen die Dynastie der Abbassiden die muslimische Welt regierte, von relativer sozialer Toleranz, philosophischer Vielfalt und bemerkenswertem wissenschaftlichem Fortschritt in Medizin und Mathematik geprägt waren.
Nervenkitzel und Terror
Die Gewalt, die der IS ausübt, ist alles andere als grundlos und nihilistisch – zwei Anschuldigungen, die häufig von jenen hervorgebracht werden, die die Anziehungskraft ihrer Feinde nicht wahrhaben wollen. Die moralische Weltsicht der Dschihadisten wird beherrscht vom "Erhabenen", wie es der irische Philosoph Edmund Burke (1729-1797) nannte: einem mächtigen, leidenschaftlichen Reiz für den "exquisiten Schrecken", jenes einzigartige Gefühl angesichts der Todesangst anderer. Ihm zufolge empfindet der Mensch ein gewisses Vergnügen am Schauspiel des Schreckens, weil er darin die Manifestation von höheren Mächten vermutet. Der Terror komme deshalb der Ehrfurcht vor Gott nahe.
"Keine Gefühlsregung beraubt den Geist so sehr seiner Handlungsfähigkeit und seiner Vernunft wie die Angst", schrieb Burke. "Denn weil Angst die Furcht vor Leid und Tod ist, wirkt sie ähnlich wie Schmerz. Somit ist alles, was schrecklich erscheint, erhaben." Doch damit der Terror im Namen des Erhabenen gedeihe, "scheint die Finsternis grundsätzlich notwendig", führt er weiter aus. "Die despotischen Regierungen, die sich die menschlichen Gefühle zu Nutze machen, vor allem die der Angst, verbergen ihren Chef so weit möglich vor den Augen des Volks." Al-Baghdadi erfüllt diese Bedingungen zweifellos.
Das Erhabene ist etwas zutiefst Körperliches und Viszerales; es ist verankert in den Gefühlen und der Identität und nicht nur ein Schlüsselbegriff unserer modernen Ideologien, für die die Vernunft und der Geist die Meister der Leidenschaft sind. Dahinter steckt keine Gehirnwäsche, anders als etwa ein alter Mythos glauben machen will, dem zufolge alliierte Soldaten während des Koreakriegs von Kommunisten "gebrochen" worden seien.
Die Freiwilligen des IS "surfen" auf dem Gefühl der Erhabenheit, das dem müden demokratischen Liberalismus besonders an den Rändern der Gesellschaft fehlt
Die westlichen Freiwilligen, die dem IS beitreten, sind häufig junge Menschen, die sich gerade in einer Umbruchphase befinden: Sie haben ihre Heimat verlassen und noch keine neue gefunden. Sie haben ihre Arbeit oder ihre Freundin verloren und noch keine neue gefunden. Die meisten haben keine religiöse Erziehung erfahren; durch den Dschihad erleben sie eine Art religiöse Neugeburt. Jugendliche auf der Suche nach sich selbst finden ihren Weg in den Dschihad bei Grillpartys, beim Sex und vor allem im Internet. Sie radikalisieren sich, wenn sie sehen, wie ihre Eltern von Beamten gedemütigt werden oder wie ihre Schwester beleidigt wird, weil sie ein Kopftuch trägt. Die meisten wagen den Schritt nicht. Aber einige schon, und sie nehmen ihre Freunde mit.
Vor dem Komitee der Streitkräfte des US-Senats habe ich Folgendes ausgesagt: Was die Terroristen am meisten antreibt, ist weniger der Koran oder seine religiösen Lehren als der Appell und die Vorstellung, sich für eine aufregende Sache einzusetzen. Eine Sache, die Ruhm und Anerkennung in den Augen der Freunde verspricht, deren unvergänglichen Respekt und dass sich die Welt vielleicht erinnert, auch wenn die meisten diese "Anerkennung" selbst nicht mehr erleben werden. Der Dschihad ist eine Art Arbeitgeber, der allen die gleichen Chancen zum schnellen "Ruhm" bietet. Die Gefahr motiviert sie zusätzlich, vor allem jene, die noch nie eine solche Erfahrung gemacht haben.
Laut einer Umfrage, die das britische Forschungsinstitut ICM im Juli 2014 durchführte, haben 16 Prozent der Franzosen, darunter 27 Prozent der Jugendlichen, eine gute oder sehr gute Meinung vom Islamischen Staat, obwohl weniger als sechs Prozent der Franzosen muslimischen Glaubens sind. Diese Zahlen stehen im Kontrast zu jenen 13 Prozent, die den IS im Gazastreifen unterstützen, wenn man einer palästinensischen Umfrage vom August 2014 glauben darf.
Sich im Kampf lebendig fühlen
In "Mein Kampf" erklärte Adolf Hitler: "Alle großen Bewegungen aber sind Volksbewegungen, sind Vulkanausbrüche menschlicher Leidenschaften und seelischer Empfindungen, aufgerührt entweder durch die grausame Göttin der Not oder durch die Brandfackel des unter die Masse geschleuderten Wortes." Aber das Wort muss auf der Bühne des Erhabenen in Szene gesetzt werden. In den 1930er Jahren sahen Charlie Chaplin und der französische Regisseur René Clair einen Nazipropagandafilm der Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl. Chaplin lachte darüber, aber Clair versetzte die Vorstellung in Panik und Schrecken, dass dieser Film im Westen gezeigt würde. George Orwell erkannte das schon 1940 in seiner Analyse von "Mein Kampf": "Der Sozialismus und der Kapitalismus versprachen den Menschen gute Zeiten. Hitler bot ihnen den Kampf, die Gefahr und den Tod. Und das Ergebnis war, dass eine ganze Nation vor seinen Füßen niederfiel."
Die Freiwilligen des IS "surfen" auf dem Gefühl der Erhabenheit, das dem müden demokratischen Liberalismus besonders an den Rändern der Gesellschaft fehlt, wo die meisten Immigranten in Europa leben. Viele von ihnen sind lediglich Dschihad-Touristen, die während der Ferien für etwas Nervenkitzel und Aussicht auf Ruhm nach Syrien reisen und die danach in den Westen, in ihr komfortableres, doch seelenloses Leben zurückkehren. Aber die zwischenzeitlichen Erfolge des IS wuchsen ebenso wie der Einsatz seiner Anhänger. Seine Taten bewirken dasselbe wie einst die Bilder des World Trade Center: Sie machen aus dem Terror eine Demonstration des Triumphs vor Tod und Zerstörung.
Ist unser Ideal nur ein Ideal der Bequemlichkeit, der Sicherheit und der Schmerzvermeidung?
Im Sinne von Burke manifestiert sich darin das Erhabene. Wie der spanische Philosoph Javier Gomá Lanzón kürzlich betonte: Macht dieser Sinn für das Erhabene einen Teil der Anziehungskraft des IS aus, gemeinsam mit dem Streben nach Großartigkeit und Ruhm im abenteuerlichen, gefährlichen Kameradentum? Ist das Desinteresse des Westens am oft mit Skepsis und Zynismus betrachteten Erhabenen unser Fehler?
Die Gottesfurcht und seine vielfältigen Darstellungen in der Kunst und den Ritualen repräsentierten früher das Erhabene des Westens, gefolgt von einem heftigen Kampf für die Freiheit und Gleichheit. Der englische Historiker Arnold Toynbee (1852-1883) behauptete, dass Zivilisationen entsprechend der Vitalität ihrer kulturellen Ideale gedeihen und vergehen und nicht gemäß ihrem materiellen Reichtum. Unterstützt von der National Science Foundation der USA und dem Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Frankreich fanden meine Kollegen und ich heraus, dass die meisten Gesellschaften "heilige" Werte haben, für die ihre Mitglieder eher zu kämpfen, viel zu opfern oder sogar zu sterben bereit sind, als dass sie einen Kompromiss akzeptieren würden. 1776 hatten die amerikanischen Kolonien den höchsten Lebensstandard auf der Welt. Und dennoch, als sie ihre "heiligen" Werte bedroht sahen (so Thomas Jefferson in seinem Entwurf zur Unabhängigkeitserklärung), wollten sie "ihr Leben, ihr Vermögen und ihre heilige Ehre" im Kampf gegen das britische Königreich opfern, zu jener Zeit das mächtigste der Welt.
Ist unser Ideal nur ein Ideal der Bequemlichkeit, der Sicherheit und der Schmerzvermeidung? Das vermutete Orwell, um zu erklären, wie Nazis, Faschisten und Stalinisten die Begeisterung vor allem abenteuerhungriger junger Menschen wecken konnten. Für die Zukunft liberaler Demokratien könnte das, auch unabhängig von der Bedrohung durch gewaltbereite Dschihadisten, eine zentrale Frage sein. Menschen definieren ihre Gruppenzugehörigkeit mit abstrakten Begriffen. Sie streben oft nach dauerhaften geistigen und emotionalen Verbindungen mit Menschen, die sie noch nicht kennen, und sie sind bereit zu töten oder zu sterben, nicht um ihr eigenes Leben oder das ihrer Familien oder Freunde zu schützen, sondern für eine Überzeugung – eine metaphysische moralische Vorstellung davon, wer sie sind. Das sei das "Privileg des Absurden, dem keine Kreatur untertan ist außer dem Menschen", schrieb Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem "Leviathan". Und Charles Darwin (1809-1882) sah darin die Tugend der "Moral, (…) den Geist des Patriotismus, die Treue, den Gehorsam und das Mitgefühl", die gemeinsam im Kampf ums Überleben und der Herrschaft siegreich sind. Quer durch alle Kulturen bilden sich die stabilsten Gruppenidentitäten auf der Basis heiliger Werte, oft in Form von religiösem Glauben oder transzendentalen Ideologien. Und diese bringen, entgegen allen Erwartungen, bestimmte Gruppen dazu, andere mit Gewalt beherrschen zu wollen.
In einer Welt, wie wir sie uns wünschen – mit einer liberalen Demokratie, mit Toleranz, Vielfalt und sozialer Gerechtigkeit –, gilt Gewalt, besonders in ihren extremen Formen wie Massenmord, im Allgemeinen als pathologisch, als dunkle Facette einer gestörten menschlichen Natur oder als Kollateralschaden einer guten Absicht. Aber die ganze Geschichte hindurch und in sämtlichen Kulturen wurde Gewalt gegenüber anderen Gruppen von den Tätern als erhabener, moralischer Akt dargestellt. Denn ohne sich dabei Tugendhaftigkeit anzumaßen, ist es schwer, eine große Zahl von Unschuldigen töten zu wollen.
Der Artikel erschien unter dem Titel "État islamique: l'illusion du sublime?" in Cerveau&Psycho N°66 – novembre – décembre 2014. Die Meinungen unserer Autorinnen und Autoren geben nicht unbedingt die Position der Redaktion wieder.
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