Schweifsterne: ISON der verhinderte Jahrhundertkomet
Am 28. November 2013, nach einer 4,5 Milliarden Jahre langen Reise, wurde offenbar, dass die in ihn gesetzten Hoffnungen seine Möglichkeiten weit übertroffen hatten. Komet C/2012 S 1 (ISON) zerbrach in der Hitze der Sonne – wie so viele Kometen vor ihm. Geradezu poetische Worte fand Karl Battams vom Team der Comet ISON Observing Campaign (CIOC) der NASA in seinem Blog: "Unsere grünlich leuchtende Kerze im Sonnenwind verlosch auf tragische Weise." Noch im Blickfeld der Sonnenobservatorien SOHO und STEREO begannen sich ISONs Überreste aufzulösen. Der "große Komet" am Dezemberhimmel aber, von vielen sehnsüchtig erwartet, blieb damit ein Wunschtraum.
ISONs feuriges Ende markierte den Schlusspunkt unter einer monatelangen Aufmerksamkeitswelle, wie sie seit dem berühmt-berüchtigten Kometen Kohoutek (C/1973 E 1) im Jahr 1973 keinem Kometen mehr zuteil geworden war. Die Parallelen sind bemerkenswert: Fast auf den Monat genau 40 Jahre vor ISON strafte Kohoutek all die Weissagungen Lügen, die ihn vorschnell zum "Jahrhundertkometen" erhoben hatten. Bei Kohoutek, wie bei ISON, zeigte sich, dass die Helligkeitsentwicklung von Kometen, die zum ersten Mal in das innere Sonnensystem vorstoßen, unmöglich seriös vorherzusagen ist. Damals wie heute enttäuschte der Medienhype Millionen Sterngucker, die statt des erhofften Spektakels vergebens in den Nachthimmel blickten. Dabei überlebte Kohoutek immerhin seinen Vorbeiflug an der Sonne und lieferte noch eine mittelmäßige Vorstellung am Himmel.
Für die übersteigerten Erwartungen im Falle von ISON gab es zwei Gründe. Der erste war die ungewöhnliche Bahn des Kometen. Schon kurz nachdem Witalij Newskij und Artjom Nowitschonok den Kometen am 21. September 2012 am Kislowodsk-Observatorium im russischen Kaukasus als 19 mag schwaches Lichtpünktchen entdeckt hatten, konnte seine Bahnkurve mit Hilfe älterer Aufnahmen robotischer Teleskope (die den Kometen zwar vor der Entdeckung abgelichtet, aber nicht erkannt hatten) bestimmt werden (siehe Bild S. 68). So war schnell klar, dass sich ISON am 28. November 2013 bis auf 1,16 Millionen Kilometer an die Sonnenphotosphäre annähern würde – weniger als einen Sonnendurchmesser. Der zweite Grund war eine Fehleinschätzung, die ebenfalls an Kohoutek 1973 erinnert: Aus der relativ großen Helligkeit des Kometen bei seiner Entdeckung (ISON war Ende September 2012 noch 6,4 Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt) schlossen Astronomen auf einen großen und sehr aktiven Kern – von einem Kerndurchmesser von 40 Kilometer war die Rede.
Das hätte etwa der Größe des Kerns von Hale-Bopp (C/1995 O 1) entsprochen. Ein großer Komet, dicht an der Sonne, dessen Bahnelemente noch dazu denen des "Großen Kometen" von 1680 ähnelten – das beflügelte die Fantasie von Profiastronomen und Amateuren. Selbst als längst klar war, dass die ersten Einschätzungen am optimistischen Ende der Skala gelegen hatten, machte der Begriff des "Jahrhundertkometen" weiter die Runde. Manche Medienberichte erklärten noch im Herbst 2013, dass ISON "hell wie der Vollmond" werden könne – und verschwiegen dabei, dass die Sonne gleich daneben gestanden hätte. Dass die Erwartungen in den Folgemonaten nach seiner Entdeckung immer weiter gedämpft wurden, war kaum verwunderlich. Im April 2013 zeigten Beobachtungen des Weltraumteleskops Hubble, dass ISONs Kern erheblich kleiner war als ursprünglich vermutet. Sein Durchmesser konnte mit Hubble auf einen Höchstwert von vier Kilometern eingegrenzt werden, aus den Bildern der HIRISE-Kamera an Bord des Mars Reconnaissance Orbiter (MRO), aufgenommen beim Vorbeiflug des Kometen am Roten Planeten Ende September, ergab sich gar ein Durchmesser von nur zwei Kilometern.
Am seidenen Faden"
ISONs Auftritt im Dezember hing fortan am seidenen Faden: Die zwei Kilometer sollten gerade ausreichen, dass der Komet seinen Höllenritt um die Sonne in einem Stück würde überleben können. Seine relativ große Helligkeit zum Zeitpunkt seiner Entdeckung dürfte – wie seinerzeit bei Kohoutek – auf das Ausgasen leicht flüchtiger Gase zurückzuführen gewesen sein; jedenfalls nahm sie in den folgenden Monaten weit weniger stark zu als erhofft. Vermutungen und Spekulationen, der Kometenkern sei bereits in mehrere Teile zerfallen, oder ein Zerbrechen stehe kurz bevor, begleiteten ISON auf seinem restlichen Weg zum Perihel.
Die Hubblebilder ließen aber auch eine andere Interpretation zu, denn sie zeigten eine Art Jet aus frisch ausgeworfenem Kometenmaterial auf der sonnenzugewandten Seite des Kopfs, der seine Position nicht veränderte. Lag dieser damit zufällig an der Rotationsachse des Kerns, bedeutete dies, dass bislang nur eine Seite von der Sonne beschienen worden war – eine sehr ungewöhnliche Konstellation. Manche Forscher versuchten die nachlassende Aktivität des Kometen damit zu erklären, dass die permanent dem Sonnenlicht ausgesetzten Eisreservoire bereits ausgelaugt seien, und dass bei seiner Perihelpassage frische, bislang von der Sonne abgewandte Regionen dem Kometen neues Leben einhauchen könnten. Eine optimistische Prognose, doch auf späteren Hubblebildern war der Jet nicht mehr zu erkennen; der Grund für sein Verschwinden ist bis heute unklar.
Noch ist er gesund
Ende August erschien ISON nach seiner Konjunktion hinter der Sonne erstmals wieder am Morgenhimmel. Zur Ernüchterung der Kometenbeobachter war er fast zwei Magnituden lichtschwächer als erwartet. In Fernrohren und auf Fotos erschien er aber weiterhin "gesund" – eine Fragmentation des Kerns war nicht zu erkennen. Auch stieg seine Helligkeit langsam, aber stetig an. So blieb die Hoffnung erhalten. Genau zwei Wochen vor seinem Perihel – ISON hatte bereits den Venusorbit durchschritten – änderte sich diese Situation, und zwar schlagartig: Der Gasausstoß des Kometen schoss innerhalb weniger Stunden nach oben, das zeigten Messungen des belgischen TRAPPIST-Teleskops auf La Silla (Chile). Die Helligkeit der Kometenkoma stieg folgerichtig an, über mehrere Tage um eine Magnitude pro 24 Stunden. ISON war aufgewacht und zu einem einfachen Feldstecherobjekt geworden. Parallel dazu entwickelte sich ein prächtiger Schweif.
Auf Fotografien konnte man den strukturierten Plasmaschweif bis über eine Länge von acht Grad verfolgen. Ab dem 14. November war ISON sogar mit dem bloßen Auge sichtbar – wenn auch nur für erfahrene Beobachter unter dunklem Himmel. s schien, als wollte ISON seine träge Entwicklung der vergangenen Monate auf einen Schlag wettmachen. Ein zweiter Ausbruch am 19. November ließ seine Helligkeit nochmals ansteigen, wenngleich der Komet nun in der Morgendämmerung nur noch schwer zu erkennen war. In die Euphorie mischten sich sogleich vorsichtige Stimmen. Hatte die stärker werdende Sonneneinstrahlung neue Eisreservoire freigelegt? Oder waren die Ausbrüche in Wirklichkeit die sichtbaren Anzeichen für ein Zerbrechen des Kerns?
Auch wenn viele Beobachter, vor allem unter den Amateurastronomen, die erste Variante favorisierten, wiesen die Indizien auf das zweite, unerfreulichere Szenario: Ein Team um Hermann Böhnhardt vom Max-Planck Institut für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau entdeckte Mitte November am Wendelstein-Observatorium in den bayerischen Alpen Strukturen in der Kometenkoma, die wie "Schwingen" aussahen. Solche Komaschwingen hatten bereits bei anderen Kometen die Fragmentation des Kerns in mehrere größere Bruchstücke angezeigt. Battams und das CIOC-Team erklärten die Schwingen dagegen durch eine Wechselwirkung des Komamaterials mit dem Sonnenwind.
Aber die schlechten Nachrichten rissen nicht ab. Einige Amateurbeobachter, die ISON Ende November noch kurz vor seinem Entschwinden in der hellen Morgendämmerung erhaschen konnten, bemerkten eine Verlangsamung seiner Helligkeitszunahme. Spanische und amerikanische Astronomen fanden mit dem IRAM-Radioteleskop in der andalusischen Sierra Nevada am 25. November schließlich einen dramatischen Einbruch in der Gasproduktion des Kometen. Diese ließ sich eigentlich nur noch mit dem Worst-Case-Szenario erklären – mit der völligen Auflösung des Kometenkerns.
Am 28. November, dem Tag des Perihels, wurde diese Befürchtung zur Gewissheit. Waren auf den Bildern der Sonnensonde SOHO anfangs noch eine negative Magnitude anzeigende Helligkeitsspikes zu erkennen, verblasste der Komet innerhalb weniger Stunden. Noch vor Erreichen des sonnennächsten Punkts war aus dem kompakten Kometenkopf ein lang gezogener Schweif geworden. Die Sonnensonde SDO, die eigens für diesen Zweck ein halbes Grad von der Sonne weg gerichtet wurde, fand auf ihren im extremen Ultraviolett aufgenommenen Bildern keine Spur mehr von ISON – die Sonde hätte freigesetzte Sauerstoffionen des Kometen feststellen sollen.
Das Ende
Am späten Abend verkündeten NASA und ESA bereits das Ableben des Kometen – etwas voreilig, denn wenig später manifestierte sich, dass zumindest ein Teil überlebt hatte. Was aber zunächst wie ein "echter" Komet mit Kopf und Schweif aussah, entpuppte sich einen Tag später, immer noch auf den SOHO-Bildern, als eine sich auflösende Wolke aus Trümmern und Staub, die keinerlei Gasemission mehr zeigte.
Hat sich der verhinderte Jahrhundertkomet damit als "Jahrhundert-Flop" entpuppt? Gemessen an den übersteigerten Erwartungen: leider ja. Aber auch wenn das vorweihnachtliche Himmelsschauspiel (das in der Rückschau nie sehr wahrscheinlich war) ausgefallen ist, war C/2012 S1 (ISON) für die astronomische Forschung alles andere als eine Enttäuschung. Nie zuvor wurde ein Sonnenstreifer so lange vor seinem Perihel entdeckt, nie zuvor konnte die Perihelpassage eines solch ungewöhnlichen Kometen aus der Oortschen Wolke so detailliert verfolgt werden. Ein Dutzend Weltraumfahrzeuge hatte ISON im Blick, neben Hubble, STEREO und SOHO auch EPOXI, Swift, Spitzer und MRO. Die Astronomen werden noch eine Weile damit zu tun haben, die Bilder und Daten der Raumsonden und der erdgebundenen Observatorien auszuwerten. Nach wie vor ist der Zeitpunkt der Fragmentation unklar – vermutlich handelte es sich um einen graduellen Prozess.
Für viele Amateure – aber auch für die Wissenschaftskommunikation – bleibt ein leicht fader Beigeschmack. Zwar gibt es die Auffassung, dass jede Art der Propaganda letztlich der Sache dient, doch darf die Frage erlaubt sein, ob das Wecken übersteigerter Hoffnungen und deren Nährung durch übertriebene Berichte, "ISON-Webseiten", "ISON-Bücher", und "ISON-Reiseangebote "nicht ein Schuss über das Ziel hinaus war. "Comet ISON blazes into Glory", titelte die amerikanische Zeitschrift "Astronomy" noch in ihrer Novemberausgabe, als längst klar war, wie ungewiss das Schicksal des Kometen sein würde – mit einer Abbildung von Hale-Bopp. Vielleicht lag das Kohoutek-Desaster für die heutige Generation schon zu weit zurück.
Seine Wirkung hat der ISON-Hype jedenfalls nicht verfehlt, das Interesse war gewaltig. Die Perihelpassage am Abend des 28. November wurde live im Internet von Millionen Menschen verfolgt und in astronomischen Foren heiß diskutiert. Die Zugriffszahlen auf das Blogportal kosmologs.de erreichten Rekordwerte. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, über den die neuesten Entwicklungen in Echtzeit tickerten, sammelten sich zwischen dem 20. und 30. November über 330 000 Tweets von mehr als 140 000 Nutzern unter dem Stichwort "ISON". Es bleibt zu hoffen, dass das geweckte Interesse an Kometen im Besonderen und der Astronomie im Allgemeinen nicht ebenso schnell verpufft, wie es entstanden ist.
"ISON hinterlässt ein beispielloses Erbe, mit dem sich Astronomen noch lange beschäftigen werden – und die ewige Dankbarkeit eines verzauberten weltweiten Publikums", schreibt Battams in seiner Dankrede an den verhinderten Jahrhundertkometen. Die Oortsche Wolke ist jedenfalls noch gut gefüllt, der nächste "Jahrhundertkomet" bereits unterwegs. Ihn herbeischreiben allerdings – das wird man wohl niemals können.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben