Demenz: Ist Alzheimer ansteckend?
John Collinge hatte während seiner 25 Jahre in der Neurologie schon etliche Gehirne untersucht. Was er da aber im Januar letzten Jahres unter dem Mikroskop fand, hatte er noch nie zuvor gesehen. Zusammen mit seinem Team von Pathologen betrachtete er die obduzierten Gehirne von vier Patienten, die mit Wachstumshormonextrakten aus dem Körper Verstorbener behandelt worden waren. Erst später hatte sich offenbar herausgestellt, dass einige dieser Extrakte mit fehlerhaft gefalteten Proteinen – so genannten Prionen - kontaminiert waren. Diese sind bekannt dafür, die seltene und tödliche Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) zu verursachen – und in der Tat waren alle vier Patienten infolge der Behandlung im Alter zwischen 40 und 60 Jahren verstorben. Für Collinge sahen die Gehirne ungewöhnlich aus, allerdings nicht wegen der Veränderungen, welche die Erkrankung verursacht hatte, sondern weil sie irgendwie anders vernarbt waren als sonstige Präparate. "Da musste einfach mehr dahinterstecken", erzählt er. Die Gehirne waren übersät mit weißlichen Plaques, wie sie eigentlich für die Alzheimerkrankheit typisch waren – mit anderen Worten: Sie sahen aus wie Gehirne junger Menschen mit einer Krankheit alter Leute.
Collinge kam zu dem beunruhigenden Schluss, dass die Plaques bei der Injektion des Wachstumshormons zusammen mit den Prionen übertragen worden sein könnten, was der erste Hinweis auf die Übertragbarkeit der Alzheimerkrankheit wäre. Wenn sich dies bewahrheiten sollte, könnte das weit reichende Konsequenzen haben. So bestünde nämlich die Möglichkeit, dass bei medizinischen Eingriffen mit Übertragung von Körperflüssigkeiten oder Geweben wie Bluttransfusionen, Organtransplantationen oder anderen Behandlungen so genannte Seeds (Keime) des an Alzheimer beteiligten Beta-Amyloidproteins übertragen werden könnten.
Collinge hatte das Gefühl, die Öffentlichkeit schnell darüber informieren zu müssen und publizierte seine Untersuchungen im September unter der Rubrik "News" in "Nature". "Ist Alzheimer ansteckend?", betitelte kurz darauf die britische Zeitung "Daily Mail" ihren Artikel über die "potenziell explosive neue Studie". Collinge mahnte zur Ruhe. "Unsere Studie zeigt nicht, dass die Alzheimerkrankheit tatsächlich ansteckend ist", betonte er. Weder Pflegekräfte noch Familienmitglieder, egal wie nahe sie dem Betroffenen stehen, werden sich einfach so anstecken. "Die Studie gibt aber zu bedenken, dass Beta-Amyloid-Seeds möglicherweise durch medizinische Eingriffe unbeabsichtigt übertragen werden könnten."
Seitdem sind die Schlagzeilen verschwunden, aber die Arbeit und Diskussion der Wissenschaftler hat begonnen. Können Beta-Amyloidproteine wirklich übertragen werden und wenn ja, sind sie harmlos oder krankheitsverursachend? Könnten auf diese Weise auch andere Erkrankungen weitergegeben werden, bei denen fehlgefaltete Proteine eine Rolle spielen? Im letzten Jahrzehnt mehrten sich Hinweise, die für eine noch kontrovers diskutierte Theorie sprechen: Defekte Proteine, im Allgemeinen als Amyloide bekannt und mit verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimerkrankheit, Parkinson oder Huntington-Krankheit im Zusammenhang stehend, könnten auch Eigenschaften von Prionen haben – unter anderem die Übertragbarkeit. Collinges Daten untermauern diese Theorie zusätzlich.
"Meiner Meinung nach sollten alle Amyloide als gefährlich eingestuft werden, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist"Adriano Aguzzi
Auch wenn die Fragen drängen, kann es Jahre dauern, bis Antworten darauf gefunden werden. Die Veröffentlichung des Teams um Collinge hat zu einer weltweiten Jagd nach ähnlichen Amyloidpathologien in obduzierten Gehirnen geführt. Eine im Januar veröffentlichte kleine Studie deckte eine Hand voll ähnlicher Fälle auf. Forscher versuchen außerdem herauszufinden, wie die vermeintlich übertragenen Amyloidproteine aussehen und ob verschiedene "Stämme" existieren, die besonders verheerend sind. Laut manchen Wissenschaftlern ist es noch zu früh, um wirklich besorgt zu sein. Sie verweisen dabei auf die sehr kleine Zahl von Patienten in Collinges Studie, das Fehlen von Alzheimersymptomen vor dem Tod der Betroffenen und die Beteiligung des Proteins Tau an der Alzheimerkrankheit. "Es gibt keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass Amyloid-Seeds tatsächlich Krankheiten übertragen können oder dass Amyloide sich im Gehirn wie Prionen ausbreiten", erklärt Pierluigi Nicotera, der wissenschaftliche Direktor des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen in Bonn. "Vielleicht gibt es ja noch andere biologische Erklärungen."
Im Moment stehen wenigen gesicherten Antworten viele Bedenken gegenüber. Die Skeptiker haben Sorge, eines Tages vielleicht unter strengen Vorschriften zur biologischen Sicherheit arbeiten zu müssen, obwohl sie selbst ihr Arbeitsobjekt als relativ ungefährlich ansehen. Andere fürchten dagegen, die Gefahren könnten bisher unterschätzt worden sein, und sehen es als Pflicht der Wissenschaftler, möglichst schnell Klarheit zu schaffen. "Meiner Meinung nach sollten alle Amyloide als gefährlich eingestuft werden, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist", meint der Prionen- und Amyloidforscher Adriano Aguzzi vom Universitätsspital Zürich in der Schweiz.
Gefährliche Faltungen
Vor ein paar Jahrzehnten war es irgendwie unvorstellbar, dass ein Protein ohne jegliches genetisches Material oder einen anderen offensichtlichen Weg der Vervielfältigung eine infektiöse Erkrankung verursachen könnte. Das änderte sich 1982, als Stanley Prusiner bei seiner Arbeit an der University of California in San Francisco erstmals Hinweise auf Prionen fand, die Krankheiten verursachten. Der Forscher prägte damals auch ihren Namen aus den Wörtern proteinartig (proteinacious) und infektiös (infectious). Wie Prusiner zeigte, kommen Prion-Proteine (PrP) in einer normalen zellulären und in einer falsch gefalteten infektiösen Form vor. Diese fehlgefalteten Proteine zwingen die normalen Formen dazu, sich ebenfalls falsch zu falten und setzen so eine Kaskade in Gang, an deren Ende die Zellen absterben. Sei es Scrapie bei Schafen, Bovine Spongiforme Enzephalopathie (BSE oder Rinderwahnsinn) bei Rindern oder eine Prionenerkrankung wie CJK beim Menschen – immer verwandelt sich das Gehirn der Betroffenen in eine schwammartige Masse.
Prusiner und andere Wissenschaftler untersuchten auch die Ausbreitung der Prionen. Laut ihrer Arbeiten lässt sich in eigentlich gesunden Tieren eine Erkrankung auslösen, indem ihnen Hirnextrakte mit infektiösen Prionen gespritzt werden. Die Prionen können so aggressiv sein, dass zum Teil schon der Verzehr infizierter Gehirne zur Übertragung der Krankheit ausreicht. So sollen beispielsweise viele Fälle der in Großbritannien in den 1990er Jahren aufgetretenen CJK-Variante (vCJK) ihre Ursache im Konsum des Fleisches von BSE-infizierten Rindern haben.
Seitdem ist den Wissenschaftlern bewusst, dass viele mit neurodegenerativen Erkrankungen assoziierte Proteine fatale Fehlfaltungen eingehen können, einschließlich der bei Alzheimer involvierten Proteine Beta-Amyloid und Tau sowie des bei Parkinson beteiligten α-Synucleins. Strukturbiologen bezeichnen die gesamte Familie der fehlgefalteten Proteine, wie auch PrP, als Amyloide. Beta-Amyloid verklumpt zu weißlichen Plaques, Tau formt Alzheimerfibrillen, auch neurofibrilläre Tangles genannt, und α-Synuclein bildet jene als Einschlüsse bezeichneten fibrösen Ablagerungen.
Auf Grund ihrer Ähnlichkeiten untersuchte der Neurowissenschaftler Mathias Jucker von der Universität Tübingen schon vor einem Jahrzehnt, ob in Mäuse injizierter Gehirnextrakt mit fehlgefaltetem Beta-Amyloid zu dessen abnormaler Anhäufung im Gehirn der Tiere führt. Und so war es, selbst bei Injektion der Amyloide in die Muskeln. "Es gab keinen Grund, warum Amyloidproteine, die in das Gehirn eines Menschen gelangt waren, nicht ebenso eine Amyloidpathologie verursachen sollten", meint Jucker. Damals läuteten nirgends die Alarmglocken, weil keiner sich vorstellen konnte, wie Amyloidprotein aus dem Gehirn eines Alzheimerpatienten überhaupt in den Körper eines anderen Menschen gelangen und auch noch seinen Weg ins Gehirn finden sollte. Diese Frage konnte nur anhand von Personen untersucht werden, die Körpermaterial von anderen erhalten hatten, und deren Gehirn sich später untersuchen ließ; vorzugsweise sollten sie noch recht jung sein und keine spontan entwickelten Frühzeichen der Alzheimerkrankheit haben.
Die Gehirne der CJK-Fälle schienen dafür genau richtig zu sein. Zwischen 1958 und 1985 hatten weltweit etwa 30 000 Personen zur Behandlung ihrer Wachstumsprobleme entsprechende Hormone aus der Nebenniere Verstorbener erhalten. Einige dieser Präparate waren mit Prionen kontaminiert, die CJK auslösten. Wie alle Prionenerkrankungen besitzt CJK eine sehr lange Inkubationszeit; wenn es aber erst einmal begonnen hat, tobt es durch das Gehirn, zerstört alles Gewebe auf seinem Weg und bringt damit typischerweise Personen ab den späten 40er Jahren ums Leben. Laut Statistiken aus dem Jahr 2012 verstarben weltweit 226 Menschen an CJK auf Grund von prionenkontaminierten Wachstumshormonpräparaten.
Collinge hatte es nicht darauf abgesehen, eine Verbindung zur Alzheimerkrankheit zu finden. Er leitete die National Prion Clinic in London und fand den Zusammenhang durch Zufall im Rahmen der Routinearbeit der Klinik. Hier werden etwa 70 Prozent all jener Toten in Großbritannien obduziert, die an einer mit Prionen im Zusammenhang stehenden Erkrankung sterben. Die Klinik sucht dabei nach Anzeichen von Amyloidproteinen im Gehirn, um eine Prionenerkrankung von anderen Krankheiten zu unterscheiden. Dank dieser Routineuntersuchungen wurde ein Cluster von ungewöhnlichen Patientenfällen aufgedeckt, die eindeutig an CJK verstorben waren, die aber auch deutliche Anzeichen einer Amyloidpathologie in ihrer grauen Gehirnsubstanz und den zerebralen Blutgefäßen aufwiesen.
Schon beim ersten Blick auf die Gehirne war Collinge klar, dass er in stürmische Fahrwasser geraten könnte. Einerseits wollte er die Öffentlichkeit vor einem möglichen Gesundheitsrisiko warnen, gleichzeitig wollte er aber auch keine ungerechtfertigte Panik hervorrufen. Deshalb verfasste er eine vorsichtig formulierte Pressemitteilung für das National Prion Centre und richtete eine Hotline für Personen ein, die in der Vergangenheit mit Wachstumshormonen behandelt worden waren. Aber es kam zu gar keiner Panik: Abgesehen von ein oder zwei überspitzten Schlagzeilen, waren die Nachrichten ziemlich verhalten, und nur etwa zehn Personen meldeten sich bei der Hotline.
"Sobald das Paper heraus war, erkannten wir die möglichen Folgen für die Gesundheit"Jiri Safar
Für die Wissenschaftler dagegen war das Paper ein Alarmsignal. "Sobald es heraus war, erkannten wir die möglichen Folgen für die Gesundheit und begannen, Gehirnschnitte und Paraffinblöcke von ehemaligen Patienten zu sammeln", erklärt Jiri Safar, der Direktor des National Prion Disease Pathology Surveillance Center an der Case Western Reserve University in Cleveland in Ohio. Wie auch etliche Pathologen aus anderen Ländern, in denen Patienten nach medizinischen Eingriffen an CJK verstorben waren, durchsuchte er die Archive nach Gehirnpräparaten mit unheilvollen Amyloidablagerungen. Noch gibt es keine Ergebnisse. Laut Safar war es schwierig, in den USA überhaupt an Gehirnproben zu gelangen; inzwischen arbeitet er aber mit dem Nationalen Gesundheitsinstitut der USA (NIH, National Institutes of Health) und den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta in Georgia zusammen. Charles Duyckaerts vom Hôpital de la Salpêtrière in Paris hat bisher schon Hirngewebe von 24 Patienten untersucht und wird seine Ergebnisse wahrscheinlich noch in diesem Jahr veröffentlichen.
Weitere 228 Fälle von CJK scheinen durch die Transplantation von prionenkontaminierter Dura Mater verursacht worden sein. Diese Membran umhüllt das Gehirn und das Rückenmark und wurde in aller Welt aus Leichen präpariert und bis in die späten 1990er Jahre regelmäßig bei Hirnoperationen als Gewebeersatz genutzt. Für die im Januar veröffentlichte Studie untersuchte Herbert Budka vom Nationalen Referenzzentrum für Prionenerkrankungen am Universitätsspital Zürich mit seinen Kollegen das Gehirn von sieben Patienten aus der Schweiz und Österreich: Fünf von ihnen hatten Amyloidablagerungen in der grauen Substanz und in den Blutgefäßen. In Japan analysiert der Demenzforscher Masahito Yamada von der Kanazawa University ebenfalls gerade eine große Zahl an Obduktionsproben – bei 16 bisher von ihm untersuchten Präparaten fand der Wissenschaftler ungewöhnlich viele Amyloidablagerungen in den zerebralen Blutgefäßen.
All dieses sind aber lediglich Indizien für eine Übertragung von Beta-Amyloidproteinen im Rahmen einer Behandlung. Dabei lässt sich nicht völlig ausschließen, dass die Behandlung selbst oder der ursprüngliche medizinische Zustand der Patienten die Amyloidpathologie verursachte. Um das wirklich herauszufinden wäre zu überprüfen, ob die eingesetzten Wachstumshormone und Dura-Mater-Präparate tatsächlich infektiöse Amyloide enthielten. Möglich wäre dies, indem man sie in Tiere injiziert und beobachtet, ob die Erkrankung auftritt. Die meisten dieser Präparate sind allerdings schon längst nicht mehr vorhanden, doch Collinge hat Zugang zu einigen wenigen Originalproben, die noch beim britischen Gesundheitsamt lagern. Bei diesen möchte er untersuchen, ob sie tatsächlich Beta-Amyloid enthalten, um sie dann in Mäuse zu injizieren – diese Arbeiten werden seiner Meinung nach aber einige Jahre in Anspruch nehmen.
Der unbekannte Amyloidkeim
Dabei stellt sich auch noch ein weiteres Problem: Niemand weiß nämlich genau, welche Größe und Form die so genannten Amyloidkeime haben könnten. Jucker forscht nach ihnen in Gehirnproben, die erst einmal nichts mit CJK zu tun haben und von einem Team aus Bonn gesammelt wurden: Es sind Gefrierproben von mehr als 700 Epilepsiepatienten, die in den letzten 25 Jahren operiert wurden. Dabei war Gewebe entfernt worden, das vermeintlich die Anfälle ausgelöst hatte. "Dies ist derzeit die beste Quelle, um an frisches Hirngewebe vom Menschen zu gelangen", erklärt Jucker. Er möchte es unter dem Mikroskop genau nach allem untersuchen, was kleinen Klumpen oder Beta-Amyloidansammlungen ähnelt. Zu den betreffenden Patienten sind auch Aufzeichnungen über ihre kognitiven Fähigkeiten wie Sprache oder Erinnerungsvermögen aus der Zeit vor und in regelmäßigen Abständen nach den Operationen vorhanden. Hiermit könnte Juckers Gruppe vielleicht einen Zusammenhang von Beta-Amyloidproteinen und längerfristigen Veränderungen in der Gehirnleistung der Patienten finden.
Neben Beta-Amyloid können auch die Proteine Tau und α-Synuclein bei Mäusen pathologisch wirken. In zwei Studien aus dem Jahr 2012 injizierten Wissenschaftler α-Synuclein-Fibrillen in das Gehirn von genetisch veränderten Mäusen, die Symptome einer Parkinsonerkrankung beim Menschen entwickeln. Durch die zusätzliche Injektion von α-Synuclein traten die Parkinsonsymptome schon früher auf und letztendlich der Tod der Tiere. Auch in einer dritten Studie konnten Forscher in normalen Mäusen eine parkinsonähnliche Neurodegeneration und Starre auslösen. Bei Menschen würde α-Synuclein nicht zwangsläufig so aggressiv wirken, weil Mausmodelle zu neurodegenerativen Erkrankungen die Situation im Menschen nicht adäquat widerspiegeln. Trotzdem nehmen Wissenschaftler die Befunde sehr ernst.
Sollte sich die Hypothese von der Übertragbarkeit der Erkrankungen bewahrheiten, hätte das vielerlei Auswirkungen. Amyloide haften ausgesprochen fest an metallischen chirurgischen Instrumenten und lassen sich durch die gängigen Sterilisationsverfahren nicht entfernen. Somit könnten dann tatsächlich Amyloide wie Keime während einer Operation übertragen werden. Die Proteine könnten jahre- oder sogar jahrzehntelang im Körper persistieren, bevor sie sich als Plaques ausbreiten, und vielleicht würden sie auch andere bei Alzheimer relevante pathologische Veränderungen fördern. Unabhängig davon könnte die Ansammlung amyloider Plaques in den zerebralen Blutgefäßen gefährlich sein, weil sie das Risiko für einen Gefäßwanddurchbruch erhöhen und zu kleinen Schlaganfällen führen können.
Zu wenig Daten, um Gefahr auszuschließen
Wenn aber gängige medizinische Eingriffe wirklich das Risiko für neurodegenerative Erkrankung steigern, wäre das nicht schon längst aufgefallen? Nicht unbedingt, meint der Epidemiologe Roy Anderson vom Imperial College London. "Bisher gibt es keine guten epidemiologischen Studien dazu", erklärt er. Hierfür würden sehr große und sorgfältig geführte Datenbanken zu Alzheimerpatienten benötigt, die Informationen über die Entwicklung der Symptome sowie Obduktionsdaten enthielten. Die Gruppe um Anderson sucht gerade in einer Hand voll verlässlicher Datenbanken nach einem Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen medizinischen Eingriffen und dem Fortschreiten der Alzheimerkrankheit. Die bisher verfügbare Zahl an Patientendaten ist vielleicht auch zu klein, um überhaupt Rückschlüsse ziehen zu können, meint er. Wenn es einmal mehr Daten gibt, können sie hoffentlich auch mehr dazu sagen.
"Ich habe schon Albträume, dass jemand aus meinem Labor an Parkinson erkrankt"Adriano Aguzzi
Angesichts all der Unwägbarkeiten handeln viele Forscher und staatliche Gesundheitsbehörden gemäß der Devise "Abwarten und Tee trinken". "Wir stehen hier erst am Anfang", meint Nicotera, "unsere einzige Botschaft ist derzeit: Es dauert noch etwas Zeit, bis wir wissen, ob es sich um einen relevanten Mechanismus handelt." Die CDC und das European Centre for Disease Prevention and Control im schwedischen Solna wollen die Angelegenheit jedenfalls im Auge behalten. Was ist, wenn die Forschung tatsächlich bestätigt, dass häufige neurodegenerative Erkrankungen übertragbar sind? Eine Sofortmaßnahme wäre der Einsatz wirksamerer Sterilisationsverfahren für medizinische und chirurgische Instrumente, bei denen auch Amyloide und Prionen durch extrem hohe Temperaturen und aggressive Chemikalien zerstört würden. Laut Aguzzi sollte schon jetzt durch Fördermittel die Entwicklung günstiger und einfacher Methoden angeregt werden. "Das ist zwar keine so spannende Forschung, aber sie ist dringend notwendig", meint er. Er sorgt sich auch um die Sicherheit der Wissenschaftler, die mit Amyloiden arbeiten, insbesondere mit α-Synuclein. "Ich habe schon Albträume, dass jemand aus meinem Labor an Parkinson erkrankt", sagt er. "Solange alles noch so unklar ist, geht der Schutz unserer Mitarbeiter vor."
Suche nach einem Stamm
Die Ähnlichkeiten zwischen Prionen und anderen Amyloiden öffnen aber auch der Grundlagenforschung neue Wege. Prionen lassen sich in unterschiedliche "Stämme" einteilen: Proteine mit gleicher Aminosäuresequenz, aber unterschiedlicher Art der Fehlfaltung und mit verschiedenen biologischen Verhaltensmustern. Das ist vergleichbar den verschiedenen Stämmen eines pathogenen Virus, die aggressiv oder schwach sein können. Der Ausbruch von vCDK in Großbritannien in den 1990er Jahren konnte auf durch BSE kontaminiertes Fleisch zurückgeführt werden, weil der Prionenstamm bei beiden derselbe war.
Anhand von Tiermodellen wurde in den letzten Jahren gezeigt, dass es verschiedene Arten oder Stämme von Beta-Amyloid und α-Synuclein gibt. In einer bahnbrechenden Veröffentlichung aus dem Jahr 2013 wurden auch Beta-Amyloidproteine mit verschiedener 3-D-Struktur mit dem unterschiedlichen Krankheitsverlauf zweier Alzheimerpatienten in Zusammenhang gebracht. Der Strukturbiologe Robert Tycko hatte die Arbeiten am National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases in Bethesda in Maryland geleitet und untersucht nun noch mehr Gehirnproben betroffener Patienten.
Die Aufklärung der Struktur pathologischer Amyloidproteine könnte bei der Entwicklung so genannter small molecules (kleine Moleküle) helfen; diese könnten durch Bindung verhindern, dass die Amyloide Schaden anrichten, sagt der Biophysiker Ronald Melki vom Institut des Neurosciences Paris-Saclay, der an α-Synuclein arbeitet. Sein Labor entwickelt hierfür kleine Peptide, die Bereiche von Chaperonen nachahmen, welche normalerweise an Proteine binden und bei deren korrekter Faltung mithelfen. Melkis kleine Peptide bilden diese Bindungsregionen nach, lagern sich an die Amyloidproteine an und verhindern so deren weitere Anhäufung.
"Eine meiner Patientinnen erzählte mir einmal, ihr Mann wollte sie nicht mehr umarmen, seit er über das Thema in den Medien gelesen hatte. So etwas macht mich wirklich traurig"Brad Hyman
Als Antwort auf Collinges Veröffentlichung wird derzeit von Forschern viel über Begriffe diskutiert. Einige Wissenschaftler stellen sich gegen das Wort "Prion" im Kontext von Amyloiden aus neurodegenerativen Erkrankungen oder sind gegen die Beschreibung als "prionähnlich", vor allem wegen der Konnotation mit einer infektiösen und tödlichen Krankheit. "Das ist die erste Assoziation der Öffentlichkeit mit diesem Wort", erklärt der Alzheimerforscher Brad Hyman von der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts. Und die Meinung der Öffentlichkeit ist wichtig, auch wenn vielleicht ihre Vorstellung davon falsch ist. "Eine meiner Patientinnen erzählte mir einmal, ihr Mann wollte sie nicht mehr umarmen, seit er über das Thema in den Medien gelesen hatte. So etwas macht mich wirklich traurig", sagt er.
Andere finden es dagegen hilfreich, Prionen und andere Amyloide als Teil jener Erkrankungen zu sehen, bei denen fehlgefaltete und schädlich agierende Proteine eine wichtige Rolle spielen. Forscher, die neurodegenerative Erkrankungen untersuchen und Forscher, die an Prionenerkrankungen arbeiten, erachteten ihre Felder bisher als unterschiedliche Gebiete. Nun stellen sie fest, dass sie doch ähnliche Fragen untersuchen. Keiner der Forschungsbereiche will zu früh Alarm schlagen, auch wenn sie alle überlegen, was wohl die Zukunft noch bringen wird. Jucker meint halb im Spaß, er könne sich vorstellen, dass in Zukunft die Leute alle zehn Jahre ins Krankenhaus gingen und sich dort die Amyloidkeime mit Hilfe von Antikörpern aus dem Gehirn entfernen ließen. "Anschließend hätte man wieder für ein weiteres Jahrzehnt seine Ruhe."
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