Kernschmelze: Ist Tschernobyl heute eine Wildtierheimat?
Am 26. April 1986 ereignete sich im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl ein verheerender Unfall: Als Folge einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Katastrophensimulation schmolzen die Brennstäbe des Reaktors, und es ereignete sich eine Explosion, in deren Folge riesige Mengen radioaktiver Substanzen freigesetzt wurden, die eine Fläche von mehreren tausend Quadratkilometern im unmittelbaren Umfeld des Kraftwerks so stark kontaminierten, dass die Menschen der Region evakuiert werden mussten. Um den Reaktor wurde in der Ukraine und Weißrussland eine Sperrzone eingerichtet, in welche die ehemaligen Bewohner bis heute nicht zurückkehren durften. Stattdessen breitet sich dort zunehmend eine Wildnis aus, in der zahlreiche Tiere leben – darunter auch bedrohte Arten in hoher Dichte, wie nun eine Studie von Jim Smith von der University of Portsmouth und seiner Arbeitsgruppe belegt: Mehrjährige Datenreihen belegen demnach, dass Rot-, Reh- und Schwarzwild in der Region seit dem Unglück stark zugenommen hat.
Ihre Zahl liegt mittlerweile genauso hoch wie in vier vergleichbaren, aber unbelasteten Naturschutzgebieten der Region. Zudem leben rund um Tschernobyl sogar siebenmal mehr Wölfe als in den anderen Reservaten der Studie – das absolute Betretungsverbot und die Angst vor Verstrahlung sorgen dafür, dass die Raubtiere hier nicht gejagt werden. Zusammen mit der hohen Beutedichte ergibt das optimale Lebensbedingungen für die Wölfe. Kamerafallen dokumentierten hier zudem Bären und Luchse, die zuvor in dem Gebiet ausgestorben waren und in der Zwischenzeit wieder zurückgekehrt sind. Andere Arten wie Wisent oder Przewalski-Wildpferde wurden dagegen gezielt in dem Reservat wieder angesiedelt, um die Artenvielfalt zu erhöhen. Rund um den Reaktor wuchsen die Säugetierherden und -rudel, während ihre Zahl zur gleichen Zeit Anfang der 1990er Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion deutlich zurückging.
"Unser Studie sagt nicht aus, dass Strahlung gut für die Tiere ist, sondern dass unsere Gewohnheiten und die Landnutzung – Landwirtschaft, Jagd und Forstwirtschaft – den Arten mehr schaden als die Radioaktivität", so Smith. Frühere Studien hatten immer wieder Belege dafür erbracht, dass radioaktive Substanzen vielen Individuen tatsächlich schaden können. Studien an Rauchschwalben, die rund um den havarierten Kernreaktor leben, deckten beispielsweise auf, dass diese Vögel überdurchschnittlich oft an Missbildungen wie verkümmerten Schwanzfedern oder deformierten Schnäbeln litten. Schäden und Mutationen dokumentierten Biologen zudem bei Insekten, Spinnen, Zugvögeln oder Fischen. Der dänische Forscher Anders Møller von der Université Paris-Sud kritisierte daher schon vor einigen Jahren die Behauptung, dass Tschernobyl ein Naturparadies sei: "Das basiert nur auf anekdotischen Berichten und nicht auf empirischen Studien." Untersuchungen von James Morris von der University of South Carolina in Columbia bestätigten zwar, dass zumindest anfänglich sehr viele Erbgutschäden und Missbildungen bei Fischen und anderen Tieren auftreten. Diese Tiere überleben jedoch kaum bis ins Erwachsenenalter, so dass sich die negativen Einflüsse nicht über Generationen hinweg fortpflanzen, sondern allenfalls immer wieder neu – in abnehmender Zahl – ausbilden.
Mittlerweile hat sich die Datenbasis deutlich vergrößert, unter anderem durch die langjährigen Zählungen großer Säugetiere von Hubschraubern aus. Die Datenreihen zeigen zwar auch, dass Wildschweine nach einem anfangs starken Bestandswachstum vor rund 20 Jahren einen drastischen Einbruch erlitten, doch ließ sich dieser primär auf die Ausbreitung von Wölfen sowie eine Seuche zurückführen. Unklar ist, ob der Krankheitsausbruch mit einem durch die Kontamination geschwächten Immunsystem zusammenhing; seitdem hat sich die Population allerdings wieder deutlich vergrößert. "Unsere Ergebnisse belegen zum ersten Mal statistisch, dass die Ausschlusszone um Tschernobyl heute eine reichhaltige Säugetierfauna beherbergt – ungeachtet möglicher individueller Strahlungsschäden", fassen die Forscher zusammen.
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