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Gesundheit: Ist zu viel Hygiene schuld an Allergien?

Die meisten Wissenschaftler glauben, dass vor allem die Eindämmung krank machender Keime zu einem rasanten Anstieg an Allergien geführt hat. Nun meldet ein US-Forscher Zweifel an.
Schnupfennase

Die alten Perser nannten es "Rosenschnupfen". Dieser befiel vor mehr als 1000 Jahren jedoch nur wenige Zeitgenossen – während der Zeit der Rosenblüte. Heute zählen Allergien dagegen in allen Industrieländern zu den Volkskrankheiten. Laut Statistiken des Robert Koch-Instituts wird hier zu Lande mittlerweile jeder dritte Erwachsene und jedes vierte Kind mindestens einmal in seinem Leben von allergischen Symptomen wie Hautjucken, ständig laufender oder verstopfter Nase, Bindehautentzündung, Asthma oder Durchfall geplagt. Manche erleiden sogar einen lebensbedrohlichen, anaphylaktischen Schock. Jeder zweite Deutsche reagiert zudem in Hauttests auf mindestens eine Substanz allergisch.

Die Erkrankungszahlen steigen in Europa und in den USA nun schon seit fast 150 Jahren an, wie der Allergologe Thomas Platts-Mills von der University of Virginia School of Medicine in einem aktuellen Übersichtsartikel schreibt. Anfangs war es vor allem Heuschnupfen, der die Menschen plagte. Zwischen 1960 und 2000 kam dann vermehrt auch Asthma hinzu, und seit den 1990er Jahren verzeichnen Mediziner schließlich immer häufiger Nahrungsmittelallergien, während Asthma- und Heuschnupfen-Erkrankungen aktuell sogar wieder leicht rückläufig sind.

Bauernhofkinder leiden seltener an Allergien als Stadtkinder

Der Körper der Allergiker rebelliert oft gegen im Grunde harmlose Substanzen wie etwa Pollen, Milchproteine, Tierhaare oder Hausstaubmilben. Die Abwehr wird dann so stark hochgefahren, dass es zu einer überschießenden Reaktion kommt. Aber warum spielt bei immer mehr Menschen das Immunsystem verrückt? Sicher ist, dass die Erbanlagen eine Rolle spielen. So treten bei Kindern mit mindestens einem allergiekranken Elternteil oder Geschwister doppelt so häufig ebenfalls Allergien auf. Zudem sind Mediziner überzeugt, dass auch der Lebensstil und die Umwelt von Bedeutung sind.

Macht zu viel Sauberkeit krank?

Eine der am stärksten favorisierten Theorien ist die so genannte "Hygiene-Hypothese", die der britischen Arzt David Strachan Ende der 1980er Jahre formulierte (er ist heute Professor für Epidemiologie an der University of London). Wie er herausgefunden hatte, kommen Allergien in kinderreichen Familien seltener vor, was offenbar mit vermehrt durchgemachten Infektionskrankheiten zusammenhängt. Und Bauernhofkinder plagen sich nicht so häufig mit Allergien wie Stadtkinder; das wird unter anderem mit schützenden Mikroben aus dem Stall erklärt.

Eine Studie, die 2015 im Fachmagazin "Science" erschienen, zeigt, welche molekularen Mechanismen hinter diesem Phänomen stecken könnten: Ein europäisches Forscherteam injizierte dazu manchen Mäusen so genannte Endotoxine, Zellbestandteile von Mikroben, während andere Nager diese Injektionen nicht bekamen. Die Folge: Endotoxine bewahrten die betroffenen Tiere vor Asthma und Pollenallergien. Ein Blick auf die Lungenzellen der Mäuse offenbarte, dass die behandelten Tiere niedrigere Pegel von Entzündungsstoffen besaßen, wofür das Enzym A20 verantwortlich zu sein schien. Dieses Enzym gibt es auch beim Menschen. Ist das kodierende Gen herunterreguliert, steigt die Wahrscheinlichkeit für Asthma um das Fünffache.

Allergietest | Wenn die Haut im Allergietest schon auf ein Kontaktallergen reagiert, ist es leider zu spät. Nun hilft nur noch Meiden des Auslösers, denn bislang gibt es noch keine Therapie gegen Kontaktallergien.

Zudem hat sich das Halten von Haustieren, die regelrechte Keimschleudern sind, vielfach als immunstärkend erwiesen. Vermutlich kommt also der menschliche Organismus mit zu viel Sauberkeit nicht klar und braucht sogar in gewissem Maß Kontakt zu einer Vielfalt an Parasiten und Mikroben, weil diese im Zuge der Evolution das Immunsystem geprägt haben. Viele Wissenschaftler halten die Hygiene-Hypothese für sehr wahrscheinlich.

Kritik an der Hygiene-Hypothese

Thomas Platts-Mills zählt nicht dazu. In seiner aktuellen Veröffentlichung belegt er, wie sich die Lebensverhältnisse in den Industrieländern im Lauf der Zeit gewandelt haben und wie das mit dem Anstieg der Allergien zusammenpasst. Das vermehrte Auftreten von Pollenallergien im ausgehenden 19. Jahrhundert fällt dabei tatsächlich mit einschneidenden Veränderungen in Landwirtschaft und Hygiene zusammen. In Städten wurde etwa immer häufiger Trinkwasser aus Quellen geschöpft, die nicht mit ungefiltertem Abwasser verunreinigt waren. Zudem entstanden mehr Ackerflächen, wodurch die Pollenbelastung stieg. Das Tragen von Schuhen setzte sich auch in ärmeren Schichten durch, was Infektionen mit Würmern minimierte. Auch Pferde (und damit deren Ausscheidungen) wurden weniger.

Durch die verbesserte Hygiene hat man zahlreiche Krankheitserreger aus dem Alltag des Menschen gedrängt. Seither gibt es nicht nur weniger Wurmerkrankungen, es wurden in Nordamerika und Europa auch Tuberkulose, Typhus, Cholera oder Malaria ausgerottet. Und ja, hier glaubt auch Platts-Mills, dass das Plus an Hygiene ein wesentlicher Faktor war, der zum Anstieg an Heuschnupfen seit 1870 geführt hat. "Doch die großen Veränderungen waren in Städten wie New York oder München bereits 1920 abgeschlossen", argumentiert Platts-Mills. Während die echte Allergie-Epidemie erst ab den 1960er Jahren an Fahrt aufnahm.

Die Verlagerung des Lebens von der Straße in die Wohnräume brachte die Menschen enger mit Hausstaubmilben in Kontakt

Damals bereitete vor allem Asthma bei Kindern Medizinern Kopfschmerzen. Platts-Mills glaubt, dass dies mit der Verlagerung des Lebens von der Straße in die Wohnräume zusammenhängt. "Dafür spricht etwa, dass vor allem in Ländern, wo Hausstaubmilben die vorrangigen Allergene waren, wie Australien, Japan oder Großbritannien, die Asthma-Zahlen rasant stiegen", schreibt der Forscher. Damals wurden Häuser immer besser isoliert, zudem gab es mehr Teppiche – ein Paradies für Milben. Außerdem veränderte sich die Atmung der Kinder seit Einführung des Kinderfernsehens. Weniger Bewegung führt zu einer flacheren Atmung, und die Kinder seufzen weniger. Studien hätten jedoch belegt, dass tiefes Atmen und gelegentliches Seufzen die Lungenmuskulatur dehnt und damit stärkt, was wiederum Asthma vorbeugt.

Hat sich die Durchlässigkeit der Haut verändert?

Die Nahrungsmittelallergien, die sich zunehmend auf dem Vormarsch befinden, könne man ebenfalls nicht mit der Hygiene-Theorie erklären, meint Platts-Mills. Hier tauge auch der Fernseher nicht als Buhmann. Allerdings weiß man seit Neuestem, dass Weizen- und Erdnuss-Allergene über die Haut aufgenommen werden. "Es gibt keine Veränderungen der Erdnuss- und Weizenprodukte, um dies zu erklären", schreibt der US-Allergologe. Er mutmaßt daher, ob sich nicht die Durchlässigkeit der Haut im Lauf der Zeit verändert hat. So gäbe es mit immer kleiner werdenden Familien eine Tendenz, Babys jeden Tag zu baden, was sicher vor 25 bis 50 Jahren unüblich war. Zudem sei denkbar, dass durch Alltagschemikalien wie Triclosan oder Parabene die Hautbarriere gelitten habe.

Die Hygiene-Theorie erklärt nach Meinung von Platts-Mills auch nicht, warum Heuschnupfen und Asthma in einigen Ländern inzwischen wieder abnehmen, obwohl sich gleichzeitig in Sachen Hygiene nicht viel geändert hat. "Vielleicht, weil die Menschen sich mehr in Innenräumen aufhalten und Klimaanlagen die Allergen-Belastung niedrig halten?", rätselt er.

Ursula Krämer, Umweltepidemiologin an der Universität Düsseldorf, hält die Thesen ihres Kollegen für ausgesprochen interessant. "Allerdings ist die Forschungslage dazu, dass mangelnde Bewegung durch ständiges Fernsehgucken für die Zunahme von Asthma verantwortlich ist, etwas dünn", sagt sie. Denn: Studien, die belegen, dass Kinder, die mehr fernsehen, tatsächlich auch sensibler auf Hausstaubmilben reagieren und eine schlechter entwickelte Lunge haben, fehlten. "Sicher regt der Artikel dazu an, in dieser Richtung zu forschen", so Krämer.

Allergien können viele Gründe haben

Auch Torsten Zuberbier, Allergologe an der Berliner Charité, ist nicht überzeugt von Platts-Mills' Thesen. Er sieht gerade im Bauernhofeffekt einen sehr guten Beweis dafür, dass mit der Hygiene-Hypothese viel erklärt werden kann. So hätten Tuberkulosebakterien in der Rohmilch einen stark schützenden Effekt für Bauernhofkinder gezeigt. Und Rohmilch sei in Deutschland noch bis in die 1980er Jahre auf dem Land häufig konsumiert worden. Es hätte also durchaus auch nach 1920 noch starke Veränderungen in Sachen Sauberkeit gegeben. Die Behauptung, es gebe heute generell eine veränderte Hautdurchlässigkeit, hält er gar für falsch.

Trotzdem glaubt auch der Berliner Wissenschaftler, dass die gestiegene Hygiene nur einen Teil der Epidemie erklärt: "Die steigende Umweltverschmutzung, etwa durch Dieselruß, und das stark veränderte Essen haben ebenfalls ihren Anteil an der zunehmenden Sensibilisierung gegenüber Alltagsstoffen." Und Ulrich Keil, Epidemiologe an der Universität Münster, fügt hinzu: "Die Hygiene-Hypothese konnte nie alle zeitlichen Veränderungen von Asthma und Allergien und alle geografischen Unterschiede erklären."

Einig sind sich die Experten darin, dass der moderne Lebensstil zu einer Vielzahl an Veränderungen geführt hat – und dass Allergien der Preis dafür sind. Wie stark welcher Faktor zur Ausbreitung der Erkrankungen beigetragen hat, ist jedoch auch nach jahrelanger Forschung keineswegs klar. Und so können Mediziner der Allergie-Epidemie bis heute nur wenig entgegensetzen.

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