Zoologie: Jäger der verborgenen Art
Es gibt Tiere, die machen es der Wissenschaft nicht eben leicht: Sie stehen irgendwo an einer besonders interessanten Stelle im Stammbaum des Lebens, könnten jede Menge Informationen über die verschlungenen Wege der Evolution und ungeklärte Verwandtschaftsverhältnisse liefern – wenn man sie denn mal in die Finger bekäme. Genau das aber ist das Problem. Denn etliche der besonders gefragten Kandidaten verbergen sich hartnäckig vor neugierigen Wissenschaftleraugen. Sie haben sich seit Jahrhunderten nicht blicken lassen oder überhaupt noch nie. Trotzdem machen sich Biologen immer wieder auf die Suche nach solchen lebenden Zeugen der Entwicklungsgeschichte, um sie wenigstens einmal mit modernen Methoden untersuchen zu können – ein Unterfangen, das eine kräftige Portion Optimismus und meist noch mehr Geduld erfordert.
Noch als Student hat sich Michael Schrödl von der Zoologischen Staatssammlung München vor etwa 20 Jahren zum ersten Mal auf die Jagd nach einer solchen geheimnisvollen Art gemacht. In einer Vorlesung hatte er von einem seltsamen Tier namens Salinella salve gehört, das in den Salzseen in der Nähe der argentinischen Stadt Córdoba leben sollte: 100 Jahre zuvor hatte der deutsche Biologe Johannes Frenzel erstmals von diesem mikroskopisch kleinen Lebewesen berichtet, und seither hatte es niemand mehr gesehen. Da Michael Schrödl ohnehin gerade ein Studienjahr an der Universität von Concepción im benachbarten Chile verbracht hatte, schien die Gelegenheit günstig zu sein: "Ich dachte nur: Cool, da mache ich mich mal auf die Suche", erinnert er sich schmunzelnd an seinen damaligen Enthusiasmus.
Ein skurriler Schlauch
Dabei scheint Salinella salve auf den ersten Blick nicht unbedingt der faszinierendste Vertreter der Tierwelt zu sein. Wenn man den historischen Beschreibungen glauben will, handelt es sich um ein schlauchförmiges Gebilde, das aus einer einzelnen Lage von Zellen besteht. Im Inneren ein Hohlraum, der wohl als Verdauungstrakt dient, eine Mundöffnung an einem Ende und ein After am anderen – das ist alles. Doch schon Johannes Frenzel berichtete 1892 voller Begeisterung über seine argentinische Entdeckung: "Die Veröffentlichung meiner Untersuchungen über die hiesige mikroskopische Fauna glaube ich nicht besser einleiten zu können als mit der Beschreibung eines Organismus, welcher von allen, die mir hier begegneten – und es ist derer schon eine große Zahl – als der merkwürdigste, eigenartigste und bedeutungsvollste erscheint", schrieb er damals in der Zeitschrift "Archiv für Naturgeschichte" [1].
Diese Einschätzung teilen heutige Biologen durchaus. "Wir kennen keine andere Art mit einem ähnlichen Bauplan", sagt Michael Schrödl. Tiere wie Quallen oder Schwämme besitzen zwar ebenfalls einen einfach gebauten Körper, nur besteht der nie aus lediglich einer einzigen Zellschicht. Entsprechend groß ist das Rätselraten darüber, wie Salinella in den Stammbaum der Tiere passt. Vielleicht handelt es sich ja um eine Art Übergangsform zwischen den Einzellern und den Mehrzellern – ein lebendes Fossil aus jenen frühen Tagen, als die ersten etwas komplizierter gebauten Lebensformen auf den Plan traten. Vielleicht aber auch nicht. Zwar hatten Zoologen lange angenommen, dass die Tiere mit dem einfachsten Bauplan auch am weitesten an der Basis des Stammbaums stehen. Doch das stimmt nicht immer. "Es gibt auch höher entwickelte Arten, die im Lauf der Zeit wieder zu einfacheren Konstruktionen zurückkehren", sagt Michael Schrödl.
Wie der Fall bei Salinella liegt, konnten Johannes Frenzel und seine Zeitgenossen mit den damaligen wissenschaftlichen Möglichkeiten noch nicht herausfinden. Heutzutage aber wäre das wahrscheinlich kein Problem mehr. "Man würde wohl gleich das ganze Erbgut des Tieres sequenzieren", meint der Münchener Zoologe. Dann könnte man die Abfolge der Bausteine in der DNA mit der von anderen Arten vergleichen und so die Verwandtschaftsverhältnisse klären. Nur braucht man für solche Untersuchungen eben ein Tier oder zumindest einige Zellen davon. Und daran fehlt es bisher.
Die Suche im Salz
Zwar hatte Johannes Frenzel durchaus versucht, den Fund für die Nachwelt zu konservieren. Allerdings war das Tier dabei in seine Bestandteile zerfallen – und die einzelnen Zellen aufzubewahren, schien dem Forscher wohl nicht lohnend. Michael Schrödl will dem Kollegen das nicht unbedingt vorwerfen: "Gerade bei den besonders spannenden Funden macht man vor lauter Aufregung schnell mal einen Fehler und ruiniert das Ganze damit", weiß der Zoologe aus eigener Erfahrung. Nur macht dieser Verlust die Lösung des Salinella-Rätsels nicht einfacher. Zumal auch die 100 Jahre alte Beschreibung des Fundorts ihre Tücken hat.
Als Michael Schrödl vor 20 Jahren zum ersten Mal nach der Art suchte, wusste er das jedoch noch nicht. Voller Optimismus hatte er sich zusammen mit ein paar Freunden ein Schrottauto gekauft und war damit in die Provinz Córdoba gefahren. Aus einer Saline etwa 100 Kilometer südlich der gleichnamigen Stadt sollten die Bodenproben stammen, die Frenzel seinerzeit mit Wasser aufgegossen hatte. Diese Lösung mit zwei Prozent Salzgehalt hatte dann angeblich ohne großartige Betreuung wochenlang in einem offenen Aquarium gestanden – bis Frenzel Wasserproben aus dem Becken unter dem Mikroskop betrachtete und das geheimnisvolle Lebewesen entdeckte.
Doch kaum hatten Michael Schrödl und seine Begleiter den angegebenen Fundort erreicht, tauchte das erste Problem auf. Weit und breit war keine Spur von einer Saline oder einem Salzsee zu entdecken. Nichts als Wiesen und Rinder. Und die lokalen Viehzüchter bestritten, dass es in der Region jemals etwas Derartiges gegeben hatte. Auch vor 100 Jahren nicht. "Wir waren perplex", erinnert sich der Forscher. Mit der Beschreibung des Fundorts konnte irgendetwas nicht stimmen. Trotzdem gab das Team nicht auf, sammelte Proben aus einige hundert Kilometer entfernten Salzseen und versuchte, nach Frenzels Anleitung eine Salinella-Kultur anzulegen.
Wenn der Kollege sein Fundstück vor 100 Jahren tatsächlich aus trockenem Erdreich herangezogen hatte, dann schienen die Chancen für eine Wiederholung des Erfolgs gar nicht so schlecht zu stehen. Schließlich hatten sich die Tierchen beim ersten Mal vermutlich aus in den Proben enthaltenen Sporen oder anderen widerstandsfähigen Dauerformen entwickelt. Solche Strukturen, mit deren Hilfe manche Lebewesen schlechte Zeiten überstehen, verteilt der Wind oft über größere Gebiete. Warum sollte es sie also nur an Frenzels angeblichem Fundort geben?
Nichts zu finden!
Doch so oft Michael Schrödl seine Salzlösungen untersuchte, so oft wurde er enttäuscht. Es fanden sich zwar trotz der für die meisten Lebewesen ungesund hohen Salzkonzentration durchaus Amöben, Wimpertierchen und einige andere Einzeller. Von Salinella aber keine Spur. Und dabei ist es bis heute geblieben. Der Münchner Biologe hat nach seiner Suche in Argentinien auch Proben aus etlichen chilenischen Salzseen unter die Lupe genommen – ebenfalls vergeblich: Kein Forscher hat je von einer erfolgreichen Fahndung nach dem vermeintlichen Bindeglied zwischen Ein- und Mehrzellern berichtet.
Manchen Wissenschaftlern sind sogar schon Zweifel daran gekommen, ob das rätselhafte Tier überhaupt existiert. Hat Frenzel vielleicht nicht genau genug hingeschaut und irgendeinen ganz alltäglichen Salzwasserbewohner für einen Sensationsfund gehalten? Michael Schrödl hält das für unwahrscheinlich. Immerhin war Frenzel ein anerkannter Experte für Einzeller, der sich jahrelang akribisch der Erforschung von Amöben gewidmet hatte. Und seine Zeichnungen von Salinella und deren Entwicklungsstadien zeigen zahlreiche feine Details und keinerlei Anzeichen für schlampige Arbeit.
Bleiben also zwei Möglichkeiten. Salinella könnte eine gezielte Fälschung sein, wie einige Gerüchte behaupten. Oder es hat die ganz realen Tierchen bisher einfach niemand wieder finden können. "Es ist praktisch unmöglich, die Proben noch einmal genau so zu behandeln, wie Frenzel es getan hat", sagt Michael Schrödl. Denn den alten Beschreibungen zufolge war der originale Probenaufguss zwischendurch mehr oder weniger eingetrocknet, es wurden irgendwelche nicht näher beschriebenen Wasserpflanzen und versehentlich auch etwas Jodlösung dazugegeben, es waren Staub und Fliegen hineingefallen – unmöglich zu sagen, welcher dieser Umstände vielleicht für das Gedeihen von Salinella entscheidend war.
Weichtiere aus der Tiefsee
Trotzdem hält Michael Schrödl es durchaus für möglich, dass sich die winzigen Phantome eines Tages doch noch dingfest machen lassen. Er würde es jedenfalls gern noch einmal versuchen. "Ich habe schon ähnlich aussichtslose Unternehmungen in Angriff genommen", sagt der Zoologe. "Und manchmal klappt es ja auch".
So wie im Fall der geheimnisvollen Weichtiere aus der Tiefsee, die Biologen "Monoplacophora" oder "Einschaler" nennen. Diese schneckenähnlichen Lebewesen mit dem mützenförmigen Gehäuse galten lange als heiße Kandidaten für den Titel des "Ur-Mollusken". Wissenschaftler hatten ihnen also den Platz an der Basis des Weichtierstammbaums zugedacht, von dem dann die Äste zu den Schnecken, den Muscheln und den anderen Klassen der Mollusken abzweigen. Doch um diese Theorie mit Hilfe von DNA-Analysen überprüfen zu können, musste man ein paar vollständige Tiere mit Weichkörper fangen – kein einfaches Unternehmen bei nur wenige Millimeter großen Tiefseearten.
Etliche Wissenschaftler weltweit machten sich also auf die Suche – darunter auch Michael Schrödl, der heute die Weichtierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in München leitet. In den Jahren 2000 und 2008 ist er mit dem deutschen Forschungsschiff Polarstern in der Antarktis gewesen und hat einen Teil der Bodenproben untersucht, die verschiedene Gerätschaften aus der Tiefe des Polarmeers an die Oberfläche holten. Er verbrachte Wochen bei Temperaturen von null Grad im Kühlcontainer, um endlose Stunden lang Sandkörner umzudrehen – immer in der Hoffnung, millimetergroße Weichtierschalen in Mützenform zu entdecken. "Das Ganze war dermaßen langweilig, dass ich einfach alle Weichtiere aus den Proben pipettiert habe", erinnert sich der Forscher. Dank dieser Geduldsprobe besitzt die Zoologische Staatssammlung mittlerweile eine der größten Kollektionen von antarktischen Weichtieren weltweit. Und schließlich fanden sich tatsächlich die gesuchten Einschaler – jeweils ein einzelnes lebendes Exemplar pro Expedition.
Andere Monoplacophora-Fahnder sind inzwischen auch vor der kalifornischen Küste fündig geworden, so dass die Tiere inzwischen genetisch untersucht werden konnten. Dabei zeigte sich, dass die Mützenträger aus der Tiefsee keineswegs an der Basis des Weichtierstammbaums stehen – diese Position ist nun neu zu vergeben. Trotzdem sucht Michael Schrödl weiterhin nach Vertretern dieser Tiergruppe. Denn von deren Leben haben Wissenschaftler bisher nur sehr bruchstückhafte Vorstellungen.
Die Einschaler sind aber bei Weitem nicht die einzigen tierischen Exzentriker, nach denen der Münchner Forscher fahndet. So ist er fasziniert von den zahllosen bizarren Kreaturen, die bei so gut wie jeder Tiefsee-Expedition zu Tage kommen und die selbst Fachleute nur unter größeren Schwierigkeiten den bisher bekannten Tiergruppen zuordnen können. Oder von den genauso skurrilen Bewohnern, die sich in den Lücken zwischen den Sandkörnern des Meeresbodens eingerichtet haben. Michael Schrödl und seine nicht minder begeisterten Kollegen und Studenten haben keinen Zweifel daran, dass ihre Suche nach ungewöhnlichen Tierarten auch künftig noch spannende Erkenntnisse liefern wird.
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