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Jäger und Sammler: Vom Nutzen des Geschichtenerzählens

Zu den angesehensten Mitgliedern von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften gehören die Erzähler. Warum das so ist, haben Anthropologen bei den Agta auf den Philippinen untersucht.
Mutter und kleiner Junge beim Schattenspiel

Einst stritten sich der Sonnenmann und die Mondfrau, wessen Aufgabe es sei, den Himmel zu erhellen. Als sich beide nicht einigen konnten, begannen sie miteinander zu kämpfen. Doch es stellte sich heraus, dass die Mondfrau genauso stark war wie der Sonnenmann. Nach langem Ringen fanden sie schließlich doch noch eine Lösung: Der Sonnenmann sollte fortan für die eine Hälfte des Tages zuständig sein, die Mondfrau hingegen für die andere.

Diese (hier extrem gekürzt wiedergegebene) Geschichte zählte zu den Lieblingsmythen, die Stammesälteste der Agta auf den Philippinen dem Forscherteam des University College Londons erzählten. Das Beispiel sei typisch, finden die Forscher. Denn die Geschichte von Sonne und Mond fördere die Vorstellung, dass Mann und Frau gleichberechtigt seien und zusammenarbeiten müssen – und beides seien gängige Anschauungen in traditionell lebenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften.

Überhaupt fanden sie ihre Annahme bestätigt, dass das Erzählen von Geschichten eine wichtige soziale Funktion hat: Mythen und Legenden würden den Mitgliedern der Gesellschaft aufzeigen, welche Normen und Regeln es in der Gruppe gibt und welche Erwartungen man an den Einzelnen hat, erklärt Erstautor Daniel Smith.

Für ihre Untersuchung waren die Wissenschaftler um Smith, Andrea Migliano und Lucio Vinicius zu den philippinischen Agta gereist, einer der wenigen als Jäger und Sammler lebenden Volksgruppen, die es weltweit gibt. Dort ließen sie sich von den Stammesältesten über drei Nächte hinweg vier Geschichten für Kinder und Erwachsene erzählen. Alle handelten auf die eine oder andere Weise von sozialverträglichem Verhalten und dem Wert der Kooperation.

Eine Untersuchung der anthropologischen Fachliteratur hatte dasselbe Ergebnis: Unter den 89 Geschichten von sieben Jäger-und-Sammler-Gesellschaften drehten sich 70 Prozent um soziale Normen und deren Einhaltung, schreiben sie in ihrer Studie im Journal »Nature Communications«.

Dass das Geschichtenerzählen tatsächlich wirksam ist, erprobten die Anthropologen mit Hilfe von Spielexperimenten, bei denen es beispielsweise um die Verteilung von Wertsachen ging. Es zeigte sich, dass in jenen Agta-Dörfern, in denen mehr erfahrene Geschichtenerzähler lebten, fairer gespielt und verteilt wurde als in jenen mit weniger Erzählern.

Eine Umfrage unter rund 300 Bewohnern von 18 Dörfern ergab zudem, dass geschickte Erzähler zu den beliebtesten Mitbewohnern zählten. Ihre spezielle Fähigkeit rangierte sogar noch vor vermeintlich nützlicheren Kompetenzen wie Jagdgeschick oder medizinischem Wissen. Kein Zufall dürfte es darum sein, dass diejenigen Agta, deren Erzähltalent von den anderen als hoch eingeschätzt wurde, im Schnitt mehr Kinder hatten als der Rest. Offenbar erhöht die erzählerische Fähigkeit den Reproduktionserfolg – und ist damit sogar evolutionär wirksam.

Für die Forscher legt all dies auch den Schluss nahe, dass das Geschichtenerzählen bei den heute noch lebenden Jägern und Sammlern – und womöglich auch bei ähnlichen Gruppen in prähistorischer Zeit – die Rolle übernimmt, die sonst der klassischen Religion zukommt. An die Stelle der Vorbilder aus Mythen und Legenden treten dann strafende Gottheiten, die sicherstellen sollen, dass sich jeder an die Regeln der Gruppe hält.

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