Kannibalismus: Jagd auf Nachbarskinder
Grausige Ernährungsgewohnheiten sind es, zumindest aus heutiger Sicht, die Forscher um Palmira Saladié einer Gruppe von Frühmenschen attestieren: Offenbar haben die Bewohner der Höhle Gran Dolina im Norden Spaniens gezielt auf die Kinder benachbarter Gruppen Jagd gemacht, um sie anschließend zu verspeisen. Darin seien sie heutigen Schimpansen nicht unähnlich, so die Wissenschaftler.
Die rund 800 000 Jahre alten menschlichen Überreste in der Höhle der Sierra de Atapuerca gehören zu einer noch sehr archaischen Art von Neandertalervorfahren, die die spanischen Wissenschaftler als Homo antecessor bezeichnen. Seit Langem sind die Schnittmarken an den Menschenknochen im ehemaligen Wohnbereich der Höhle bekannt – sie gelten als relativ eindeutige Anzeichen von Kannibalismus, denn sie entstehen, wenn der Körper mit Hilfe von Feuersteinwerkzeugen ausgeweidet und zerlegt wird.
Nun hat das Team um die Forscherin vom Institut Català de Paleoecologia Humana i Evolució Social in Tarragona gezielt danach geforscht, ob sich aus den Fundumständen genauere Rückschlüsse auf die damaligen Praktiken ziehen lassen.
Laut den Wissenschaftlern deutet nichts darauf hin, dass mit dem Verspeisen von Artgenossen irgendeine Form von Ritual verbunden war, wie es bei modernen Menschen bis in die Neuzeit zum Beispiel als Bestattungsbrauch der Fall war. Stattdessen ernährten sich die Bewohner der Höhle offenbar von den eigenen Artgenossen, wenn sie die Gelegenheit dazu hatten: Die Schnitt- und Bruchmarken lagen an genau denselben Stellen, an denen sie auch bei den vielen Hirschknochen zu finden sind, die Knochen von elf Individuen waren unter Küchenabfällen verstreut, und es gab keinerlei Anzeichen, dass bestimmte Körperteile ausgespart worden waren. Letzteres findet man vor allem dann, wenn Menschen aus einer Notsituation heraus widerwillig Menschenfleisch verzehren.
Auffällig war die Altersverteilung der Verspeisten: Es handelte sich fast ausschließlich um Kinder und Jugendliche. Bei kannibalistischen Praktiken wie dem rituellen Verzehr von Feinden wären vor allem Männer jungen und mittleren Alters zu erwarten; bei Notkannibalismus, wie man ihn beispielsweise auch von Neandertalern kennt, die schwächsten der Gruppe, also Junge und Hochbetagte.
Saladié und Kollegen spekulieren nun, dass Homo antecessor ein ähnliches Verhalten an den Tag legte wie heutige Schimpansen. Die Menschenaffen halten benachbarte Gruppen auf Distanz, indem sie an den Grenzen ihres Einflussgebiets regelmäßig Patrouillen durchführen. Treffen sie dabei auf Unterlegene, kommt es häufig zu einer Attacke, bei der auch Jungtiere erbeutet werden. Mit der Jagd auf die Kinder seiner Nachbarsgruppen hätte sich Homo antecessor demnach zum einen relativ gefahrlos eine zusätzliche Gelegenheitsnahrung erschließen können und zum anderen effektiv seine eigenen Nahrungskonkurrenten auf Abstand gehalten, meinen die Wissenschaftler.
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