Tiefsee: Jagd nach dem Ursprung des Lebens
Am dritten Tag unserer Schiffsreise tauchen sie plötzlich vor uns auf: ein Dutzend zerklüftete Gesteinshaufen im hellblauen, glasklaren Ozean. Die Felseninseln sind kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte. Alles in allem etwa doppelt so groß wie ein Fußballfeld. Es gibt hier keine weißen Strände, Vulkangipfel oder Palmen wie üblich auf anderen tropischen Inselketten in diesen Breiten. Das Einzige, was wir sehen, sind rasiermesserscharfe, umbrabraune Spitzen – glasiert mit dem Vogelkot der letzten 1000 Jahre. Die gesamte Szenerie wirkt wie eine düstere Version von Gilligan's Island, der populären US-amerikanischen Fernsehserie aus den 1960er Jahren.
Aber wir sind auch nicht unterwegs zu einem Strandurlaub oder einer Ausflugsfahrt. Wir haben uns an der brasilianischen Küste zu der mehr als 1000 Kilometer langen Seereise über den Atlantik auf den Weg gemacht, um die verborgenen Gewässer der Tiefsee zu erforschen. An diesem Ort, den Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen, wollen wir Indizien sammeln, die belegen, wie das Leben auf der Erde seinen Anfang nahm – und wie sich außerirdisches Leben auf anderen Planeten unseres Sonnensystems vielleicht entwickeln könnte.
Dafür haben wir ein Team aus mehr als 40 Geologen, Mikrobiologen, Geophysikern, Biologen, Ingenieuren, Tauchbootführern und einer Decksmannschaft von unterschiedlichster Nationalität zusammengestellt. Für zwei Wochen sind wir an Bord der M/V Alucia. Das Forschungsschiff ist 56 Meter lang und wird von der gemeinnützigen Dalio Ocean Initiative betrieben. Die Expeditionsteilnehmer wollen mit speziellen Forschungstauchbooten 1000 Meter tief unter die Meeresoberfläche vordringen. Dort wollen sie den Meeresboden systematisch absuchen, Gesteinsproben nehmen und Wasserproben analysieren.
Nie zuvor hat jemand diese tiefen Gewässer erkundet. Keiner an Bord hat die leiseste Ahnung, was uns dort erwartet.
»Es ist ein einzigartiges Gebiet, und wir könnten dort durchaus auf ein paar ungewöhnliche Lebensformen stoßen«, sagt Frieder Klein. Er ist Meeresgeologe und Leiter des Forscherteams der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI). Der Wissenschaftler trägt Cargoshorts und ein verwaschenes T-Shirt mit dem Aufdruck der Rockband MC5. Barfuß steht er auf dem Oberdeck der Alucia und blinzelt in die Mittagssonne. Wenige hundert Meter weiter nördlich branden die Wellen krachend und zischend an die Ufer der fünfzehn winzigen, steinigen Inseln.
Gestein aus der Erdkruste
Die tektonischen Platten am Mittelatlantischen Rücken begannen vor vielen Millionen Jahren unter uns auseinanderzudriften, erläutert der Meeresgeologe. Der entstandene Spalt hat sich seitdem pro Jahr um etwa einen Fingerbreit vergrößert. Heute trennt Europa und Nordamerika ein fast 7000 Kilometer breiter Ozean. Diese äußerst langsam verlaufende Kontinentalverschiebung hat Mantelgestein an die Oberfläche befördert. Normalerweise liegt es sechs Kilometer unter der Erdkruste verborgen.
Das ist nicht außergewöhnlich. Auf der ganzen Welt sind weite Flächen der Tiefsee von diesem Gesteinstyp bedeckt. Hier an den Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen liegt das Mantelgestein jedoch nicht ganz so tief und ist leichter zugänglich. Zudem verändert es sich ständig durch das Meerwasser. »Es gibt auf der ganzen Welt keinen vergleichbaren Ort«, sagt Klein, während er sich den Schweiß von der Stirn wischt.
Die Gesteine könnten völlig neue Lebensformen beherbergen. Klein erklärt, dass eine chemische Reaktion zwischen dem Eisen der Erdmantelminerale und dem Meerwasser stattfindet. So entstehen Wasserstoffmoleküle, von denen sich bestimmte ein- oder mehrzellige Mikroorganismen ernähren. Diese Mikroben ähneln jenen Kleinstlebewesen, die vor vielen Milliarden Jahren die Erde bewohnten. Sie könnten daher mit den frühesten Lebensformen auf unserem Planeten eng verwandt sein.
Klein und seine Mitarbeiter wollen die Mikroorganismen der Tiefsee aufspüren und die chemischen Prozesse im Mantelgestein analysieren. Sie hoffen, dass sie so in die Vergangenheit schauen und einen flüchtigen Blick auf frühe Formen des Lebens werfen können. Vielleicht sogar auf unsere außerirdischen Abbilder.
»Wir wissen, dass sich unter den Oberflächen der Eismonde Europa und Enceladus, die die Planeten Jupiter beziehungsweise Saturn umkreisen, Wasser verbirgt«, sagt Klein. »Jene Monde enthalten das gleiche Gestein wie diese Inseln.« Womöglich könnten auf den Himmelskörpern also dieselben chemischen Reaktionen ablaufen und ähnliche primitive Lebensformen ernähren.
Der Meeresgeologe und ich blicken über den Handlauf der Reling hinab in den Ozean. An dieser Stelle ist er 4000 Meter tief. Das sind zehn aufeinandergestapelte Empire State Buildings. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr wie jemand, der gerade an Bord eines Schiffes steht und die Wasseroberfläche betrachtet. Es kommt mir vor, als würden wir in einem Raumschiff über einer fremdartigen Welt dahinschweben.
»Wir besuchen einen Ort, an dem vorher nie jemand gewesen ist«, so Klein. Der Kapitän stoppt die Maschinen, und die Alucia driftet gemächlich auf die südlichste der kleinen Inseln zu. Klein schnappt sich sein Smartphone und eine Wasserflasche, murmelt eine kurze Entschuldigung und stürmt die Treppen hinunter. Nach anderthalb Jahren Planung ist es an der Zeit, sich in die Tiefe zu begeben.
Nur schwer lässt sich jenes Konzept begreifen, dem zufolge wir alle, die Vögel, die Bienen, ja das gesamte gegenwärtige und vergangene Leben um uns herum aus ein paar chemischen Reaktionen hervorgegangen sind, die sich vor einigen Milliarden Jahren auf irgendwelchen komischen Steinen abspielten. Im 16. Jahrhundert wäre man als Anhänger einer solchen Theorie vermutlich wegen Ketzerei verurteilt und enthauptet worden. Und noch vor 50 Jahren hätte es für manche womöglich die akademische Karriere vorzeitig beendet oder bedeutet, von der Wissenschaftsgemeinschaft geächtet zu werden.
Dampfdrucktopf des Lebens
Das änderte sich jedoch im Jahr 1977, als der Geologe Jack Corliss von der Oregon State University ein Forschungsschiff charterte. Er schipperte von der Küste Ecuadors zu dem rund 320 Kilometer entfernten Galapagosgraben. Corliss vermutete, dass es in dieser Gegend aktive Unterwassergeysire gäbe, die Meereswissenschaftler auch als hydrothermale Schlote bezeichnen. Der Geologe und seine Mitarbeiter benutzten ein ferngesteuertes Unterwasserfahrzeug namens Angus, um den Meeresboden zu untersuchen. Das Gefährt war mit einer Kamera und einem Temperatursensor ausgestattet. In etwa 2500 Meter Wassertiefe schlug die Temperaturanzeige plötzlich aus. Als die Wissenschaftler Angus wenige Stunden später wieder an Deck zogen, öffneten sie das Kameragehäuse und entwickelten den Film.
Die 13 körnigen Fotografien, die Angus während des Temperaturanstiegs aufgenommen hatte, enthüllten Außergewöhnliches: Dort unten gab es tatsächlich Leben. In absoluter Dunkelheit tummelten sich nie zuvor gesehene Krabben, Muscheln, Hummer und Würmer umgeben von einer giftigen Meerwasserwolke. An ihrer Quelle war sie heiß genug, um Blei zum Schmelzen zu bringen. Allein der unglaublich hohe Druck, der in dieser Wassertiefe das 250-Fache des Atmosphärendrucks beträgt, hinderte das heiße Wasser daran, in Dampf überzugehen. Corliss hatte also einen Dampfdrucktopf des Lebens gefunden. Die Tiere lebten in einem völlig neuen und fremdartigen biologischen System.
Im Gegensatz zu Lebewesen an der Erdoberfläche waren die Tiefseeorganismen nicht auf Sonnenlicht angewiesen. Sie machten sich die chemische Energie der glühend heißen, giftigen Rauchfahnen zu Nutze. Das gelang ihnen mit einer speziellen Form des Energiestoffwechsels, der so genannten Chemosynthese, sowie symbiotischen Beziehungen zwischen verschiedenen Spezies. Corliss nannte diesen Ort den »Garten Eden«.
In den darauf folgenden Jahren entdeckten Wissenschaftler auf Meeresböden in der ganzen Welt weitere chemosynthetische Lebensgemeinschaften. Die Tiefsee war offenbar doch keine leblose Wüste, sondern eine Art Galaxie aus unabhängigen Biosphären. Jede kreiste um ihre eigene, Leben spendende chemische »Sonne«. Die Tiere und Mikroorganismen gediehen dort bereits seit Milliarden von Jahren, vielleicht sogar länger als jegliches Leben auf der Erdoberfläche.
Expeditionen zu den extremsten und entlegensten Orten
Beflügelt durch die Entdeckung der hydrothermalen Schlote drangen Geologen und Mikrobiologen in immer größere Tiefen und extremere Regionen vor. Sie wollten die absolute Grenze des Lebens finden. Sie durchbohrten etwa eine 3600 Meter dicke Schicht der antarktischen Eisdecke. Dort stießen sie auf einen unterirdischen, mehr als 10 000 Quadratkilometer großen See, der vermutlich seit etwa 15 Millionen Jahren unter der Erdoberfläche eingeschlossen gewesen war. Im Seewasser identifizierten die Forscher Tausende von Bakterien, die unter nahezu allen erdenklichen Umweltbedingungen existieren konnten: in extremer Hitze von bis zu 122 Grad Celsius, in extremer Kälte von bis zu minus 20 Grad Celsius, in saurem, alkalischem, aerobem und anaerobem Milieu sowie in dem gesamten dazwischenliegenden Spektrum.
In anderen Expeditionen durchsuchten Wissenschaftlern mit Hilfe von Tauchbooten Sedimente am tiefsten Punkt der Erde: in fast 11 000 Metern unter dem Meeresspiegel. Diese Regionen gehören zu den lebensfeindlichsten auf unserem Planeten. Dennoch entdeckten die Forscher dort doppelt so viel mikrobielles Leben wie zuvor in geringeren Wassertiefen.
Geologen gruben sich ebenfalls an Stellen in die Erdoberfläche ein, die nicht von Gewässern bedeckt sind. Mehr als vier Kilometer unter der Erdkruste fanden sie Lebensformen vor, die in einem Gemisch aus Wasser und Schwefel vor sich hin köchelten. Anders als die Organismen, die Corliss gefunden hatte, hielten sich diese Mikroben nicht durch chemische Substanzen am Leben. Sie bezogen ihre Energie aus der natürlichen radioaktiven Strahlung aus den umgebenden Gesteinsschichten. Dort existierten die Mikroben schon seit vielen Millionen Jahren. Sogar in den unwirtlichsten und extremsten Regionen unseres Planeten bahnt sich das Leben also seinen Weg.
Lange hatte niemand von den Organismen in den Gesteinen am Meeresgrund oder anderthalb Kilometer tief in der Erdkruste Notiz genommen. Es brauchte ein paar unbeirrbare Wissenschaftler, die begannen, genauer hinzuschauen.
Dazu waren sie gezwungen, einige der entlegensten und trostlosesten Gegenden der Erde aufzusuchen. Nur eine Hand voll Mikrobiologen und Geologen brachten dazu in der Vergangenheit den Willen, die innere Stärke sowie genügend finanzielle Mittel auf. Sie erduldeten wochenlang Temperaturen von 40 Grad Celsius in afrikanischen Minen, harrten monatelang in den frostigen Weiten der Antarktis aus und durchkämmten jahrelang die verseuchten Ölfelder Dagestans im Süden Russlands.
Vor diesem Hintergrund ruft das schöne Leben an Bord der Alucia bei uns Schuldgefühle hervor. Zwar bringt unser Herumdümpeln auf dem Atlantischen Ozean auch zahlreiche Unannehmlichkeiten und Gefahren mit sich. Das nächste Krankenhaus liegt zum Beispiel knapp 1000 Kilometer entfernt. Doch die ziemlich luxuriöse Ausstattung unserer Wohn- und Arbeitsbereiche tröstet uns darüber hinweg. Im Inneren des Schiffes ist jeder Quadratzentimeter auf erfrischende 22 Grad Celsius ohne jegliche Luftfeuchtigkeit klimatisiert. Manche von uns empfinden das als derartig kühl, dass sie in dicken Pullis und Socken herumlaufen, obwohl es draußen fast 40 Grad Celsius sind.
Crème brulée zum Nachtisch
Zum Abendessen werden heute in der Schiffsmesse Quinoa, Steak, Hühnchen, kurz gebratene grüne Bohnen, Bratkartoffeln und Bauernsalat serviert. Zum Nachtisch gibt es selbst gemachte Crème brulée. Ich schnappe mir einen Teller und setze mich zu den beiden leitenden Wissenschaftlerinnen des Forscherteams. Eine von ihnen ist die Tiefseebiologin Diva Amon vom Natural History Museum in London. Einen Großteil ihrer Kindheit verbrachte sie an den Küsten von Trinidad und Tobago. Schon als kleines Mädchen war sie fasziniert von der Vielfalt des marinen Lebens, insbesondere jenen Tieren, die in der undurchdringlichen Schwärze der Tiefsee lebten. Amon hofft, auf dieser Expedition verschiedene Organismen zu entdecken, die mit chemosynthetisch aktiven Bakterien in Symbiose leben – etwa Krabben, Röhrenwürmer oder Garnelen.
»Uns fehlen tatsächlich noch immer grundlegende Kenntnisse, was viele Meerestiere betrifft. Das gilt insbesondere für die chemosynthetischen Lebensgemeinschaften. Wir wissen nicht, wie und wo diese Organismen leben und warum«, erklärt Amon.
Die Tiefsee macht unterhalb von 200 Meter Wassertiefe etwa 70 Prozent der bewohnbaren Fläche unseres Planeten aus. Hier leben die größten Tiergemeinschaften und der überwiegende Teil der Biomasse unserer Erde. Trotzdem sei bislang weniger als ein Prozent dieses Lebensraums überhaupt erforscht worden, so Amon. Tragischerweise gefährden Umweltverschmutzung, Schleppnetzfischerei, Tiefseebergbau und Klimawandel diesen Lebensraum und seine schätzungsweise 750 000 bisher unentdeckten Arten.
»Wir könnten das Tiefseehabitat und seine Bewohner zerstören, bevor wir überhaupt wissen, was dort eigentlich lebt«, sagt Amon. »Ich halte es für zwingend notwendig, all das zu dokumentieren, solange wir dazu noch in der Lage sind.«
Neben Amon sitzt Florence »Flo« Schubotz, eine Geochemikerin vom Zentrum für Marine Umweltwissenschaften (MARUM) an der Universität Bremen. Die Wissenschaftlerin verfolgt auf dieser Expedition ein ähnliches Ziel wie Amon, allerdings sind ihre Forschungsobjekte deutlich kleiner. Schubotz untersucht die im Mantelgestein lebenden Mikroorganismen.
»Man muss sich nur mal vorstellen, dass die an den hydrothermalen Schloten siedelnden Organismen zu den frühesten Lebensformen unseres Planeten gehören könnten und schon lang vor den ersten landlebenden Tieren und Pflanzen hier existierten«, sinniert die Forscherin. Sie trägt ein T-Shirt von einer früheren Expedition mit der Japan Agency for Marine-Earth Science and Technology. »Es sind einfach unglaublich alte Systeme.«
Vor 3,8 Milliarden Jahren sei Sauerstoff nur in äußerst geringen Mengen in der Erdatmosphäre vorhanden gewesen, erklärt Schubotz. Daher machten sich die damaligen Lebewesen andere chemische Substanzen zu Nutze, um zu überleben – etwa Wasserstoff, Kohlendioxid und Methan. Während diese primitiven Organismen zunehmend die Erde eroberten, bildete sich bei einigen von ihnen – den Cyanobakterien – eine Stoffwechselvariante heraus, die Sauerstoff als Abfallprodukt entstehen ließ. Vor etwa 2,4 Milliarden Jahren waren letztendlich die Konzentrationen des »Abfallgases« Sauerstoff in der Atmosphäre hoch genug, um neues, aerobes Leben zu ermöglichen. Die Lebensformen, die von Sauerstoff zehren, wurden immer komplexer und unterschiedlicher. Sie entwickelten sich schließlich zu Pflanzen, Tieren und uns Menschen.
Jurassic-Park im Reagenzglas
Um die ursprünglichen Mikroben in Aktion zu erleben, plant Schubotz, Mantelgestein aus der Tiefsee zu entnehmen. Sie hofft, die darin schlummernden Organismen zum Leben zu erwecken, indem sie sie mit unterschiedlicher chemischer Nahrung »füttert«: mit Wasserstoff, Kohlendioxid und Methan. Schubotz plant also einen Jurassic-Park im Reagenzglas. Statt eines Menschen fressenden Tyrannosaurus rex möchte sie allerdings Jahrmillionen alte Mikroorganismen wiederbeleben.
Am nächsten Tag stehen Schubotz, Amon und Klein im wissenschaftlichen Kontrollzentrum der Alucia. Der Raum ist schwach erleuchtetet, und an den Wänden blinken Monitore. Mit großen Augen starren die Wissenschaftler auf einen riesigen Videobildschirm. Auf dem ist gerade etwas abgebildet, das wie ein Regenbogenkuchen aussieht, dem einige Stücke fehlen. Jede Sekunde erscheinen weitere pixelige Linien auf dem Bildschirm, und der Kuchen wirkt ein wenig vollständiger. Klein bringt seine Begeisterung mit Oh- und Ah-Lauten zum Ausdruck, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er erinnert an einen Aktienhändler, der gespannt die Börsenkurse auf dem Ticker verfolgt.
Was die Wissenschaftler gerade in derartiges Entzücken versetzt, ist eine hochauflösende bathymetrische Karte des Meeresbodens unter uns. Sie ist das Unterwasseräquivalent einer topografischen Karte. Die Daten hat ein spezielles Sonargerät aufgezeichnet, das am Rumpf der Alucia angebracht ist. Das Gerät erfasst mit Hilfe von Schallwellen jeden unter uns verborgenen Winkel mit einer Auflösung von etwa drei Metern. Während unser Forschungsschiff in den kommenden zwei Tagen die Inselgruppe umkreist, dringt das Sonargerät bis in Wassertiefen von 1200 Metern vor. Mit jeder Runde entfernen wir uns weiter vom Archipel, so wie die Nadel eines Plattenspielers auf einer rückwärts laufenden Schallplatte.
»Wir sammeln völlig neue Erkenntnisse«, betont Klein. »All das ist unglaublich spannend.« Der Wissenschaftler hält nach Besonderheiten auf dem sonst eher strukturlosen Unterwasserkliff Ausschau. Sollten dort tatsächlich aktive hydrothermale Schlote vorkommen, könnte man sie leicht anhand ihrer verräterischen Karbonattürmen identifizieren.
Karbonat ist eine in der Natur häufig anzutreffende Substanz, die durch verschiedenste Prozesse gebildet werden kann. Kalziumkarbonat etwa ist der Hauptbestandteil von Schalen und Panzern mariner Organismen und bedeckt mehr als die Hälfte des gesamten Meeresbodens. Die sterblichen Überreste dieser Lebewesen finden sich sowohl in der weißen Masse unserer Zahnpasta als auch im Beton der Bürgersteige vor unserer Haustür.
Klein ist allerdings einem anderen Karbonat auf der Spur. Er sucht eines, das nicht durch biologische Aktivität entstanden ist, sondern sich niederschlug, als siedend heiße Hydrothermalflüssigkeit und kaltes Meerwasser aufeinandertrafen.
»Diese Stelle hier scheint viel versprechend zu sein«, meint Klein und deutet auf einen eigentümlichen Felsvorsprung am westlichen Unterwasserhang der Inselkette. Es sei äußerst unwahrscheinlich, so der Forscher, dass ein Felsblock einfach so ins Meer gestürzt und an genau dieser Stelle gelandet sei. Vielmehr sehe es so aus, als habe das darunterliegende Gestein diese Struktur geformt. »Es könnte sich zumindest lohnen, das Gebiet genauer zu untersuchen«, konstatiert der Wissenschaftler.
In den folgenden Tagen kämpfen wir mit heftigen Winden und starken Strömungen. Dennoch sind die Geowissenschaftler in der Lage, etwa ein halbes Dutzend Wasserproben aus der Umgebung des Felsvorsprungs zu nehmen, den Klein identifiziert hatte. Es stellt sich heraus, dass das Wasser in diesem Gebiet Methankonzentrationen aufweist, die weit über den Normalwerten liegen – ein hoffnungsvolles Zeichen für die Wissenschaftler.
Einige der ältesten Lebensformen unseres Planeten, die auch heute noch in der Umgebung von hydrothermalen Schloten zu finden sind, verwerten Methan und produzieren Kohlendioxid. Von diesem ernähren sich andere Organismen und scheiden wiederum Methan als Abfallprodukt aus. Selbst wenn die Stoffwechselwege dieser Kleinstlebewesen sehr unterschiedlich und vielfältig sind, weist die Anwesenheit von Kohlendioxid, Wasserstoff und Methan im Allgemeinen auf eine Umgebung hin, in der primitive Lebensformen gedeihen können.
Die NASA-Raumsonde Cassini wies im April 2015 an der Oberfläche des Eismonds Enceladus gewaltige Wasserstoffmengen nach. Jahrelang umkreiste die Sonde den Saturn und wurde erst kürzlich außer Betrieb genommen. Unter Mikrobiologen sorgte die Entdeckung für ziemliche Aufregung. Neben Wasserstoff enthielten die von Enceladus ausgestoßenen Dampffontänen auch Kohlendioxid, diverse organische Verbindungen sowie genügend Energie, um riesige Kolonien von Mikroorganismen zu ernähren. Ein Geochemiker bezeichnete diese gewaltige Energiemenge als »das kalorische Äquivalent von 300 Pizzas pro Stunde.« Forscher vermuten, dass die chemischen Substanzen auf dem Enceladus kontinuierlich und in ähnlichen hydrothermalen Schlotsystemen produziert werden, wie sie auch auf der Erde vorkommen – und vielleicht sogar unmittelbar unter uns an den Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen.
Letzteres hoffen Amon und Klein am heutigen Vormittag herauszufinden. Auf dem Achterdeck der Alucia rollt die Mannschaft gerade das mit sechs Kameras und Scheinwerfern ausgestattete Tauchboot Nadir nach draußen. Etwas später stehen wir um den kugelförmigen Druckkörper aus Acrylglas herum und schauen zu, wie sich Amon, der Tauchbootführer und ein Kameramann in die Sitze winden. Sie packen ihre Wasserflaschen aus und machen sich für den Tauchgang startklar.
Lebenszeichen aus der Tiefe
Unmittelbar hinter ihnen hockt Klein in einem kleineren und wendigeren Tauchfahrzeug mit nur zwei Sitzen namens Deep Rover. Der Plan der Forscher sieht folgendermaßen aus: Amon soll das Ökosystem genau beobachten und alle eventuellen chemosynthetischen Lebensgemeinschaften registrieren, während Klein versucht, mit den mechanischen Greifarmen seines Tauchgefährts so viele Gesteinsproben wie möglich zu sammeln.
Langsam hebt ein Kran zunächst Nadir und dann Deep Rover über die Reling und lässt sie vorsichtig ins Wasser gleiten. Ein kurzes Abschiedswinken, eine Wolke aus Luftblasen – und die U-Boote tauchen unter die Wasseroberfläche. Schnell werden sie immer kleiner und immer undeutlicher, bis sie schließlich ganz verschwunden sind.
Die nächsten sechs Stunden werden wir hier an Bord sitzen. Wir werden auf die Anzeige des Sonargeräts starren, abwarten und auf Lebenszeichen aus der Tiefe hoffen.
Gegen Abend sind die Taucher zurück, und es herrscht erneut hektische Betriebsamkeit auf der Alucia. Die Mannschaft spritzt die Tauchboote mit Süßwasser ab. Klein wuselt geschäftig um die Eimer herum, die mit Gesteinsproben gefüllt sind. Die Geochemiker Sean Sylva und Jeff Seewald bringen Wasserproben zum Kochen, die Deep Rover aus der Nähe des Meeresbodens mitgebracht hat.
An Deck steht auch ein Gaschromatograf, den Sylva gerade mit einer Wasserprobe bestückt. Das Analysegerät sieht aus wie die Steampunk-Version einer Mikrowelle aus den 1980er Jahren. Das wilde Durcheinander aus Drähten, Schläuchen und Drehknöpfen, die seitlich aus dem Gerät hervorsprießen und von Holzklammern zusammengehalten werden, erfüllt selbstverständlich einen Zweck. Im Inneren des Geräts wird die Wasserprobe in einem kleinen Ofen erhitzt, so dass sie sich zersetzt. Die Bestandteile schießen abhängig von ihrer Größe unterschiedlich schnell durch die Schläuche des Gaschromatografen. Ein Computer, der mit dem Messgerät verbunden ist, analysiert die Wandergeschwindigkeiten und ordnet sie unterschiedlichen chemischen Komponenten zu. So lässt sich etwa der Methangehalt im Wasser abschätzen.
Nebenan in einem behelfsmäßig eingerichteten Labor inspizieren Klein und Schubotz unterdessen Gesteinsproben, die Deep Rover in einer Wassertiefe von mehr als 500 Metern gesammelt hat. »Ich habe hier drei hässliche Steine und einen großen, der wahnsinnig interessant aussieht«, vermeldet Klein, während er sich die Hände an einem alten Amoeba-Records-T-Shirt abwischt.
Klein reicht mir ein Felsstück und deutet auf die kleinen netzartigen Adern auf der Oberfläche des Steins. Er erklärt, dass das Mineral Olivin bei Kontakt mit Meerwasser instabil wird. Das führt dazu, dass das Wasser in tiefere Gesteinsschichten eindringen kann und so winzige Wasseradern bildet. Für die Lebewesen im Gestein dienen sie als Flüsse, die Energie und Nahrung herantransportieren sowie Abfallprodukte entfernen. Olivin ist weit verbreitet und setzt sich aus Magnesium, Eisen, Silizium und Sauerstoff zusammen. Im Lauf der Zeit löst es sich langsam auf, und in den Adern bilden sich neue Minerale. Nach und nach entsteht ein marmoriertes Gestein, das die alten Römer »verde antico« nannten. Geologen wie Klein bezeichnen es heutzutage als Serpentinit.
»Dieser Stein verrät uns, dass an den Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen tatsächlich Serpentinisierung stattgefunden hat«, stellt der Meeresgeologe fest, »aber sehen wir hier lediglich den Nachweis eines längst vergangenen Prozesses? Das ist es, was wir herausfinden müssen.«
Während Schubotz und Klein ihre Gesteinsproben schneiden und zu Pulver zermahlen und Sylva und Seewald Meerwasser verdampfen lassen, gehe ich hinaus auf das Peildeck, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Die Abenddämmerung hat eingesetzt, doch am Himmel leuchten bereits so viele Sterne, dass es gar nicht richtig dunkel wird.
Vor ein paar Stunden habe ich einen Artikel über eine wissenschaftliche Studie gelesen. Für diese hatten Forscher Mikroorganismen in den unterschiedlichsten und entfernt gelegensten Regionen der Erde gesammelt. Es stellte sich heraus, dass 19 dieser Mikroben genetisch vollkommen übereinstimmten, obwohl sie aus völlig verschiedenen Gebieten stammten. In manchen Fällen lagen die Lebensräume mehr als 16 000 Kilometer auseinander.
Trotzdem verstoffwechselten die Mikroben ihre Nahrung auf dieselbe Weise, sie pflanzten sich auf demselben Weg fort und waren genetisch identisch. Diese winzigen Organismen können nicht einfach aufstehen und von einem Ort zum anderen gehen, fliegen oder schwimmen. Wie waren jene völlig identischen Lebensformen nur in diese weit voneinander entfernten Regionen gelangt? Das ist ungefähr so, als ob man die Mitglieder der Kelly Family auf jedem Planeten unseres Sonnensystems und darüber hinaus antreffen könnte.
Während ich unter dem Himmelszelt mit seinen Sternen, Monden und Planeten stehe, drängt sich mir unwillkürlich eine Frage auf. Da wir alle unser Leben mit denselben Grundbausteinen beginnen, folgt dann womöglich sämtliches Leben ein- und derselben Bahn? Milliarden fremdartige Lebensräume über und unter mir bestehen aus den gleichen Steinen und dem gleichen Wasser. Es könnten sich in ihnen dieselben chemischen Reaktionen abgespielt haben, die den ersten Lebensfunken auf unserer Erde entzündeten und sich schließlich zu meinen Händen entwickelten, die gerade diese Worte niederkritzeln, und zu meinen Augen, die gerade diese Sterne anschauen.
Wie viele andere sind aus der gleichen Materie und denselben Reaktionen hervorgegangen und starren mit ihren Augen vielleicht genau in diesem Moment zu mir zurück?
Zugegebenermaßen ist dies ein seltsamer Gedanke. Er erinnert ein wenig an das schwülstige nächtliche Philosophiegerede aus Erstsemesterzeiten. Wahrscheinlich sind die drei Dosen billiges brasilianisches Bier, die ich während des Abendessens in mich hineingekippt habe, nicht ganz unschuldig. Dennoch kann ich diesen Gedanken auch Stunden später, als ich in meiner Koje liege und durch ein Bullauge den Himmel betrachte, der von Milliarden weit entfernter Sterne übersät ist, einfach nicht abschütteln.
Kreuzfahrt zum Meeresgrund
Heute ist der 13. Tag, an dem wir auf dem Mittelatlantik vor den Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen treiben. Es ist der Tag, den ich zugleich mit großer Spannung erwarte und unterbewusst fürchte, seit ich diesen Auftrag angenommen hatte.
Die starken Strömungen haben uns etwa eine Woche Zeitverlust gekostet. Daher mussten alle Tauchboote an Bord der Alucia bleiben. Doch heute begrüßt uns ein klarer Himmel, die Sonne scheint, und das Meer ist spiegelglatt. Mir knurrt der Magen und mein Hals ist wie ausgedörrt. Ich habe seit 14 Stunden keinen einzigen Schluck Wasser getrunken und werde auch bis zum späten Nachmittag wohl nichts Ess- oder Trinkbares mehr zu mir nehmen. Amon hat mir zu diesem radikalen Fasten geraten, das offenbar die sicherste Methode darstellt, um mein Wohlbefinden unter Wasser zu garantieren. »Das Letzte, was du dort tun möchtest, ist – na, du weißt schon«, bemerkt die Wissenschaftlerin mit einem viel sagenden Blick. »Es ist wichtig, dass du dich da unten gut fühlst.«
Mit »da unten« meint Amon die vielen hundert Meter unter der Wasseroberfläche, die ich in den kommenden Stunden an Bord der Nadir erkunden werde. Für jeden Abenteurer, Wissenschaftler oder vernünftigen Erdenbürger wäre ein solcher Ausflug sicherlich der absolute Traum. Ich dagegen kann nur daran denken, was wohl passiert, wenn ich plötzlich ein dringendes Bedürfnis verspüre oder klaustrophobische Angst bekomme oder einfach nur meine Beine, Arme oder meinen Rücken strecken möchte. Ich werde mit angezogenen Beinen in einer Art Kindersitz eingeklemmt sein, so dass sie meine Brust berühren. So lange, wie es dauert, »Der Pate, Teil I« anzuschauen – zweimal, einschließlich Abspann.
»Jetzt entspann' dich mal«, rät mir Colin Wollermann, der Deep Rover während unserer Tauchfahrt steuern wird. Der Amerikaner mit kurz geschnittenem Haar sitzt mir gegenüber an einem Tisch in der Messe und schaufelt eine aus Schinken, Eiern und Butterbrot bestehende Mahlzeit in sich hinein, die er mit einem großen Schluck Kaffee hinunterspült. »Ich persönlich sorge immer dafür, dass ich möglichst viel Gas bildende Nahrung zu mir nehme«, erklärt er lachend und nimmt einen weiteren, kräftigen Bissen.
Alan Scott, Tauchbootführer der Nadir und Leiter des Unterwasserteams auf der Alucia, sitzt neben Wollermann und packt gerade Schokoriegel und Kartoffelchips in einen Rucksack – für den Fall, dass wir während des Tauchgangs hungrig werden sollten. »Alles ganz einfach, Mann«, versucht er mich mit seinem ausgeprägten schottischen Akzent zu beruhigen. »Es wird so schnell vorbeigehen, dass du gar nicht merkst, wie dir eigentlich geschieht.«
Seltsamerweise habe ich heute Morgen noch gar nicht über die Gefahren nachgedacht, die mit so einer Kreuzfahrt auf dem unerforschten Grund des Atlantiks verbunden sind. Ich fragte Klein einmal, ob ihm diese Art der Forschung je Angst bereitet habe. Aber er verneinte. »Das einzig Gefährliche daran ist, dass man nach anderthalb Jahren der Planung einer solchen Reise mit leeren Händen nach Hause kommen könnte«, sagte mir der Meeresgeologe schmunzelnd. »Der Rest, also Tauchboot fahren und mit dem Schiff hier draußen herumschippern, ist der spaßige Teil der Arbeit.«
Amon war etwas angespannter. Erst vor ein paar Tagen hatte sie mir die Geschichte von der Johnson Sea Link erzählt. Das viersitzige Tauchgefährt war im Sommer des Jahres 1973, nur wenige Monate nach seinem ersten Einsatz, mit zwei Piloten, einem Ichthyologen und einem ausgebildeten Taucher an Bord zu einem Routinetauchgang etwa 24 Kilometer vor der Küste von Key West in Florida gestartet. Die Männer wollten eine Fischreuse einholen, die an einem gesunkenen Zerstörer in 100 Meter Wassertiefe ausgelegt worden war. Bei ihrem Aufstieg verfing sich die Sea Link jedoch in einem von dem Wrack ausgehenden Kabel. Die Insassen des Tauchbootes lehnten sich zurück, entspannten sich, so gut es eben ging, und warteten auf Hilfe.
Laut Schätzungen der Tauchbootführer würden sie mit Hilfe der an Bord befindlichen Notfallsauerstoffreserven etwa 42 Stunden ausharren können, bevor ihnen der Erstickungstod drohte. Stunden vergingen. Die Temperatur im Inneren des U-Boots sank auf fünf Grad Celsius, und schon bald litten die Passagiere an starker Unterkühlung. Schlimmer noch: Sie hatten ihre verbleibende Atemluft zu optimistisch berechnet, und die Kohlendioxidkonzentration im Tauchboot stieg gefährlich in die Höhe.
Acht Stunden nachdem die Piloten den ersten Hilferuf abgesetzt hatten, kam ein Versorgungsschiff der US-Marine. Doch diverse Versuche, das Unterseeboot zu befreien, blieben erfolglos. Allmählich verloren die Insassen das Bewusstsein.
Zu guter Letzt konnte die Sea Link 32 Stunden nach dem Start ihres Tauchgangs gerettet werden. Zwei Mitglieder des Unterwasserteams starben an einer Kohlendioxidvergiftung, die anderen beiden wurden umgehend behandelt und überlebten den Unfall.
Die Katastrophe der Johnson Sea Link ist ein extrem seltenes Ereignis und liegt inzwischen mehr als 40 Jahre zurück. Dennoch ist offensichtlich, dass das Tauchen in mehreren hundert Meter Wassertiefe in einer durchsichtigen Acrylglaskugel, die so groß wie eine Telefonzelle ist, gewisse Risiken mit sich bringt. Motoren können ausfallen, in der Elektronik kann es einen Kurzschluss geben, und man kann sich in verloren gegangenen Fischernetzen verheddern. Glücklicherweise sind die heutigen Tauchboote sicherer, und es ist daher denkbar unwahrscheinlich, dass es zu einem unerwünschten Vorfall unter Wasser kommt. Auf den vielen hundert Tauchfahrten, die Deep Rover und Nadir bisher absolvierten, hatten die Crewmitglieder noch nie mit irgendeinem Problem zu kämpfen.
»Sicherlich ist jede Art der Forschung mit bestimmten Risiken verbunden«, sagt Amon. »Doch in meinem Fall konnten die positiven Erfahrungen das bislang aufwiegen. Es ist einfach unglaublich, hier draußen zu sein und diese Art der Feldforschung zu betreiben.«
Eine halbe Stunde später stehe ich auf Socken am Fuß einer Stahltreppe, die durch eine Luke in das Tauchboot Nadir führt. Es ist zehn Uhr morgens. Scott sitzt im Inneren des Tauchboots und dirigiert mich hinein. »Okay, jetzt ganz langsam«, lautet die Anweisung des Piloten. Mit ein paar Drehungen des Oberkörpers und ein wenig uneleganter Beinarbeit gelingt es mir, mich auf den Beifahrersitz zu winden. Die Geologin Susan Humphris tut es mir nach. Sie wird während unseres Tauchgangs das Unterwassergelände und die dort lebenden Organismen inspizieren.
Nachdem Scott die Einstiegluke der Nadir fest verriegelt hat, gibt er der Deckbesatzung das Okay. Wir bewegen uns langsam über das Achterdeck in Richtung des offenen Wassers. Nach einem weiteren Daumen-hoch-Zeichen hebt uns ein Kran in die Luft. Wir schwingen wie das Pendel einer Standuhr mehrere Meter über der Alucia hin und her. Ich spähe zwischen meinen Füßen hindurch und sehe, wie sich Forscher und Besatzungsmitglieder auf dem Schiffsdeck tummeln. Zwischen ihnen rollt gerade Deep Rover mit Klein und Wollermann an Bord hinaus. Vor uns liegt nichts als ein blauer, grenzenloser Ozean.
Wir werden ins Wasser hinuntergelassen, landen spritzend auf der Wasseroberfläche, lösen das Führungsseil und entfernen uns treibend vom Schiff. »Okay, alles klar«, spricht Scott in das Sonarfunkgerät. Vom Gurgeln zahlreicher Luftblasen begleitet sinken wir in die Tiefe, bis wir um uns herum nur noch Wasser in den unterschiedlichsten Blautönen wahrnehmen – ein überwältigendes Erlebnis.
Wir beobachten, wie das Spektrum des Sonnenlichts allmählich von den Wassermolekülen absorbiert wird. Langwelliges Licht im roten, orangenen und gelben Spektralbereich wird als Erstes vom Wasser verschluckt, so dass diese Farben schon in der Nähe der Meeresoberfläche verschwinden. In über 15 Meter Wassertiefe bemerke ich, dass meine beigefarbene Hose, mein Shirt, meine Haut und mein Notizblock ihre Farben verloren haben. Sie alle erscheinen wie ausgeblichen in demselben blaugrauen, metallischen Farbton.
Und wir sinken weiter, immer tiefer, bis es kein Blau, Grau oder Violett mehr gibt, sondern nur noch tiefschwarze Dunkelheit. Scott schaltet die Scheinwerfer der Nadir ein. Wir haben 500 Meter erreicht, eine Wassertiefe, in der keine Fotosynthese mehr möglich ist. Die uns umgebende Unterwasserwelt besteht nahezu ausschließlich aus Tieren und Gesteinen.
»Positiv, Deep Rover, ich sehe dich«, sagt Scott. In einiger Entfernung tauchen aus der Schwärze zwei stecknadelkopfgroße Lichter auf, die zu dem kleineren Tauchboot gehören. Obwohl uns nur etwa 100 Meter trennen, dauert es ganze vier Sekunden, bis Wollermann und Klein unseren Funkspruch empfangen. Da sich Radiowellen im Wasser nicht übertragen lassen, müssen die beiden Tauchboote mit Hilfe eines Sonarsystems über Schallwellen kommunizieren. Jede unserer Schallbotschaften wandert zunächst hinauf zur Alucia, um von dort aus wieder zurück in die Tiefe zu Deep Rover gesendet zu werden.
Etwa zehn Sekunden später hören wir in den Lautsprechern der Nadir ein echoartiges verrauschtes Krächzen. Es erfordere ein geübtes Ohr, um Sonarübertragungen zu verstehen, erklärt mir Scott. Man könne es etwa mit den Bemühungen von Zahnärzten vergleichen, die versuchen, die Laute zu übersetzen, die ihre Patienten mit offenem Mund während einer Behandlung artikulieren.
Nach einem kurzen Wortwechsel zwischen den Piloten wenden wir unser Tauchfahrzeug, so dass wir Deep Rover frontal gegenüberstehen. Dieser Vorgang hätte über Wasser und auf festem Boden vielleicht ein paar Sekunden in Anspruch genommen. In den Tiefen des Ozeans dauert das Manöver mehrere Minuten. Das liegt am Wasserwiderstand und der begrenzten Leistung der Tauchboote, die mit einer maximalen Geschwindigkeit von vier Knoten (etwas mehr als sieben Kilometer pro Stunde) über den Meeresboden kriechen.
Es ist traumartig und geradezu meditativ, sich so langsam und sirupartig zu bewegen, während die Luftfeuchtigkeit im Druckkörper des Tauchfahrzeugs steigt. Nach einer Weile fühlt es sich an, als ob auch unsere Körper sich verlangsamen würden – Sekunden werden zu Minuten, Minuten werden zu Stunden.
Karbonat – ein Lebenszeichen?
»Karbonat, sehr interessant«, stellt Humphris fest. Seit unserer Ankunft am Meeresboden hat die Wissenschaftlerin präzise jede unserer Bewegungen aufgezeichnet. Karbonatgestein, so Humphris, weise daraufhin, dass es in diesem Gebiet einmal hydrothermale Aktivität gegeben habe oder vielleicht sogar noch gebe. »Auf alle Fälle viel versprechend«, meint sie und notiert ein weiteres Kürzel auf ihrem Datenblatt.
In der Zwischenzeit hat Klein unmittelbar vor uns einen mechanischen Arm von Deep Rover ausgefahren. Er versucht, etwas vom Ozeanboden aufzunehmen, das wie Karbonatgestein aussieht. Es ist nicht einfach, einen solchen Greifarm zu bedienen. Daher geht die Arbeit nur langsam voran.
Scott nutzt die Gelegenheit und verteilt Lunchpakete. Wir futtern Kartoffelchips und jubeln, als es Klein gelingt, ein Gesteinsstück in den Probenbehälter zu bugsieren. Wenn eine Probe den mechanischen Fingern entschlüpft und von der tiefschwarzen Finsternis verschlungen wird, buhen wir.
So geht es ein oder zwei Stunden lang. Mir fällt auf, wie bizarr die Jagd nach dem Leben in der Tiefsee mittlerweile geworden ist. Hier sitzen wir überaus komfortabel in einer ausgehöhlten Plastikmurmel 500 Meter unter der Oberfläche des Atlantischen Ozeans und knabbern Flamin' Hot Cheetos und KitKat, Sorte Zartbitter. Dabei schauen wir zu, wie die kleinen Stahlfinger eines Roboterarms Löcher in die Millionen Jahre alten sterblichen Überreste mikroskopisch kleiner Organismen bohren. Wenn wir unseren Vorfahren vor 100 Jahren erzählt hätten, dass wir uns eines Tages mit solchen Tätigkeiten beschäftigen würden, hätte uns mit Sicherheit niemand geglaubt. Obwohl ich hier sitze und alles mit meinen eigenen Augen sehe, bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich es selbst glauben kann.
Scott nimmt sich eine weitere Hand voll Cheetos, ergreift den Steuerknüppel und lehnt sich zurück. Die Sauerstoffanzeige des Tauchfahrzeugs steht bei rund 20 Prozent. Selbst wenn die Reserven noch für einige Stunden reichen, ist es immer am besten, auf Nummer sicher zu gehen.
»Okay, Schluss für heute«, spricht unser Pilot in das Sonarfunkgerät. »Wir gehen rauf.« Er betätigt einen Schalter, die Elektromotoren summen, und wir beginnen unseren Aufstieg. Tiefe Schwärze verfärbt sich in dunkles Violett, verwandelt sich in Neonblau und schließlich, an der Oberfläche, in blendendes, strahlend gelbes Sonnenlicht.
»Ganz einfach, hm?«, bemerkt Scott und blinzelt in die helle Sonne. Ich schaue auf mein Smartphone. Fünf Stunden sind seit Beginn unseres Tauchgangs verstrichen. Ich nicke Scott zu: »Ganz einfach.« Schade ist nur, dass es tatsächlich so schnell vorbeiging.
Mobiles Labor
Am Abend arbeitet Schubotz in ihrem provisorisch eingerichteten Labor, eingezwängt zwischen Kisten mit Sprudelwasser, Gewürzen und brasilianischem Bier. Auf einem von schwarzem Staub bedeckten Schneidebrett sortiert sie verschiedene Probenröhrchen. In den vergangenen Tagen hat Schubotz die Gesteinsproben vom Meeresgrund mit Wasserstoff, Kohlendioxid und Methan inkubiert, in der Hoffnung, irgendeine Reaktion in Gang zu setzen. Einen anderen Probensatz hat sie mit schweren Kohlenstoffisotopen »gefüttert«. Sollten auf den Steinen der Tiefsee tatsächlich Mikroorganismen leben, ist zu erwarten, dass sie die angebotenen Kohlenstoffisotope aufnehmen und dann nachweislich schwerer werden.
Im menschlichen Körper dauert es oft nur wenige Tage, bis sich Zellen entweder teilen und vermehren oder durch neue Zellen ersetzt werden, wie beispielsweise im Dünndarmgewebe. Manche Tiefseemikroben benötigen dagegen Wochen, Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte für eine einzige Zellteilung. »Es ist eine Menge Detektivarbeit nötig, die das Ganze aber auch so faszinierend macht«, sagt Schubotz. »Man hat einfach mit völlig verrückten zeitlichen Dimensionen zu tun.«
Schubotz und die anderen Wissenschaftler an Bord sind sich sicher, dass an den Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen einst aktive Hydrothermalquellen zu finden waren. Sie vermuten allerdings, dass die heutige hydrothermale Aktivität – wenn es sie denn wirklich gibt – bei geringeren Temperaturen stattfindet. Sie glauben, dass die Reaktionen weitaus schwächer und langsamer verlaufen als in anderen unterseeischen Schlotsystemen.
In den nächsten Monaten will Schubotz die Proben in ihrem Labor in Bremen weiter untersuchen. Sie hofft, nachweisen zu können, dass die Mikroorganismen den schweren Kohlenstoff aufgenommen haben. Das würde beweisen, dass die Mikroben aktiv sind und es tatsächlich hydrothermales Leben auf den Tiefseefelsen gibt. »Wir brauchen einfach nur ein wenig Zeit und Geduld«, sagt die Forscherin mit einem verschmitzten Lächeln.
Schlafbaracken und Vogeldreck
Am letzten Tag unseres Aufenthalts betreten wir die Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen. Endlich können wir unsere Füße auf festen Boden setzen, auch wenn dieser knapp bemessen ist und es nicht besonders viel zu sehen gibt. Auf den felsigen Inseln wächst so gut wie nichts. Es gibt keinen Sand und nicht ein schattiges Plätzchen. Die einzigen Menschen, die hier leben, sind Angehörige der brasilianischen Marine: Männer mit entblößten Oberkörpern, die alle 14 Tage von ihren Kameraden abgelöst werden. Während wir in einem kleinen Beiboot auf die Felsen zusteuern, winken uns die Marinesoldaten zur Anlegestelle. Wir vertäuen unser Boot, klettern auf einer rostigen Leiter die steile Felswand hinauf und versammeln uns auf einem leicht erhöhten Holzbohlenweg.
Im Jahr 1832 besuchte Charles Darwin auf seiner fünfjährigen Weltumseglung mit der HMS Beagle diese kleinen Inseln. Bei seiner Ankunft wurde er sogleich von Pelikanen und Möwen umringt, die so »freundlich und dumm« waren, dass sie sich trotz seiner Anwesenheit vollkommen ruhig verhielten – wohl, weil sie bis dahin noch nie einen Menschen zu Gesicht bekommen hatten, wie der Forscher in seinen Reiseaufzeichnungen vermerkte.
Diese Zeiten sind heute leider vorbei. Ein paar hundert Weißbauchtölpel (Sula leucogaster), die mittlerweile auf der Inselgruppe zu Hause sind, stürzen sich auf unsere Fußknöchel, Schienbeine und Knie, als wir zu der Unterkunft der brasilianischen Marine hasten. Es ist eine aus Sperrholz gezimmerte Schlafbaracke. Wir schaffen es, den aufdringlichen Vögeln zu entkommen, und betreten die Veranda. Nachdem wir einige »bom dias« zur Begrüßung gewechselt haben, setzen wir uns und trinken einen Schluck Wasser. Unsere Besichtigungstour der Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen nähert sich dem Ende.
Während der Rest der Gruppe schwimmen geht, erkunde ich auf eigene Faust die unbefestigten Felsspalten abseits des Bohlenwegs. Ich entdecke eine kleine, abgeschiedene Bucht, die mit aufschäumender Gischt bedeckt ist. Von diesem Aussichtspunkt sieht man keinerlei Zeichen menschlicher Anwesenheit – nicht die Satellitenschüsseln voller Vogeldreck, die kaputten Außentoiletten, Schlafbaracken und Plastikflaschen. Ich blicke nur auf kahles Mantelgestein, umgeben von den unendlichen Weiten des blauen Ozeans.
So sahen diese Felsen aus, als sie vor langer Zeit aus der Tiefe des Meeresbodens an die Oberfläche geschoben wurden, als sie krachend zerbarsten und sich mit dem Meerwasser verbanden, um die ersten primitiven Lebensformen hervorzubringen.
Und jetzt sind wir Milliarden Jahre später wieder an diesem Ort vereint: Menschen und Mikroben, die Nachkommen dieses Gesteins und Wassers. Wir starren einander an, während wir noch immer versuchen, das Rätsel unseres Stammbaums zu lösen und nach unserem gemeinsamen Ursprung suchen.
Der Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel »Life on the rocks« bei »bioGraphic«, einem digitalen Magazin, das von der California Academy of Sciences publiziert wird.
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