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Nitrat & Co: Jenseits der Landwirtschaft

Passend zur Diskussion um Nitrat im Grundwasser spricht sich eine neue Studie dafür aus, einen umfassenderen Blick auf Stickstoffverluste bei der Nahrungsproduktion zu werfen.
Bewässerungssystem auf einem Weizenfeld

Im Grundwasser ist zu viel Nitrat, und alle zeigen auf die Bauern. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das Nitrat, das aus dem Stickstoffdünger auf den Feldern ins Grundwasser gelangt, ist auch das Resultat einer landwirtschaftlich-industriellen Revolution, der die Industriestaaten ihre immer vollen Supermarktregale verdanken – die aber nebenher ein Problem von buchstäblich erdgeschichtlicher Dimension geschaffen hat. Deswegen sei es nicht ausreichend, lediglich die Landwirtschaft zu regulieren, argumentiert nun eine Arbeitsgruppe um den Umweltwissenschaftler David R. Kanter von der New York University: Um den Überschuss an Stickstoff in der Umwelt unter Kontrolle zu kriegen, müsse man die gesamte Lebensmittelproduktion unter die Lupe nehmen, schreiben er und sein Team in »Nature Food«. Das beginne bei der Düngerproduktion und der Lebensmittelindustrie, aber auch Verbraucherinnen und Verbraucher seien Teil des Problems. Denn niemand kann ohne Stickstoff.

Alle Organismen brauchen Stickstoff für ihre biochemischen Bausteine, doch in vielen Ökosystemen ist das Element ein knappes Gut. Es macht als Gas zwar vier Fünftel der Atmosphäre aus, aber diese N2-Moleküle sind so stabil, dass nur sehr wenige Lebewesen sie aufbrechen und nutzen können, vor allem Bakterien. Durch dieses Nadelöhr sickert Stickstoff als für Tiere und Pflanzen nutzbares Ammonium, Nitrat und Nitrit in die Biosphäre, weiter in Ozeane, Gesteine und wieder als Stickoxide und schließlich wieder N2 in die Atmosphäre. Ähnlich wie der Kohlenstoffkreislauf verknüpft auch der Stickstoffkreislauf uns Lebewesen mit Atmosphäre, Ozean und Erdkruste.

Der andere geochemische Kreislauf

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch ist dieser planetare Zyklus aus dem Gleichgewicht – dank einer Technik, den Stickstoff aus der Luft in eine chemisch zugänglichere Form umzuwandeln, produziert die Menschheit heute immense Mengen davon als Dünger, Nahrung für die Pflanzen auf den Feldern und letztlich auch für Mensch und Tier. Doch von der chemischen Synthese bis zur Kläranlage gerechnet, nehmen Menschen lediglich acht Prozent des umgesetzten Stickstoffes mit der Nahrung auf. Der Rest geht, ohne seinen Zweck zu erfüllen, direkt in den Stickstoffkreislauf.

»Seit der industriellen Herstellung von Stickstoffdüngern haben wir den globalen Stickstoffkreislauf mehr als verdoppelt«, erklärt Klaus Butterbach-Bahl vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der unter anderem den Stickstoffumsatz in Ökosystemen erforscht. Den Kohlenstoffkreislauf, der im Zentrum der Klimakrise steht, habe die Menschheit dagegen nur um etwa fünf bis sieben Prozent verändert, führt er zum Vergleich an. »Uns werden aber andererseits die Auswirkungen dieser massiven menschlichen Änderung eines zentralen, globalen Stoffkreislaufes auf unsere Umwelt in der breiteren Bevölkerung und offensichtlich der Politik nur sehr langsam bewusst.«

Neben den hohen Nitratwerten im Grundwasser erzeugt der künstlich aufgeblähte Stickstoffzyklus eine Reihe zum Teil globaler Umweltprobleme. Darunter sind »umgekippte« Gewässer, giftige Algenblüten und die sauerstoffarmen »Todeszonen« vor den Küsten der Kontinente. Aber auch verarmte Ökosysteme gehen auf das Konto des Stickstoffüberschusses, ebenso wie ein Teil des Klimawandels. David Kanter, der die Zusammenhänge zwischen Stickstoff, Lebensmittelsicherheit und nachhaltiger Landwirtschaft erforscht, sieht hier »eines der größten Umweltprobleme für die Menschheit«.

Wasserprobe

Und vor allem eines, bei dem der Fokus auf die Regulierung der Landwirtschaft zu kurz greife, selbst wenn diese einen beträchtlichen Anteil am Problem hat. Zum einen nämlich seien auch andere Akteure dafür verantwortlich, dass Stickstoff in die Umwelt gelangt. Schon bei den chemischen Reaktionen, die aus dem Stickstoff der Luft Dünger machen, geht ein Teil des Elements verloren. Weitere Verluste gebe es in der Lebensmittelverarbeitung und im Handel, zum Beispiel dadurch, dass ein erheblicher Teil der hergestellten Lebensmittel im Müll lande – nicht nur in der Industrie, sondern auch in den Privathaushalten.

Höchste politische Sprengkraft

Zum anderen trage auch die Ernährung der Bevölkerung zum Problem bei: Die Landwirtschaft setzt etwa 40 Prozent des Stickstoffes im Dünger in pflanzliche Nahrung um – wenn diese nur als Tierfutter dient, landet ein wesentlich kleinerer Anteil schlussendlich beim Menschen. Viele dieser Stickstoffquellen seien bisher wegen des Fokus auf die Landwirtschaft kaum reguliert – aber im Prinzip viel einfacher einzudämmen als der Nährstoffeintrag von den Äckern, argumentieren Kanter und sein Team.

Klaus Butterbach-Bahl vom KIT sieht in der Untersuchung viel Unterstützenswertes. Die Stärke der Studie sei, dass sie die vielseitigen Möglichkeiten aufzeige, der Übernutzung von Stickstoff und Verlusten in die Umwelt Einhalt zu gebieten, sagt er. Allerdings sei die Politik in der Zwickmühle, denn die nötigen Veränderungen würden wohl nicht ohne Konflikte abgehen, so der Forscher. »Die Übernutzung von Stickstoffdünger für die Produktion von Nahrungsmitteln ist ein Thema von höchster politischer Sprengkraft.« Zumal sich Bauern zu Recht dagegen wehrten, die alleinige Verantwortung für die Misere zugeschoben zu bekommen.

Auch der Agrarwissenschaftler Peter Leinweber von der Universität Rostock sieht die gesamte Prozesskette beim Stickstoffproblem in der Pflicht. Zudem seien die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Akteuren in der Studie sogar nur unvollständig abgebildet – so würden Vorgaben der Industrie das Problem verschärfen: »Definierte Stickstoffgehalte etwa bestimmen den Preis, den Händler und Verarbeiter den Erzeugern für Backweizen bezahlen«. Dadurch müssten Bauern häufiger düngen, als sie es unter normalen Umständen tun würden. »Von diesem Stickstoff landet viel in der Umwelt«, erklärt der Forscher.

Wenig Spielraum für Bauern

Als mögliche Maßnahmen, die gesamte Verbrauchskette von Lebensmitteln in die Pflicht zu nehmen, nennt die Gruppe um Kanter in ihrer Studie schärfere Gesetze für die Chemische Industrie und die Lebensmittelverarbeitung, aber auch Anreize zum Kompostieren in Privathaushalten. Welche Maßnahmen am sinnvollsten seien, müsse nach geeigneten Kriterien festgelegt werden. Allerdings seien die Empfehlungen in der Studie zu vage und auch zu stark auf nordamerikanische Verhältnisse ausgerichtet, bemängeln Fachleute. Nicht zuletzt könne der Eindruck entstehen, das Stickstoffproblem lasse sich auch ohne die Bauern lösen.

Das aber ist nicht der Fall. Der größte Anteil des Stickstoffeintrags geht von der Landwirtschaft aus, und auch Kanter listet dort die meisten Ansatzpunkte für Reduktionen – doch Landwirte sind dabei Teil eines Systems, das ihnen nur begrenzten Spielraum lässt und das deswegen aus Sicht der US-Arbeitsgruppe stärker betrachtet werden muss. Deswegen gebe es jenseits des Fokus auf die Landwirtschaft einen viel größeren Spielraum für politische Maßnahmen gegen Stickstoff in der Umwelt als bisher angenommen – insbesondere strengere Gesetze.

Doch der breiteren Bevölkerung und auch der Politik werde das Ausmaß des Problems nur sehr langsam bewusst, sagt Klaus Butterbach-Bahl. Der Wissenschaftler fürchtet außerdem, dass die Akteure versuchen werden, die Verantwortung auf andere Beteiligte abzuwälzen. Der Kern des Problems sei allerdings, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht bereit seien, umweltfreundlich produzierte Lebensmittel angemessen zu bezahlen. »Solange der Preis von Nahrungsmitteln nicht den Preis für deren umweltgerechte, nachhaltige Herstellung widerspiegelt, und hier geht es in hohem Maße um Stickstoffnutzung und Stickstoffverluste, wird sich wenig ändern.«

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